Bosnien und Herzegowina

von Anna Maria Lehner

01.12.2013

Ich hatte das große Glück, mit dem f&e-Programm für zwei Monate in Bosnien-Herzegowina zu leben. Dank meiner Vorgängerin vom Jahr davor (an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Julia für die vielen Tipps, Hinweise, Ratschläge!) hatte ich die Kontakte zur Uniklinik in der Hauptstadt Sarajevo. Leider brach der Kontakt plötzlich von deren Seite ab. Glücklicherweise hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon die offizielle Zusage, allerdings wurde mir trotz Nachfragen nie geschrieben, auf welche Station ich könne, geschweige denn, wo ich mich am ersten Tag bei wem oder wann melden solle. Also marschierte ich am ersten Tag einfach mal ins Ungewisse. Und dann kam mir die unglaublich entspannte Balkanmentalität zugute, sodass die Chefärztin der Neonatologie zwar meinte, sie habe nie von meiner Bewerbung gehört, ich könne aber gerne mein Praktikum bei ihr machen. Allerdings erst morgen.

Also ging ich an meinem ersten Tag nach 10 Minuten wieder heim, oder besser los, die Stadt zu erkunden. Diese gleiche Gelassenheit half mir auch im Gesundheitsamt, wo ich einen MRSA-Test machen musste, der nach den Andeutungen der MTAs dort nur negativ war, weil ich Ausländerin war, eigentlich hätten sie ja Resistenzen gefunden. Na gut. Dafür hielt ich mich nicht an die Vorgabe, mir vor jedem Patientenkontakt die Hände mit Seife zu waschen, sondern nutzte rege mein selbst mitgebrachtes Desinfektionsmittel.
In Sarajevo gab es keine Kontaktpersonen der IPPNW für mich, was Vor- und Nachteile hatte. Einerseits musste ich mir dadurch oft selbst weiterhelfen, viel auf eigene Faust organisieren oder herausfinden, andererseits war ich dadurch völlig offen für Bekanntschaften. Dieser Unterschied fiel mir vor allem auf, als in der Kinderklinik eine ganze Gruppe von Medizinstudenten auftauchte, die durch eine Organisation alles organisiert bekommen hatten. Sie wohnten, feierten und machten die Famulatur zusammen. Ich war nicht vom Flughafen abgeholt worden, dafür lernte ich jedes Wochenende andere Leute kennen, mit denen ich herumreiste und feiern ging. Wenn man dann aber manchmal doch irgendwo alleine hockt, sieht man nur noch die Nachteile meiner Art des Aufenthalts.

Sarajevo selbst ist schwer zu beschreiben. Da in ganz Bosnien-Herzegowina nur ca.4 Millionen Menschen leben, hat auch die Hauptstadt nur eine halbe Million Einwohner. Aber es ist halt doch eine Hauptstadt mit ihren Touristen, Bars, Kinos. Nachts sind die Strassen voller junger Leute und als Expat findet man immer einige feierwillige Couchsurfer. Viele Bosniaken preisen Sarajevo auch als das neue Jerusalem, weil es wie in der biblischen Prophezeiung 4 Jahre belagert wurde, doch nun alle Religionen friedlich nebeneinander wohnen. Und das war für mich wirklich eine Überraschung, als ich dort ankam: So nah an Europa, aber statt kleiner Kirchen steht in der Mitte eines schönen verschlafenen Bergdorfs eine Moschee. Und auch den Ruf des Muezzins hatte ich nicht erwartet, er wurde aber zu einem sehr liebgewonnen Detail.
Im August war gerade Erntezeit, und meine gegenwärtigste Erinnerung an Bosnien-Herzegowina ist der Geruch von völlig überreifem Obst, das auf glühend heißem Asphalt zerplatzt ist, da ich auf meinem Weg von der Klinik heim immer an einigen Obstbäumen vorbeikam. Auf dem Gehsteig bieten viele vor allem alte Leute die schmalen, aber so leckeren Erträge ihrer Gärten an. Ich habe mich in den 4 Wochen in Sarajevo fast nur von Melonen, Zwetschgen und Pfirsichen ernährt.
An den Menschen dort hat mich vor allem die Warmherzigkeit und Gastfreundschaft beeindruckt, die für sie eigentlich schon eine religiöse Pflicht ist. Kaum warf ich einen Blick in meinen Reiseführer, wurde ich auch schon gefragt, ob man mir helfen könne, was ich denn sehen wolle und als ich einmal nach dem Weg fragte wurde gleich das Auto geholt, um mich hinzufahren, da das zu kompliziert zum erklären sei. Mal ganz abgesehen davon, dass es unmöglich war, seinen Kaffee selber zu zahlen. Da wurde sogar zu Lügen gegriffen, um mich vom Bezahlen abzuhalten. Ich bekam die Chance beim Fastenbrechen teilzunehmen und wurde auf Familienfeiern mitgenommen.

Auf der anderen Seite ist der Bürgerkrieg noch immer überall präsent. Nicht nur in den Ruinen, die überall am Straßenrand stehen und in den Wohnhäusern, die von Granateneinschüssen gekennzeichnet sind. Auch die Menschen sind zu einem sehr großen Teil traumatisiert, da es nie zu einer wirklichen Verarbeitung kam. Und wirklich jeder hat natürlich eine Geschichte zu erzählen, wo man wie den Krieg verbracht hat, und viele haben noch heute Verwandte in Deutschland, Österreich oder waren selber dort. Diese Geschichten sind sehr interessant, belastendend und erschütternd, und manchmal weiß man einfach nicht, wie man damit umgehen soll, wenn einem diese Geschichten Freitag nachts in irgendeiner Bar erzählt werden. Allerdings spielen die Konflikte zwischen bosnischen Serben und Kroaten und den muslimischen Bosniern heute noch immer eine (zu) große Rolle in der Politik. Ich bin wirklich gespannt und werde deswegen weiterverfolgen, wie es sich in Bosnien-Herzegowina entwickeln wird: Es gibt einige vor allem junge Leute, die dieser Unterscheidungen überdrüssig sind, andere jedoch suchen gegen die Frustrationen der Armut, Arbeitslosigkeit und Stillstand in diesen Konflikten eine Lösung bzw. die Gründe ihrer Misere.
Dieses wunderschöne Land hätte es verdient, seinen Frieden zu finden.

An den Wochenenden reiste ich viel im Balkan herum, de facto habe ich sehr viel Zeit im Bus verbracht, wodurch man allerdings natürlich viel von der wunderbaren Landschaft sieht. Sogar ein Treffen im Kosovo mit den “f&e-Kollegen” aus Serbien und Mazedonien und zwei kosovarischen IPPNWlern kam zustande. Wir hatten nur ein Gespräch bei einem Bier erwartet, wurden aber sogar in das Nachtleben in Pristina eingeführt und hatten bis zum Ruf des Muezzins zum Sonnenaufgang Diskussionen über Politik, Religion und die Medizin.

Für mein Sozialprojekt zog ich um nach Tuzla, eine kleine Stadt 20 Kilometer von Srebrenica entfernt. Wegen der Belagerung von Srebrenica im Bürgerkrieg und nach dem bekannten Massaker dort flohen viele Bewohner nach Tuzla. Nun leben sie dort seit 20 Jahren in Flüchtlingslagern, zum Teil wächst dort gerade die dritte Generation auf. Die Allgemeinärztin Branka hat in Tuzla eine Organisation gegründet, die sich vor allem um die Frauen in der Region kümmert. Also kümmerte sie sich von 8 bis 16 Uhr als “Präsidentin” um die Finanzierung und Organisation der Projekte. Für Snaga Zene arbeiten unter anderem zwei Psychologinnen, eine Sozialarbeiterin, Juristinnen und BWLerinnen. Zusammen fahren sie zum Beispiel in die Lager, um die Familien zu unterstützen, bei Formularen zu helfen, bieten Gruppen- und Musiktherapien an und versorgen die Bewohner mit Medikamenten.
Dabei gilt der Grundsatz, das keinerlei Unterschied in Herkunft, Ethnie oder Religion gemacht wird. Jedem wird geholfen, soweit dies möglich ist. Dabei nimmt sich Branka auch sehr viel Zeit für Einzelschicksale, wie einzelne Familien, denen nun nach 20 Jahren ihr Haus wieder aufgebaut wurde. Außerdem wurde ich mitgenommen nach Srbrenica, wo sie die Zurückgekehrten unterstützen, ihnen vielfach einfach nur zuhören, aber auch Projekte installieren, damit die Frauen aus ihrer arbeits- und abwechslungslosen Einsamkeit geholt werden.
Ich spreche überhaupt kein Bosnisch. Dadurch achtete ich allerdings sehr auf die Gestik und Mimik und auf die non-verbale Kommunikation, was auch sehr schwierig werden kann, wenn man zum Beispiel die einzige ist, die merkt, das in einer Ecke der Sohn leise vor sich hinweint, weil alle anderen auf die Mutter achten, die ihr Schicksal im Krieg erzählt.
Abends bietet Branka dann noch eine Sprechstunde in ihrer Praxis an, wobei sie auch hier jedem Patienten sehr viel Zeit und Empathie widmet.
Insgesamt war diese Frau die beeindruckendste Erfahrung meines Aufenthalts in Bosnien-Herzegowina, da sie jedem einzelnen Menschen das Gefühl gab, unglaublich wichtig zu sein und sich ehrlich bei jedem freute, ihn zu sehen. Ich habe unglaublich viel von ihr lernen dürfen, was Umgang mit Menschen angeht.
Abends kümmerte sich ihr Sohn Drazen oder eine der Angestellten um mich, um beim deutschen Gast ja keine Langweile oder Einsamkeit entstehen zu lassen. Dadurch hatte ich nochmal die Chance, sehr viel auch über die Einstellungen und das Leben der jungen Leute zu erfahren. Abends fiel ich immer todmüde auf mein Klappsofa.

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