01.12.2007 Mein f&e-Aufenthalt in der Türkei führte mich nach Izmir und Diyarbakir, führte mich in die zwei gegensätzlichen Welten des Westens und Ostens, der Moderne und der Tradition, des Reichtums und der Armut, der Türken und der Kurden und führte mich nicht zuletzt in die Heimat meiner Eltern. Nach Betrachten der vielen Fotos und während ich türkisch-kurdisch-arabischer Musik lausche, fällt es mir leicht und doch wieder unheimlich schwer von meinen Erlebnissen und Begegnungen zu erzählen, die richtigen und ausreichend Worte zu finden. Ich will es einmal probieren.
Famulieren in Izmir
Ich wurde (um Mitternacht) mehr als herzlich von Doktor Bülent Kilic, einem Assistenz-Professor am Public Health Institut der medizinischen Fakultät, am Flughafen in Empfang genommen und für die erste Übernachtung in dieser fremden großen Stadt nahm er mich mit zu sich und seiner lieben Familie nach Hause. So begann meine Reise mit dieser Erfahrung türkischer Gastfreundschaft, die sich in den nächsten acht Wochen gewissermaßen als roter Faden so fortsetzte.
Bei Tageslicht und Hitze zeigte mir Bülent am nächsten Morgen den großen Campus der Dokuz Eylül Üniversitesi mit der Universitätsklinik und dem Institut für Public Health, ich bezog das direkt am Meer gelegene Wohnheim und begann sogleich die Famulatur im öffentlichen Gesundheitszentrum von Narlidere, einem Stadtteil von Izmir. Dort herrschte zunächst einmal Ratlosigkeit bezüglich meiner weiteren Beschäftigung. In der Türkei befindet sich das Gesundheitssystem zurzeit im Umbruch. In den nächsten Jahren werden die Gesundheitszentren nach und nach ersetzt durch "Family Doctors", denen die Patienten je nach Wohnadresse zugeteilt werden, gesundheitliche Leistungen werden so zunehmend privatisiert. In Izmir war dieses System zwei Monate vor meiner Ankunft eingeführt worden, viele Mitarbeiter des Gesundheitszentrums waren praktisch ohne Aufgabe und so wurde entschieden, dass ich die Tage bei solch einem Family Doctor verbringen würde. Dieser sitzt im Wesentlichen hinter einem großen Schreibtisch, empfängt Patienten, hört sich deren Leiden an, untersucht in den seltensten Fällen und verschreibt dann oft auf Wunsch des Patienten großzügig Medikamente. Ich war insgesamt anderthalb Wochen bei den Family Doctors, zum einen in Narlidere, zum anderen in Inönü, einem Armenbezirk in Izmir, und die Unterschiede zwischen dem Patientenklientel, den Krankheitsspektren, der möglichen Versorgung waren enorm. In Inönü gibt es insgesamt mehr Patienten, die vor der Tür warten, so hatte ich den Eindruck, es kommen viel mehr Kinder, die Krankheiten sind sehr häufig infektiologischen Ursprungs (Parasiten, Pilze), etwa die Hälfte der Patienten kann weder lesen noch schreiben. Manche von ihnen, es sind oft kurdische Flüchtlinge, sprechen nur ein paar Brocken türkisch.
Anschließend ging es für mich auf die Pädiatrie in der Uniklinik. Dort hieß es meistens, es gäbe nichts zu tun, außer bei den Visiten mitzugehen und so verbrachte ich viel Zeit mit den PJ-lern, die auch nicht viel mitarbeiten dürfen auf der Pädiatrie, in unserem kleinen Zimmerchen, wir spielten, tranken Tee oder gingen essen. Die letzte Famulaturwoche hab ich auf der Kindernotaufnahme verbracht. Dort war definitiv mehr zu tun und vor allem bei einem Nachtdienst konnte ich viel lernen und helfen. Die Kindernotaufnahme ist ein Raum mit sechs Betten, die eigentlich immer belegt sind und gleichzeitig versorgt werden. Der tägliche Austausch mit den PJ-Studenten war für mich das Schönste an der Famulatur. Sie halfen mir dabei, mich nicht im großen Krankenhaus zu verlaufen und brachten mir die komplizierten Regeln der Krankenhaushierarchie bei (wenn die Oberärztin vorbeiläuft, sollte man nicht mit gekreuzten Beinen auf seinem Stuhl sitzen).
Überhaupt waren die persönlichen Kontakte etwas ganz besonderes. Da waren Bülent und Yücel aus dem Public Health Department, die von Beginn an meine erste Anlaufstelle für Hilfe und Rat darstellten und die mich zum Joggen mit in die Berge nahmen und leidenschaftlich über das neue Gesundheitssystem diskutierten. Da war Vesile, eine junge Pharmavertreterin (von denen kommen täglich etwa 10-15 in die Zimmer der Family Doctors, egal, ob Patient gerade drin sitzt oder nicht), die mich gleich fürs erste Wochenende bei sich einquartierte. Da war Ceyhun, der selber vor einigen Jahren mit f&e in Deutschland war und mit dem jeder Ausflug etwas Besonderes wurde. Da waren Murat und Emrah, zwei gute Freunde von Mustafa, der wiederum zeitgleich mit f&e in Deutschland war. Und natürlich war es etwas ganz besonderes, dass Steffi in meiner letzten Woche in Izmir ankam und wir viele Erlebnisse miteinander teilen und gemeinsam erfahren und verdauen durften.
Izmir ist eine moderne europäische Großstadt, in der es sich als Student wirklich gut leben lässt. Man muss sich ein bisschen an das Verkehrsmittelsystem gewöhnen, aber dann ist man wirklich gut und einfach unterwegs, sei es mit dem Minibus, dem großen Bus, der Fähre (das ist wirklich toll, besonders abends, wenn man von einer Seite der Stadt zur anderen fährt und die Lichter am Ufer blitzen und blinken sieht) oder zu Fuß. Das Meer ist irgendwie überall, was ich herrlich fand, und direkt am Wohnheim verläuft eine endlos lange Felsenpromenade, auf der sich Fischrestaurants und Teehäuser aneinander reihen. Jeden Abend herrscht hier lautes Treiben und Gewusel. Okey spielen (so ähnlich wie Rummy) im Teehaus, picknicken am Meer nebst grillenden Großfamilien, Türkü-Konzerten (traditionelle türkische Volksmusik, bei der sich mir die Nackenhaare aufstellen vor Wohligkeit) lauschen, spazieren gehen am Meer. Die Innenstadt ist ca. 30 Minuten mit dem Bus vom Wohnheim entfernt. Dort wartet unter anderem der riesengroße Basar, wieder lautes geschäftiges Treiben, Gerüche, Farben, verwirrende Straßenführungen. Mindestens dreimal am Tag kurvt ein rotes Auto mit lautem Gehupe, Getrommel und Getröte durch die Straßen, um eine Verlobung oder eine Beschneidung anzukündigen.
Es gibt viele tolle Ausflugsziele in und um Izmir herum und vier Wochen waren eigentlich zu kurz für einen umfassenden Rundum-Blick, aber es hat gereicht, um mich sehr wohl und auch heimelig fühlen zu lassen in dieser warmen offenen Stadt.
Engagieren in Diyarbakir
Es fiel mir gar nicht leicht mein liebgewonnenes Izmir mit all den lieben Menschen zu verlassen. Zumal ich meiner Reise nach Diyarbakir mit sehr gemischten Gefühlen gegenüberstand und auch mit sehr gemischten Reaktionen von anderen diesbezüglich konfrontiert wurde. Meine Eltern waren anfangs sehr besorgt, obwohl vor meiner Reise schon lange keine öffentlichen Anschläge mehr passiert waren. Sie hatten Angst davor, was passieren würde, wenn ich mich auf politische Diskussionen einließe. Viele, aber nicht alle Türken in Izmir reagierten ähnlich, warnten mich, zeigten Unverständnis für das bloße Vorhaben in den fast ausschließlich von Kurden bewohnten Südosten zu fahren, und dann "ausgerechnet nach Diyarbakir". Viele Vorurteile und irrationale Argumente fanden ihren Weg in die Diskussionen. Unsere kurdischen Freunde Murat und Emrah wiederum waren begeistert und freuten sich mit mir auf meine Erfahrungen. Auch die Idee ein soziales Praktikum in einem Frauenrechtszentrum zu machen, löste unterschiedliche Reaktionen, in den meisten Fällen aber positive aus.
So machte ich mich auf den Weg; mit den beiden Frauenzentren hatte ich nur lose, für mich etwas unbefriedigende Vereinbarungen per E-Mail und einmal telefonisch getroffen, über Bülent und seinen Public Health Kollegen an der Uni in Diyarbakir hatte ich hoffentlich/wahrscheinlich einen Schlafplatz im Wohnheim, von Murat hatte ich die Telefonnummer seines Freundes in Diyarbakir, der angeboten hatte, sich "zu kümmern". Ich war also dementsprechend nervös. Nichtsdestotrotz genoss ich zunächst die Busfahrt, 23 Stunden, vorbei an den verschiedensten Landschaften, quer durch die Türkei. Für mich ein wunderbares Erlebnis.
Angekommen in Diyarbakir wurde ich tatsächlich von Murats Freund abgeholt, hatte einen Platz im Wohnheim und wurde auch am nächsten Tag bei KAMER (Kadin Merkezi - Frauenzentrum) erwartet. Manchmal klappt eben doch alles von fast alleine.
Diyarbakir ist heiß und trocken und eine uralte Stadt am Tigris. Doch ich kam zunächst im neuen Stadtkern an, wo man die Großstadt stark merkt. Es ist laut, bunt und geschäftig, viele Kleidergeschäfte, Banken, Restaurants, Hotels, Teehäuser säumen die Straßen. Und doch ist es ganz anders als in Izmir. Ich hatte das Gefühl, die Straßen seien dominiert von Männern und ich müsste mich mit Bedacht fortbewegen. Die Frauen sind öfter als in Izmirs Innenstadt verschleiert, seltener allein unterwegs, seltener dem Wetter angemessen kurz gekleidet. Selten ein Paar, das man als solches erkennt. Abends verstärkte sich dieses Bild, noch mehr Männer. Anfangs fand ich das sehr beklemmend. Im Laufe der Zeit lief ich viel entspannter durch die Straßen, aber richtig daran gewöhnen konnte ich mich nicht. Zumal ich oft nicht alleine unterwegs war, sondern in (überwiegend) männlicher Begleitung.
Doch nun zu meinen täglichen Stunden bei KAMER, die in starkem Kontrast zum gerade Erzählten stehen. Nebahat Akkoc gründete vor nunmehr 10 Jahren KAMER als eine der ersten Frauennotrufzentralen im Südosten der Türkei in Diyarbakir. Es war zu einer Zeit als Gewalt, auch häusliche Gewalt, in dieser Region der Türkei gewissermaßen normalisiert war. Es herrschten türkisch-kurdische Auseinandersetzungen auf den Straßen, das normale Rechtssystem war quasi aufgehoben.
Mittlerweile ist KAMER in 23 weiteren Städten der Südosttürkei eines der etabliertesten unabhängigen Frauenrechtszentren. Zahlreiche Frauen wurden gerettet vor häuslicher Gewalt, Ehrenmorden, Rechtlosigkeit. Die Frauen von KAMER bieten ihnen als erste Anlaufstelle verschiedene Wege aus dem Leben in der Gewalt, sie vermitteln zu Notunterkünften, psychiatrischer und rechtlicher Unterstützung, helfen beim Aufbau einer neuen Existenz. Außerdem bietet KAMER 12wöchige Workshops an, in denen sich Frauen über ihre Erfahrungen mit Gewalt austauschen können, sich gegenseitig beraten und ermutigen können.
Und schließlich gibt es KAMER-Kindertagesstätten (unter anderem hieraus finanziert sich KAMER) in denen Rollen- und Geschlechterverhalten bewusst "gelehrt" werden.
Ich habe dreieinhalb Wochen mit den 10-15 Mitarbeiterinnen in der Diyarbakir-Zentrale verbracht und kann kaum in Worte fassen, wie sehr ich diese starken und selbstbewussten Frauen bewundere. Ich konnte nicht viel tun während meines Praktikums, ich habe viel mit den Frauen in der Küche gesessen, konzentriert zugehört (denn meine Türkischkenntnisse waren leider oft nicht ganz ausreichend um den Gesprächen komplett folgen zu können und keiner sprach Englisch). Oder ich habe in den Jahresberichten gelesen, über die Schicksale der Frauen, die erniedrigt, gequält, unterdrückt wurden, bevor sie sich trauten auszubrechen. Insgesamt war diese Zeit eine große Bereicherung. Außerdem hatte ich das Glück zu den Feierlichkeiten des 10jährigen Jubiläums dort zu sein, die vier Tage anhielten und mit einem riesigen Konzert einer berühmten türkisch-kurdischen Musikgruppe endeten.
In meinen letzten 10 Tagen besuchte mich Steffi und wir gingen für zwei Tage zu Dykasum, einem weiteren Frauenrechtszentrum in Diyarbakir, welches allerdings eine staatliche Einrichtung ist und gänzlich anders aufgebaut ist und funktioniert. Hier können Frauen umsonst waschen, backen, ihre Kinder für einige Stunden abgeben, nähen und töpfern, lesen und schreiben lernen. Außerdem werden Hausbesuche bei Schwangeren gemacht und diese gesundheitlich aufgeklärt. Der Vergleich zwischen diesen beiden Organisationen, letztlich auch zwischen diesen beiden Ideologien, die dahinter stehen, war sehr eindrücklich.
Um die Altstadt Diyarbakirs verläuft die berühmte riesengroße und lange, sehr gut erhaltene Stadtmauer. Die Altstadt wirkt wie eingeschlossen in dieser Mauer. Hier wohnen die ärmsten Bürger der Stadt. Hier finde ich es gleichzeitig am Schönsten. Uralte Straßen, Moscheen, Basare, Kirchen, die von der langen kontroversen Geschichte der Stadt zeugen. Die Straßen sind eng und labyrinthartig und voller Kinder. Ich wurde oft gewarnt nicht alleine in das Altstadtlabyrinth zu gehen und abends sollte man sich gänzlich von der alten Mauer und der Altstadt dahinter fernhalten. Aber der Abend ging sowieso immer nur bis 23.00, dann hatte man im Wohnheim seine Unterschrift zu leisten und das Gebäude nicht mehr zu verlassen (das war in Izmir übrigens nicht anders).
Nach dreieinhalb Wochen war auch Diyarbakir mir sehr ans Herz gewachsen und das vor allem wegen der Menschen, mit denen ich dort meine Zeit verbracht habe. Die Frauen bei KAMER, die lieben Mädchen im Wohnheim, die Jungs, Steffi (meine liebe Verbündete!). Bei Tee und Wasserpfeife spielten wir Okey, sangen, tanzten Halay (schweißtreibender Volkstanz) und machten Ausflüge nach Mardin und Hasankeyif. Es gab viele schwierige Gespräche und Fragen ("Wie würdest Du reagieren, wenn man Dir verbietet, Deine Muttersprache zu sprechen?"), auf die es keine Antwort gab und gibt. Ich konnte meistens nicht mehr als zuhören und bedrückt die vermeintliche Ausweglosigkeit aus diesem Konflikt befürchten, in dem längst nicht mehr rational diskutiert werden kann. Es gibt keine eine Wahrheit, die Türkei ist (mindestens) zweigeteilt und von Kontroversen durchdrungen.
Eine Woche, nachdem ich zurück und mit viel Fernweh in Deutschland war, bin ich noch einmal mit meiner Familie in die Türkei zu unseren Verwandten in Antakya geflogen. Für mich war es keine Frage: Acht Stunden Bus fahren und schon war ich wieder da. Noch einmal zwei Tage in Diyarbakir. Ein wunderbarer Abschluss für einen wunderbaren f&e-Sommer.
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