IPPNW-Appell zum Ukrainekrieg

Die Waffen nieder! Deeskalation jetzt!

Der Angriffskrieg von Wladimir Putin und die Invasion russischer Truppen stellen eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar. Wir begrüßen die Resolution der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022, die den russischen Einmarsch auf das Schärfste verurteilt und Putin zum Ende seiner Aggression aufgefordert hat.

Wir brauchen jetzt einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Es darf keinen Abbruch diplomatischer Beziehungen geben, die Gesprächskanäle müssen offen bleiben. Wir appellieren an die Bundesregierung, auf alle Maßnahmen zu verzichten, die eskalierend wirken können. Russland muss seine russischen Truppen vollständig aus der Ukraine zurückziehen. Im Gegenzug könnte Russland ein NATO-Aufnahmemoratorium für die Ukraine zugesagt werden sowie eine Konferenz über die künftige Sicherheitsarchitektur Europas.

Unsere Solidarität und unsere Herzen gelten den Menschen in der Ukraine, die von den
humanitären Folgen von Krieg und Flucht betroffen sind. Entsetzt verfolgen wir die Meldungen, wonach schon viele Zivilist*innen in der Ukraine durch direkte Angriffe getötet oder verletzt wurden. Wir befürchten zudem eine hohe Zahl von Todesfällen, die indirekt verursacht werden durch die Zerstörung der Infrastruktur: Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Wasser- und Stromversorgung, der Kommunikationsnetze und der Transportsysteme. Hinzu kommen Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Als Langzeitfolge des Krieges wird es in Europa erneut eine Generation mit posttraumatischen Belastungsstörungen geben, Menschen, die ihr Leben lang an ihren Kriegserlebnissen leiden. Wir treten dafür ein, dass die EU-Außengrenzen für alle Flüchtenden aus der Ukraine geöffnet werden, unabhängig von Hautfarbe, Staatsangehörigkeit und Identität und ohne rassistische Zurückweisung. Männer im wehrfähigen Alter, sei es aus Russland, Belarus und Ukraine, die den Kriegsdienst verweigern, müssen einen Aufenthaltsstatus zum vorübergehenden Schutz erhalten.

Der Angriff auf die Ukraine ist unentschuldbar. Und doch müssen wir überlegen, wie wir die Zukunft gestalten. Unsere Zukunft kann nicht in einer neuen Rüstungsspirale liegen. Wir lehnen das 100 Milliarden-Sofort-Aufrüstungsprogramm für die deutsche Bundeswehr ab und fordern stattdessen mehr Mittel für Krisenprävention, zivile Konfliktbearbeitung und eine sozial-ökologische Transformation. Eine massive Aufrüstung zieht Kraft, Ressourcen und Intellekt von den globalen Herausforderungen  wie der Klimakrise und globaler sozialer Gerechtigkeit ab. Laut dem Weltklimabericht werden die Folgen der Klimakrise schneller eintreten und zerstörerischer sein, als erwartet. Der Ukraine-Krieg wirft alle Klimaschutzbemühungen weit zurück. Jeder Krieg ist auch ein Verbrechen an der Umwelt.

Es steht viel auf dem Spiel: Wir sorgen uns um eine weitere atomare Eskalation. Putin hat mit einem Einsatz von Atomwaffen gedroht und bringt die Menschheit in die Nähe eines Atomkrieges. Sollte es zu einem Einsatz von Atomwaffen kommen, dann droht eine globale Katastrophe. Deshalb ist atomare Abschreckung kein Mittel der Kriegsverhütung. In einem Atomkrieg gibt es keine Gewinner. Bereits ein einziger Sprengkopf in einer Großstadt würde zu über 100.000 Toten, über einer Million Verletzten und weiträumiger Verstrahlung führen. Die gesundheitlichen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes sind katastrophal und medizinisch nicht beherrschbar – unter anderem durch die radioaktive Strahlung, die Zerstörung medizinischer Infrastruktur und dem Tod von Gesundheitspersonal. Die USA und Russland verfügen derzeit gemeinsam über mehr als 3.500 einsatzbereite Atomwaffen. In einem Atomkrieg zwischen Russland und der NATO mit dem Einsatz von vielen Atomwaffen wäre die ganze Welt betroffen; das Klima würde sich so stark verändern, dass eine Hungersnot für Milliarden von Menschen drohen würde.

Die NATO muss jetzt auf Reaktionen, die weiter eskalierend wirken, sowie Gegenmaßnahmen im nuklearen Bereich wie eine erhöhte Bereitschaft der Atomwaffen verzichten. Der Abgrund, an dem wir heute stehen, zeigt noch einmal sehr deutlich, wie dringend notwendig es ist, dass Deutschland den Atomwaffenverbotsvertrag endlich unterzeichnet und sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. Diese Atomwaffen bieten keinen Schutz, sondern sind potentielle Ziele.

Wir sehen auch eine weitere Gefahr: Von den vier ukrainischen Atomkraftwerken mit insgesamt 15 Reaktorblöcken geht eine große Bedrohung für das Leben und die Gesundheit aus. Bei einem Unfall wären die Menschen in ganz Europa betroffen. Gefährdet sind Atomkraftwerke schon dann, wenn wegen Kampfhandlungen nur das Stromnetz lahmgelegt wird oder durch Sabotage beschädigt wird. Wenn dann auch das Notstromaggregat nicht funktioniert, kann der Reaktor nicht mehr gekühlt werden — mit gravierenden Folgen. Selbst wenn der Reaktor nur beschädigt sein sollte und abgeschaltet würde, könnte er sich durch den Verlust von Kühlwasser so stark erhitzen, dass es zu Explosionen käme wie in Fukushima. Eine zusätzliche Bedrohung geht von den Abklingbecken aus, die mit abgebrannten Brennelementen gefüllt sind.

Die Möglichkeit für Frieden in Freiheit ist nicht verloren. Solidarisieren wir uns mit dem Widerstand in Russland selbst. Tausende russische Ärzt*innen und Gesundheitsfachkräfte haben einen Appell gegen den Krieg unterzeichnet und lehnen Putins Militärangriffe in der Ukraine entschieden ab. Jeder Krieg verletzt das Menschenrecht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit in dramatischer Weise. Es ist unsere Aufgabe als Ärzt*innen und Gesundheitspersonal, Leben zu retten und vor Schaden zu bewahren*. Seit 2014 hat der Krieg in der Ostukraine schon 13.000 Menschen das Leben gekostet. Drei Millionen Menschen mussten flüchten.

Zu viele Rüstungskontrollverträge wurden in den vergangenen 20 Jahren aufgekündigt,  allen voran durch die USA. Diplomatische Lösungsvorschläge von Menschen aus der Friedensforschung, der Friedensbewegung sowie von ehemaligen Diplomat*innen für ein Moratorium für jegliche NATO-Bündniserweiterung verhallten ungehört. Dennoch bleiben diplomatische und völkerrechtliche Vereinbarungen, an die wir auch in dieser schwierigen Situation anknüpfen können. Eine neue europäische Friedensordnung muss die Sicherheitsinteressen Aller anerkennen. Es muss eine politische Lösung gefunden werden auf der Basis eines Konzeptes, das nicht auf Abschreckung beruht, sondern auf dem Entwurf einer gemeinsamen Sicherheit. Nur damit können große Probleme wie die Klimakatastrophe gelöst werden.

Mehr denn je brauchen wir eine starke Bürger*innen und Friedensbewegung auf den Straßen. Dringend notwendig sind alle Formen des kulturellen Austausches zwischen Menschen in der Ukraine, Russland und Deutschland. In ihrer großen Mehrheit lehnen sie jeden Krieg in Europa ab und wollen friedlich miteinander leben. Wir verweigern uns dem Hass, der zunehmend die Debatten um den Ukraine-Krieg bestimmt. Es ist bestürzend zu sehen, wie die vielen zivilgesellschaftlichen Verbindungen mit Russland, die nach den schmerzlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges mühsam aufgebaut wurden, jetzt abreißen. In diesem Sinne kritisiert die IPPNW die Empfehlung des Bundesforschungsministeriums, jegliche wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auszusetzen.

Wir müssen den Frieden selbst in die Hand nehmen. Am Ende wird nur Diplomatie, kontrollierte Abrüstung und gemeinsame Sicherheit der richtige Weg sein.

Die IPPNW fordert von der Bundesregierung:
- sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine einzusetzen
- alle Mittel auszuschöpfen, um eine Eskalation in einen Atomkrieg zu verhindern
- weiterhin für Gespräche offen zu bleiben und sich für den Einsatz von Mediator*innen stark zu machen
- die diplomatischen Möglichkeiten im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu nutzen
- sich in der NATO für ein Aufnahmemoratorium für die Ukraine im Gegenzug zum vollständigen Rückzug der russischen Truppen einzusetzen
- sich für eine Konferenz über die künftige Sicherheitsarchitektur Europas starkzumachen
- auf eskalierende Reaktionen und eine demütigende Rhetorik zu verzichten
- sich für die Aufrechterhaltung des zivilgesellschaftlichen und kulturellen Austausches mit Russland einzusetzen
- Kriegsdienstverweiger*innen aus Russland, der Ukraine und Belarus einen Aufenthaltsstatus zu gewähren
- das 100 Mrd. Euro-Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr zurückzunehmen und das Geld stattdessen für eine beschleunigte Energiewende und eine sozial-ökologische Transformation zu verwenden.

* Diesen Appell können ausdrücklich auch Nicht-Mediziner*innen unterstützen.

Alle Unterzeichner*innen

Bislang haben 2048 Personen unterzeichnet (2048 davon hier online)

Hier alle 1662 öffentlich sichtbaren Unterzeichner:

Eva Kaiser, - 09.03.2022
Harald Martin, - 09.03.2022
Christel Miessen, - 09.03.2022
Jens Wilke, - 08.03.2022
Bernardo Jurema, - 08.03.2022
Cornelia Barth, - 08.03.2022
Susanne Dyhr, - 08.03.2022
Helen Stödtke, - 08.03.2022
Benjamin Mayr, - 08.03.2022
Maren Stödtke, - 08.03.2022
Ulrich Frech, - 08.03.2022
Dietmar Skusa, - 08.03.2022
Gudrun Lefeber-Dessow, - 08.03.2022
Dr. med. Thomas Gerlach, - 08.03.2022
Dietmar Müller, - 08.03.2022
Eleonore Siersleben, - 08.03.2022
Simeon Disch, - 08.03.2022
Luise Boehlich, - 08.03.2022
Friedhelm Schulz, - 08.03.2022
Sylvia Krämer, - 08.03.2022
Prof. Dr. Margret Dörr, - 08.03.2022
Anne Heid, - 08.03.2022
Friedel Böhse, - 08.03.2022
Sabine Kühlcke, - 08.03.2022
Dr. Wilhelm Brüggen, - 08.03.2022
Jennifer Kauther, - 08.03.2022
Heide Sattler, - 08.03.2022
Eckart Behm, - 08.03.2022
Karin Pittner, - 08.03.2022
Alois Hirth, - 08.03.2022
Malte Schwind, - 08.03.2022
Hannes Menke, - 08.03.2022
Ingrid Engelbart, - 08.03.2022
Frank Mehnert, - 08.03.2022
Irina Jentsch, - 08.03.2022
Yvonne Stöckemann-Paare, - 08.03.2022
Carmen Möckl, - 08.03.2022
Pia Richter, - 08.03.2022
Thomas Schwind, - 08.03.2022
Markus Kellmann, - 08.03.2022
Uwe Steinberg, - 08.03.2022
Ognyana Ivanova, - 08.03.2022
Anette Klasing, - 08.03.2022
Caren Emmenecker, - 08.03.2022
Daniel Seiderer, - 08.03.2022
Katja Helmbrecht, - 08.03.2022
Christiane Magiros, - 08.03.2022
Julia Goll, - 08.03.2022
Alexandra Mehdi, - 08.03.2022
Ulrike Gräf, - 08.03.2022

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