Israel

Von Tobias Wolf

01.12.2007 Freitag Winter 2008 Riga Schnee - 13 Grad minus - ich muss es noch einmal sagen, Schnee -13 Grad minus...  Ich denke zurück, denke an den Sommer 2007, Sommer in Israel. Sommer 2007 Tel Aviv 30 Grad. Die IPPNW gab mir die Gelegenheit, diesen Sommer in Israel zu verbringen. Die Entscheidung hierzu fiel an einem Wochenende in Berlin. An diesem Wochenende traf ich Julia, welche im Frühjahr in dem Projekt gewesen war. Es war keine überlegte Entscheidung, es war nur die eine Frage: Und Tobias, wo möchtest du gerne hin, wenn du es dir aussuchen könntest? Meine Antwort: Israel!

Diese Antwort ging mir während der gesamten Rückfahrt durch den Kopf, Israel! Wie wird meine Familie, meine Freundin, wie werden meine Freunde auf diese Antwort reagieren, Israel. Zuerst reagierte ich, wie aus einem leichten Schlaf erwacht. Israel, das ist das Land aus den Nachrichten, dort wo tagtäglich Raketen nieder prasseln, jede Busfahrt die Letzte sein könnte, und nebenbei das gesamte Gedankengerüst unserer westlichen Welt seinen Ursprung hat. Der ein oder andere Aspekt kam auch in den Reaktionen meiner Mitmenschen zum Vorschein.
Meine Überlegungen über "Was wäre wenn?" endeten Anfang August, als der Flieger deutschen Boden Richtung Tel Aviv verließ.

Und da stand ich plötzlich, mitten in diesem Land, welches für mich bis dato nur aus Bildern aus dem Religionsbuch Klasse 13 bestand. Doch wo waren die Beduinen, die Lehmhütten, das lebensfeindliche Wüstenklima. Vor mir tat sich eine farbenfrohe lebhafte Welt zwischen Hochhäusern und Leuchtreklamen, braunen Körpern und Liegestühlen auf, Israel?

Nach dem freundlichen Empfang an der Universität von Tel Aviv (an deren Sommerprogramm ich teilnehmen konnte) begab ich mich also nach Kfar Saba. Dort ist es bestimmt ländlich und ruhig und wie im Religionsbuch, dachte ich, als der Bus abfuhr ... Hochhäuser und Leuchtreklame, wer hätte das gedacht! Nachdem ich, ohne ein Wort Hebräisch zu reden, geschweige denn lesen zu können das Zimmer im Schwesternwohnheim bezog und mich auf dem luftigen Balkon niederließ, wurde mir allmählich klar, das ist Tel Aviv, nicht Israel!

Am Anfang stand der Sonntag. Der erste Tag in Shalvata ("friedvoll"), wie sich später herausstellen sollte, ein geflügeltes Wort in Israel von dem jeder was weiß, leider jedoch nicht wo es ist. Die Suche nach dem Shalvata Mental Health Center stellte sich also am ersten Morgen etwas komplizierter dar. Der Busfahrer deutete mir, irgendwo in diesem Kibbutz dort hinten. Im Kibbutz leitete man mich freundlich zur Juristischen Schule weiter. Aber irgendwann stand ich vor dem Sicherheitstor, auf welchem doch wirklich stand: Shalvata. Und so wirkte es vom ersten Augenblick an. Palmen, flache Holzbauten, Patienten und Therapeuten, welche über die Wege flanierten. Als ich die Tür zum Büro von Frau Dr. Abramovic öffnete, stutzte ich kurz. Der gewohnt bekannte Ablauf ist eigentlich, ein erstauntes Gesicht und die Frage wer man sei. Aber Ora (die Sekretärin) begleitete mich nach einer freundlich fremden Grußformel in das Büro und es war alles klar. Frau Dr. Abramovic führte mich gleich über das nach einer afrikanischen Urwaldklinik anmutende Gelände und kurz darauf fand ich mich bei Herrn Dr. Kron, dem Klinikdirektor, wieder, welcher mich aufklärte warum ich unbedingt meine "swimsuit" mitbringen sollte.

Mein Wochenprogramm begann sonntags in der geriatrischen Psychiatrie, einer ambulanten Station mit drei Therapeutinnen, welche von Frau Dr. Abramovic geleitet wurde. Hierbei zeigte sich für mich schnell, wie quälend eine Sprachbarriere manchmal sein kann, aber auch, wie viel Aufmerksamkeit ich auf Mimik, Gestik und andere Kommunikationsformen setzen konnte und durch diese erstaunlich viel von den Gesprächen mitbekam. Leider fielen die Nachfragen über den Umweg der Übersetzung sehr schwer. Eine negative Reaktion aufgrund meiner Herkunft habe ich nie erhalten, eher so viele stolze Versuche erlebt, sich mit mir in meiner Muttersprache zu verständigen. Die Fähigkeit von Frau Dr. Abramovic, Behandlungsgespräche in 5 Sprachen durchzuführen, ließ daher auch manchmal Konstellationen entstehen, welche mir eher das Gefühl vermittelten, mich auf meinem Eckstuhl mitten in einem internationalen Sprachenzentrum und nicht in einer Psychiatrie zu befinden. Da sitzt z. B. eine argentinische Jüdin mit ihrer philippinischen 24h-Hilfe (in Israel durchaus keine Seltenheit). Ihre Beschwerden werden auf Hebräisch besprochen, während die Dosis der Medikamente mit der Hilfe auf Englisch geklärt werden, und ich erfahre auf Deutsch warum sie gerade diese Behandlung bekommt. Ich verabschiede mich freundlich auf Hebräisch um auch meinen Beitrag zu leisten.

Ein Grundpfeiler des f&e-Programms in Israel ist der Austausch mit holocaust-survivors. Sie habe ich in der Sprechstunde, in ihrem Pflegeheim oder in der Klinik getroffen.

Es waren für mich immer schwierige Gespräche, weil ich sie häufig in meiner Muttersprache viel emotionaler wahrnahm, weil ich dabei meist ein unterschwelliges Schuldgefühl nicht ablegen konnte, und weil ich mir versuchte vorzustellen, was diese Menschen empfinden. "Wir hatten keine Jugend, aber unsere Kinder sollten eine haben!", während Frau S. das sagte, gelang es mir nicht, die Augen von der A-15797 auf ihrem Unterarm zu wenden. Herr M. zeigte mir Bilder und erklärte mir Details von unzähligen Lagern, deren Namen ich noch nie gelesen hatte. Herr P., welchen ich zufällig im Foyer kennen lernte, war der einzige Überlende seiner Familie, 67 Angehörige hatte er verloren, doch sein Lebensmut strahlte mich ungebrochen aus seinen Augen an. Zum Abschluss unseres Gespräches sagte er mir: "Ihr hattet so viele Helden, leider wisst ihr nur nichts von ihnen!"

Montags war der Tag in der Jugendpsychiatrie bzw. im Sommer der Tag für Ausflüge (Swimmingpool, Freizeitpark, Pony reiten, Bowling usw.). Es was so faszinierend diese jungen Menschen zu sehen, sie waren doch eigentlich so "normal", doch in anderer Umgebung oder im Umgang miteinander konnte man schnell ihre Defizite feststellen. Ich lernte viel über deutsche Autos, wenn ich auch immer betonte mir eine Ente kaufen zu wollen, konnte bald fließend auf Hebräisch fluchen, obwohl ich noch immer Schwierigkeiten hatte, mir ein Busticket zu kaufen. (Aber fluchen ist in Israel mindestens genauso überlebenswichtig!) Donnerstags machte ich gemeinsam mit den Psychologiestudentinnen "Seminare" über Musik (es wurde sogar getanzt) und bekam Nachmittags Unterricht in Hebräisch in der Arbeitstherapie von zwei Patientinnen (eine der spontanen Ideen von Frau Dr. Abramovic, welche durchaus nicht selten sind). Die jungen Ärzte waren sehr offen und bemüht, mir das Möglichste zu zeigen und das nicht nur auf Station. Mit Gaddy hatte ich den ersten Kontakt mit Jerusalem, nachts 4 Uhr über der Stadt bei einer Psy-Trance Party. Tomer zeigte mir Jaffa den arabischen Teil Tel Avivs und gab mir zahlreiche Gelegenheiten mir die schwüle Tel Aviver Nachtluft auf einem Motorroller um die Nase wehen zu lassen, denn glücklicherweise gibt es dort im Sommer keine Nacht. Über Ido bekam ich Kontakt zu den Physicians Of Human Rights Israel, einer unglaublich engagierten kleinen Gruppe von Idealisten in einem Tel Aviver Hinterhof.

Durch diese Menschen und deren Freunde hatte ich die Gelegenheit vieler Gespräche über die politische Situation, das Militär und was es bedeutet, in Israel zu leben, was es bedeutet, Jude zu sein. Und diese Fragen begleiteten mich auch auf meinen Reisen.

Vom Mittelmeer über Haifa zum See Genezareth, vom Jordan zum Toten Meer, über Jerusalem, Palästina, der Wüste Negev ans Rote Meer und in den Sinai. Was es bedeutet in Israel zu leben, was es bedeutet Jude zu sein. Ich habe so viele Antworten bekommen, so viele Widersprüche, so viele Übereinstimmungen erfahren. "In Israel zu leben bedeutet Krieg. Vielleicht heute, vielleicht morgen.", so die Antwort eines Familienvaters der mich in Haifa aufgenommen hatte. "Ein Jude zu sein bedeutet, mit Angst konfrontiert zu sein, weil man dich nicht erkennt.", antwortete mir der Mann von Luzie, einer der Therapeutinnen in Shalvata. "Jung zu sein in Israel bedeutet Soldat zu sein, für sein Land zu kämpfen und stolz zu sein, oder zu gehen.", sagte mir Gaddy eines Abends mit leichter Bitterkeit. Wie gleich doch alle sind, trotz ihrer Unterschiede, das musste ich bald feststellen. Wie verschieden sich für mich die gesamte Situation darstellte, weil ich in einer liberalen Demokratie, einem befriedeten Europa aufgewachsen bin, aber auch. Dass aber der Gedanke ein freies, sorgloses Leben zu führen, das Ideal auf beiden Seiten der Mauer ist, stimmte mich häufig nachdenklich, wenn ich mich dabei wiederfand die jeweils "andere Seite" argumentativ zu vertreten. Genau diese Tatsache ging mir durch den Kopf als ich im Tel Aviv Museum of Modern Art vor dem Werk "sunrise" stand.

Die Bildmitte wurde von einer kalten Dunkelheit bestimmt, von dieser Dunkelheit aus strömten warme Farben einer aufgehenden Sonne zu den Bildrändern. Diese warme Sonne scheint jeden Morgen für die Menschen auf beiden Seiten dieses bedrohlich kalten Betonblocks, doch dort ist sie eben eine ganz andere.

Den Abschluss meines Aufenthaltes bildeten Jerusalem, Yad Vashem und ein Treffen mit Moshe Zimmermann, von denen ich mir nun endlich die Klärung aller Fragen versprach. Herr Zimmermann ist Professor für Geschichte an der Universität von Jerusalem und hatte sich vor allem mit dem deutschen Antisemitismus auseinander gesetzt. Beeindruckt war ich dabei vor allem von der kritischen Haltung welche er dem Staat Israel gegenüber zeigte. Er antwortete, "Wenn man sich die Zusammensetzung der in Israel lebenden Bevölkerung betrachtet, fällt es nicht schwer zu verstehen, dass die Frage was Jude zu sein bedeutet und in diesem Staat zu leben immer noch unverändert ein Diskussionsthema in allen Schichten darstellt." Yad Vashem zeigte mir, was es für mich bedeutet, Deutscher zu sein, Deutscher in Israel zu sein und das Vergangenheit immer auch Gegenwart bleiben wird.

Und als ich sie eigentlich schon gar nicht mehr suchte, die Antwort auf meine Fragen. Da fand ich sie dann doch, an einem Pfeiler der Ausstellungshalle, in schwachem Licht, gar nicht aufdringlich, las ich und verstand:
Remember only that I was innocent and, just like you, mortal on that day, I too, had a face marked by rage, by pity and joy, quite simply, a human face.
Benjamin Fondane murdered at Auschwitz 1944

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