Artikel aus IPPNW-Forum 104/07

Für viele IPPNWler ein Freund seit vielen Jahren

Osman Murat Ülke erhält die Clara-Immerwahr-Auszeichnung

Die Clara-Immerwahr-Auszeichnung der IPPNW erhielt in diesem Jahr Osman Murat Ülke, der in der Türkei konsequent für sein Recht auf Kriegsdienstverweigerung eintritt und dafür seit Jahren extreme persönliche Nachteile in Kauf nimmt. Am 3. März 2007 wurde die Auszeichnung im Rahmen einer Feierstunde im Georges-Casalis-Saal der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin an Ülkes Stellvertreter Coskun Üsterci überreicht. Für Ülke ist es seit Jahren unmöglich, die Türkei zu verlassen.

„Wir haben seine Entwicklung vom langhaarigen Kommunarden zum angegrauten Familienvater mit erlebt und waren sehr froh, dass wir ihm zusammen mit vielen Freunden helfen konnten, seine kleine Familie ein wenig abzusichern“, sagte Gisela Penteker, die Türkei-Beauftragte der IPPNW, vor etwa 100 Gästen. Sie kennt Ossi, wie seine Freunde ihn nennen, schon seit vielen Jahren. Im Publikum saßen viele Menschen, die Ossi jahrelang auf seinem Weg begleitet hatten. Alle Vereine, die sich in Deutschland und in der Welt für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einsetzen, waren dabei: Connection e.V., Dfg-VK, Zentralstelle für Kriegsdienstverweigerer, Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerer und das Umbruch-Bildungswerk. Dementsprechend groß war der Applaus als der Freund und Weggefährte von Ossi Coskun Üsterci die Auszeichnung entgegen nahm. Üsterci dankte für die internationale Solidarität, ohne die Ossis Arbeit für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht möglich gewesen wäre.

Nach mehrjähriger Vorbereitung hatte Ülke 1995 öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung erklärt und seinen Wehrpass verbrannt. Weil es in der Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, wurde Ülke mehrmals auf Grund von Befehlsverweigerung bzw. Fahnenflucht inhaftiert. Nach seiner Entlassung erhielt Ülke stets die Aufforderung, sich zum Wehrdienst zu melden. Er ließ die Termine verstreichen und nutzte die Verhandlungen vor dem Militärgericht ebenso wie seine Verurteilungen, um die Öffentlichkeit auf den Umgang der türkischen Regierung mit Kriegsdienstverweigerern aufmerksam zu machen. Insgesamt war Ülke 701 Tage inhaftiert.
2006 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die türkische Regierung wegen unverhältnismäßiger Strafverfolgung im Fall Ülke verurteilt. Bisher ohne Folgen: Ülke gilt noch heute als Deserteur und könnte jederzeit verhaftet werden. Der 36jährige Familienvater kann keinen Pass beantragen, kein Konto eröffnen und keine Arbeit annehmen, solange er den Kriegsdienst verweigert.

Bis heute hat sich an Ülkes Situation nichts geändert. Trotz anfänglicher Zusagen hat sich die türkische Regierung bisher nicht der Frage der Kriegsdienstverweigerer angenommen. Die Clara-Immerwahr-Auszeichnung hat Ossis Geschichte und sein Wirken in die Medien gebracht: ZDF/3sat, Süddeutsche, Radio Berlin-Brandenburg und viele Publikationen der „Szene“ haben über Ossi berichtet und es bleibt zu hoffen, dass dies den Druck auf die türkische Regierung erhöht.

Durch die Veranstaltung führte Angelika Claußen in Deutsch und in fließendem Türkisch. Die Laudatio sprach Professor Andreas Buro. Er betonte, dass es heute wichtig sei, in möglichst vielen Ländern das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen. Dabei sei internationale Unterstützung eine wichtige Hilfe. Wenn es innerhalb der Türkei in gemeinsamen Anstrengungen gelänge, so Buro, das Denken der Menschen zunehmend in die Richtung der von Kriegsdienstverweigerern gedachten Alternative der Zivilen Konfliktbearbeitung zu erweitern, gäbe es Hoffnung, dass es der Gesellschaft möglich sein wird, den türkisch-kurdischen Konflikt friedlich zu lösen. „Danke Osman, dass Du einen so wichtigen Anstoß gegeben hast. Danke auch denjenigen, die Dir folgen und der Gruppe, die in dieser schwierigen Zeit Rückhalt gegeben hat“, sagte Buro zum Schluss seiner Laudatio.
Nach der Feierstunde gab es Gelegenheit bei Wein und Brezeln zum Gespräch untereinander. Auch über das Leben der Clara Immerwahr wurde dabei gesprochen: Interessierte hatten die Gelegenheit, die Biographie von Clara Immerwahr zu kaufen und von der Biographin Gerit von Leitner persönlich signieren zu lassen. Der einzige Wermutstropfen: Es war wenig Nachwuchs, waren wenig junge Gesichter zu sehen. Die Szene, die in vielen kleinen Gesprächsgruppen die Gelegenheit zum Austausch rege nutzte, ist in die Jahre gekommen und wird sich um Nachwuchs bemühen müssen.

Wie Gisela Penteker eingangs sagte, ist auch Ossi mittlerweile Familienvater geworden. Daher war vor einem Jahr, als sich die IPPNW entschieden hatte, Ossi die Auszeichnung zu verleihen, fraglich, ob er sie auch annehmen würde. Im Wirken gegen den Militarismus in seinem Land muss Ossi bei allen Schritten seine Frau Aytül und seinen dreijährigen Sohn Sidar berücksichtigen. Natürlich fiel ihm die Entscheidung zur Annahme des Preises der IPPNW nicht leicht: Genauso wie Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit Ossi schützen können, könnte sie gerade in der Türkei auch zu harschen Reaktionen führen. Der Mord an Hrant Dink im Januar 2007 hat dies erschreckend deutlich gemacht. Doch diese Unsicherheiten sind ja kennzeichnend für die Funktionsweise staatlicher Repression. Jan Brauns vom Umbruch Bildungswerk dazu: „Nicht die Gewissheit, sondern die Möglichkeit der Repression, die jeder Zeit Realität werden könnte, ist es, die eine allgemeine Atmosphäre von Unsicherheit und Angst erzeugt, die politische Apathie und Friedhofsruhe entstehen lässt.“ Das Beispiel von Osman Murat Ülke zeigt, dass mit Mut, Durchhaltevermögen und Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten es möglich ist, diese Apathie aufzubrechen und gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang zu setzen.

Sven Hessmann

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