12.01.2018 Ist die aktuelle „Energiewende“ tatsächliche eine Energiewende hin zu erneuerbaren Energien oder geht es um das alte Projekt einer europaweiten Großkraftwerksplanung? Geht es in Wirklichkeit darum, Atom- und insbesondere Kohlestrom nicht mehr in Deutschland zu produzieren, sondern im benachbarten Ausland und den Strom nach Deutschland zu importieren? Eine Debatte über die Kapazitätsreserven der Energiewende ist überfällig.
Halbe Energiewende?
Der Solarpionier Wolf von Fabeck wies im November 2017 darauf hin, dass ein alleiniger „massiver Ausbau von Solar- und Windstromanlagen“ nicht genügt, um eine gesicherte Stromversorgung aufzubauen. Zwar könnten die erneuerbaren Energien zweifellos summarisch die gesamte Stromversorgung Deutschlands stemmen. Der Maschinenbauer weist aber darauf hin, dass die Schwankungen der Stromerzeugung aus Sonne und Wind kein vernachlässigbares Problem darstellen:
„Ausgesprochen hohen Leistungsspitzen bei sonnig / windigem Wetter stehen viele Tage mit zu geringem Wind- und Sonnenstrom gegenüber. In den Nächten liefert die Sonne gar keinen Beitrag“, schreibt von Fabeck. Es heiße oft, dass immer irgendwo in Deutschland genügend Wind wehen würde, um damit unser hochindustrialisiertes Land zuverlässig mit Windstrom versorgen zu können. „Doch das ist ein Irrtum: Im Jahr 2016 z.B. gab es sogar 52 Nächte, in denen in ganz Deutschland nahezu überhaupt kein Wind wehte.“ Auch Importe von Sonnen- und Windstrom aus dem europäischen Ausland sind in der benötigten Menge nicht möglich.[1]
Von Fabeck hebt hervor, dass eine gesicherte Sonnen- und Windstromerzeugung nur in Kombination mit konventionellen Kraftwerken oder mit Langzeit-Stromspeichern realisierbar ist. Ebenso weisen auch EUROSOLAR, die IPPNW und viele andere seit langem darauf hin, dass eine dezentrale solare Energiewende ohne Langzeitspeicher nicht möglich ist. Entsprechendes gilt für den Wärme- und für den Verkehrssektor.[2]
Versorgungssicherheit
Die Energiewende ist seit rund 40 Jahren das Projekt eines geordneten Übergangs der Energieversorgung, basierend auf seriös durchgerechneten, realitätstauglichen Szenarien.
Der Atomausstieg wurde nicht einfach nur propagiert, vielmehr wurde in regelmäßigen Abständen wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Versorgungssicherheit mit der Stilllegung aller Atomkraftwerke zu keinem Zeitpunkt gefährdet ist. Angesichts der großen Überkapazitäten im bestehenden Kraftwerkspark war und ist immer sichergestellt, dass der Atomausstieg ohne Probleme möglich ist.[3]
Niemals war die Energiewende das Projekt einer fahrlässigen Zerschlagung der Stromversorgung und der Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die „dezentrale Energiewende“ bzw. die „Energiewende in Bürgerhand“ ist darüber hinaus aber auch kein Projekt, die Stromerzeugung in Deutschland durch Stromimporte zu substituieren. Ganz im Gegenteil geht es auch darum, die Wertschöpfung in den Kommunen zugunsten der Allgemeinheit zu erhöhen.
Gesamteuropäische Kraftwerksplanung
Doch es gibt ganz andere Interessen: Schon seit den 1950er Jahren wird in Banken und Industriekreisen eine „gesamteuropäische Kraftwerksplanung“ propagiert. Seit den 1980er Jahren geht es hierbei u.a. auch darum, Kohlekraftwerke nicht länger in Deutschland, sondern im benachbarten Ausland zu betreiben und den Kohlestrom nach Deutschland zu importieren.
Anfang der 1990er Jahre gab es zudem einen Deal für (begrenzte) Atomstromimporte aus Frankreich zugunsten der stromintensiven deutschen Industrie.
In der jüngeren Vergangenheit arbeitet die EU ganz in diesem Sinne beständig daran, die Lücken im europäischen Stromverbundnetz zu schließen und den grenzüberschreitenden Stromaustausch zu intensivieren.
Betrachtet man die reale Entwicklung der Energiewende in Deutschland, so ist festzustellen: Im Bereich der Stromerzeugung mit Solar- und Windenergie wurden große Kapazitäten zugebaut, aber ein Ausbau von Langzeit-Stromspeichern erfolgt praktisch gar nicht. Das hat weitreichende Konsequenzen.
Strombedarf und Stromerzeugung
Der derzeitige Strombedarf Deutschlands schwankt im Winterhalbjahr zwischen knapp 60 und gut 80 Gigawatt (GW). Das bedeutet, dass jederzeit eine Leistung von mehr als 80 GW gesichert zur Verfügung stehen muss. In Zukunft könnte sich der Strombedarf wegen der Elektromobilität weiter erhöhen.
Wasserkraftwerke liefern derzeit konstant gut 2 GW, die Biomasse gut 5,5 GW.[4]
Rund 50 bis 75 GW werden im Mix durch Windenergieanlagen, Kohlekraftwerke, Atomkraftwerke und Solaranlagen bereitgestellt. In günstigen Phasen liefern Sonne und Wind etwa die Hälfte dieses Bedarfs. Zu ungünstigen Zeiten sind die Beiträge relativ gering. Am 20. Dezember 2017 beispielsweise produzierten die Solaranlagen keinen Strom, die Windenergieanlagen speisten nur 1,3 GW ins Netz ein. Der Gesamtbeitrag der erneuerbaren Energien aus Biomasse, Wasser, Sonne und Wind lag demnach bei rund 9 GW. Schätzungsweise 55 GW lieferten konventionelle Kraftwerke und Atomkraftwerke.[5]
Sind Stromimporte das eigentliche Ziel?
Auf der anderen Seite werden in Deutschland immer mehr konventionelle Kraftwerke stillgelegt. Seitens der Kraftwerksbetreiber sind bei der Bundesnetzagentur aktuell Kraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 14 GW zur Stilllegung angezeigt, wovon 8,6 GW bereits durch erfolgte Stilllegungen entfallen sind. Unter den noch nicht abgeschalteten Kraftwerksanlagen sind – wie die Bundesnetzagentur betont – „systemrelevante Kraftwerke“ mit einer Gesamtleistung von 3,9 GW, „die aus Gründen der Versorgungssicherheit derzeit nicht endgültig stillgelegt werden dürfen“. Die geplanten Stilllegungen können so um zwei Jahre verzögert werden.[6]
Es ist klar, dass die Stromversorgung Deutschlands unter diesen Bedingungen auf Dauer nur mit Hilfe von Stromimporten sichergestellt werden kann, sofern keine Langzeitspeicher zur Verfügung stehen.
Entsprechend verweist die Bundesnetzagentur auf den „wachsenden europäischen Stromhandel“ sowie auf „einen umfassenden Ausbau der deutschen Höchstspannungs- und Fernleitungsnetze, um die Sicherheit der Energieversorgung weiterhin zu gewährleisten und die beschlossene Energiewende umzusetzen“.[7]
Zugespitzt bedeutet das: Wenn offiziell von einer „Energiewende“ die Rede ist, dann ist damit offensichtlich gemeint, den Kraftwerkspark in Deutschland deutlich zu reduzieren und stattdessen (fluktuierend oder relativ gleichmäßig) Strom aus dem benachbarten Ausland zu importieren. Dabei wird es sich erwartungsgemäß auch um Atom-, insbesondere aber um Kohlestrom handeln.
Zumindest beim Kohleausstieg würde es sich also gar nicht um einen Kohleausstieg, sondern lediglich um die Verlagerung von Kraftwerksstandorten handeln. Aber auch der Atomausstieg wäre nicht wirklich ein Atomausstieg, da wohl auch längerfristig in gewisser Menge Atomstrom etwa aus Frankreich und Tschechien importiert werden würde.
Ehrliche Debatte überfällig
Vor diesem Hintergrund ist eine ehrliche Debatte darüber, wohin die Energiewende in Wirklichkeit steuert und welches realistische Optionen sind, überfällig.
Klar ist, dass der weitere Ausbau der Solar- und der Windenergie mit einem entsprechenden Zubau von Langzeitstromspeichern korrespondieren müsste. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Batteriespeicher keine Langzeitspeicher sind. Es geht also eher um Technologien wie Biogas, Druckluftspeicher und „Power-to-gas“, die seitens der Hersteller zu vertretbaren Konditionen angeboten werden müssten.
Um die Performance der Solarenergie im Winterhalbjahr zu verbessern, wären ferner die Solartechnik-Hersteller gefordert, das Schwachlichtverhalten von Solaranlagen deutlich zu optimieren und die Volllaststundenzahl der Module zu erhöhen. Hier mag es sinnvoll sein, darüber nachzudenken, die Anbieter von Solarsystemen von den Herstellern konventioneller Kraftwerke zu entflechten, um den Systemwettbewerb zu verstärken.
Ferner wäre zu prüfen, in welchem Maße der Stromimport aus Wasserkraft und Biomasse realistisch möglich, unter Umweltgesichtspunkten vernünftig und volkswirtschaftlich wünschenswert ist. Klar ist aber, dass diese Potenziale großteils in den Nachbarstaaten selbst benötigt werden, für Deutschland also nur in begrenzter Menge zur Verfügung stehen.
Willenbachers „Masterplan“
Es erstaunt, dass der von dem Unternehmer Matthias Willenbacher 2013 vorgeschlagene „Masterplan“ für eine dezentrale Energiewende mit Langzeitspeichern nicht intensiv diskutiert wurde.
Sensationell war sein Vorstoß allein deswegen, weil der damalige Windenergieprojektierer vorschlug, die Anzahl der Windenergieanlagen in Deutschland nicht zu erhöhen, sondern bei rund 25.000 zu belassen. Allerdings müssten neuartige Windenergieanlagen so ausgelegt werden, dass sie 4000 statt 2000 Volllaststunden pro Jahr erreichen. Auch Solaranlagen müssten die Zahl ihrer Volllaststunden deutlich erhöhen.
Willenbacher setzt zudem auf einen Energieträger, der als potenzieller Langzeitspeicher schon jetzt in großer Menge produziert wird: Biogas, gespeichert in schon vorhandenen unterirdischen Gas-Kavernen. Der Vorschlag: Die verfügbare Bioenergie soll nicht wie heute kontinuierlich Strom produzieren. In Blockheizkraftwerken soll vielmehr nur dann Strom (und Wärme) erzeugt werden, wenn nicht genügend Wind- und Solarstrom zur Verfügung steht („Dunkelflaute“). Bioenergie soll außerdem gegenüber heute nicht ausgeweitet, sondern nur intelligenter genutzt werden. Es käme mit diesem Konzept also nicht zu einem weiteren Flächenverbrauch.
Ergänzend (oder konkurrierend) zur Bioenergie könnten die Blockheizkraftwerke mit speicherbarem "Windgas" (aus Elektrolyse gewonnener Wasserstoff/“Power-to-gas“) betrieben werden. Durch einen Verzicht auf neue teure Stromverbundtrassen könnten die benötigten Blockheizkraftwerke laut Willenbacher problemlos finanziert werden.[8]
Sollten Bioenergie und Windgas nicht ausreichen, dann könnten Blockheizkraftwerke auch mit Erdgas betrieben werden.
Schlussfolgerungen
Unterm Strich stehen sich drei Entwicklungsszenarien gegenüber:
1. Langzeit-Stromspeicher (mit Blockheizkraftwerken)
2. Beibehaltung konventioneller Kraftwerkskapazitäten (als Kapazitätsreserve für erneuerbare Energien)
3. Stromimporte (vornehmlich konventionell)
Wenn - wie es derzeit die Realität ist - keine Langzeitspeicher gebaut und konventionelle Kraftwerke stillgelegt werden, dann kann die Versorgungssicherheit in Deutschland nur über Stromimporte sichergestellt werden.
Es ist eine ehrliche Debatte notwendig, ob manche mit „Energiewende“ meinen, dass in Deutschland die Stromerzeugung zurückgefahren und Kohle- und Atomstrom durch die Hintertür, also über das Ausland wieder eingeführt wird.
Es gilt, diesen Etikettenschwindel schonungslos offenzulegen.
Von Henrik Paulitz
Quellen
[1] Wolf von Fabeck: Notwendigkeit von Langzeitspeichern. 04.11.2017. Solarbrief 3/17.
[2] Vgl. die seit vielen Jahren von EUROSOLAR durchgeführten Konferenzen zur Speicherung Erneuerbarer Energien; diverse Faltblatt-Kampagnen u.a. der IPPNW („Glaubst du das wirklich?“ etc.); zum Wärmemarkt: Henrik Paulitz „Solare Netze“, 1997.
[3] Zu den Anfängen vgl. u.a. Bundestags-Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“; Öko-Institut „Energiewende - Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“, 1980, sowie zu den energiewirtschaftlichen Fragen: „Die Energiewende ist möglich“, 1985; zahlreiche weitere Studien zur Machbarkeit des Atomausstiegs.
[4] Agora Energiewende: Agorameter
[5] Wind Journal: Aktuelle Einspeiseleistung von Windenergie und Solarenergie in Deutschland
[6] Bundesnetzagentur: Liste der Kraftwerksstilllegungsanzeigen. Stand: 1. November 2017
[7] Bundesnetzagentur: Erzeugungskapazitäten. Stand: 30.11.2017
[8] Matthias Willenbacher: Mein unmoralisches Angebot an die Kanzlerin. Denn die Energiewende darf nicht scheitern. Herder. 2013.
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