01.12.2014 There are no strangers.
Just friends we haven’t met yet. (unbekannte Quelle)
Als mir mitgeteilt wurde, dass Indien mein Projektland sein sollte, war ich zuallererst überglücklich, immerhin war es – neben Nepal, das 2014 kein Projektland wurde – mein Traumzielland. Doch auf die erste Begeisterung folgte schnell eine nüchterne Erdung während des Vorbereitungswochenendes in Göttingen, wo mir klar wurde, dass ich in diesen zwei Monaten an einen Punkt kommen würde, wo meine eigenen Werte mit mir bisher fremden und neuen Vorstellungen kollidieren werden. Ich setzte mich also nach nur kurzzeitiger Rückkehr von einem Auslandsjahr in Südspanien erneut in einen Flieger, dieses Mal Richtung Mumbai via diverser Zeitzonen, was die Anspannung nicht reduzierte, die Vorfreude aber auch nicht schmälerte.
Ankommen
Wie ein nasses Handtuch legte sich Indiens schwül-heißes Luft in der mittlerweile abklingenden Monsunzeit Mitte August um mein Gesicht und ich tauchte ein in eine Welt voller fremder Gerüche, Farben und Geräusche. Aber ich war vorbereitet. Dachte ich. Ich hatte ein Länderporträt gelesen, den Wiki-Artikel zu Indien kannte ich auswendig und neben dem Lonely Planet Indien (sehr handlich!) war auch ein Wörterbuch Hindi-Deutsch mit im Gepäck, das mir retrospektiv (in dem Bundesstaat Maharashtra mit Landessprache Marati) so nützlich sein sollte, wie die FDP unter Zeiten Philipp Röslers. Ich wurde herzlich in Empfang genommen von Dr. Nalini Kurvey, einer selbstbewussten, toughen Gynäkologin und IPPNWlerin, die mir in den kommenden Wochen mit wirklich jedem meiner vielen Anliegen behilflich war. Wir setzten uns in ihr kleines Auto und es passierte das, was ich in all den zwei Monaten kein weiteres Mal erlebt habe: wir fuhren Sonntags morgens um halb 8 durch die menschenleeren Straßen der Millionenstadt Nagpur in Zentralindien, die sonst – wie jede indische Stadt – kurz vor dem infrastrukturellen Kollaps steht. In der Wohnung über ihrer Teilzeit betriebenen Praxis angekommen, gab es erst einmal das landestypische Gericht aus Chapati (Brot), Reis, Dal (Linsen) und Sabchi (verschiedene Gemüse mit Chilis jeweils in der Form und Farbe des verwendeten Gemüses getarnt). Es schmeckte herrlich und eines war mir zu diesem Zeitpunkt schon klar: ich würde keinen Hunger leiden müssen. Dazu wurde natürlich Chai gereicht. Wie jeden Tag. Mehrmals. Immer. Ich wohnte in dem ehemaligen Zimmer der Tochter von Familie Kurvey mit eigenem Badezimmer. Absoluter Luxus, auf den ich mich nicht eingestellt hatte. Gewöhnungsbedürftig blieb nur diese schwüle Hitze mit nahezu 100% Luftfeuchtigkeit. Das dick gewobene Moskitonetz schützte mich nicht nur vor Malaria und Dengue, sondern auch vor jeglicher Erleichterung verschaffender Abkühlung durch den Deckenventilator. Kurz: ich schwitzte. Dass ich am nächsten Tag gleich mit der Famulatur im Getwell Hospital, einer Privatklinik, startete und hierzu natürlich lange Hosen und weißes Hemd tragen sollte („Gentleman“, ich konnte das Wort nicht mehr hören), machte es nicht besser. Am nächsten Morgen startete mein 1. Tag in der Klinik.
Einleben
Ich saß in einem gewaltsam auf 20 Grad heruntergekühlten Raum im Getwell Hospital, der sog. „Doctor's Lounge“, und wartete auf den Chef der Anästhesie, der mich dem Team vorstellte. Ich dachte kurz zurück an die Rikshafahrt, die mich „nur“ 20 Rupien mehr gekostet hatte als von Dr. Kurvey prophezeit wurde. Ich wurde in den folgenden zwei Wochen wunderbar in das OP-Team integriert, wo ich in verschiedene chirurgische Bereiche hineinschnuppern konnte. Hauptsächlich erstreckte sich das Fachgebiet über Kinder- und plastische Chirurgie, mit zwei jeweils sehr engagierten Ärzten, die mir viel auf Englisch erklären konnten. Negativ zu vermerken blieb leider die fehlende Kommunikation mit dem Team und das bloße Zuschauen bei den Operationen, was mich letztlich dazu bewog in den letzten Tagen durch das gesamte Haus zu rotieren. Ich bekam daraufhin Einblicke in die Intensivstation ebenso wie in die einzelnen Stationen und die ambulante Sprechstunde. Die Ärzte waren allesamt engagiert, das Sprachproblem mit dem restlichen Team und der Bevölkerung im Speziellen ließ sich leider bis zum Ende nicht beheben. Dennoch muss ich abschließend sagen, dass diese Privatklinik (der Privatsektor bildet einen sehr wichtigen Pfeiler und Wirtschaftsbereich des indischen Gesundheitssystems) wirklich gute Medizin geboten hat auf teilweise internationalem Standard. Doch wie steht es um den öffentlichen Sektor?
Nach sehr behüteten zwei Wochen Getwell Hospital und einer angenehm langsamen Aklimatisierun entschied ich mich dem Privatsektor den Rücken zuzukehren und ich leistete meine restlichen zwei Wochen im öffentlichen „General Medical College“ (kurz: GMC), einer Art Uniklinik, wo jeder Patient in der Theorie Behandlung bekommen sollte. Ich rotierte dort für eine Woche durch die Innere Medizin und für eine weitere Woche durch die Gynäkologie und Dermatologie. Natürlich war es interessant mitzubekommen, wie Frauen in Indien behandelt werden (es steht unter hoher Straft das Geschlecht eines ungeborenen Kindes zu bestimmen, da immer noch mehr weibliche als männliche Föten zwecks Mitgiftvorbeugung abgetrieben werden) und auch von großem Nutzen mir exotisch anmutende Hautkrankheiten kennen zu lernen. Jedoch war die fruchtbarste Zeit meines gesamten Aufenthaltes in beiden Kliniken mit Abstand die Woche in der Inneren Medizin. Ich war wunderbar integriert in das junge Team aus Assistenzärzten und konnte regelmäßig auf die sehr ausführlichen Visiten mitgehen und auch in der „Lecture Hall“ der Präsentation klinischer Fälle beiwohnen. Es ist für mich immer noch unvorstellbar, wie diese wenigen Ärzte die riesige Flut an nicht enden wollenden Patientenströmen bewältigen konnten. Sie sagten mir, dass sie jedes dokumentierte Krankheitsbild aus dem „Harrison’s“ schon mindestens einmal gesehen und behandelt haben. Diese Ärzte waren klinisch spitze und wo unsereins nach Blutbild und Spiral-CT schreien würde, wussten sich die indischen Ärzte klinisch versiert auf Grund mangelnder Ressourcen weiterzuhelfen. Eines der besten „Bedside Teachings“ meines Lebens zur Palpation des Herzspitzenstoßes bekam ich von einem indischen Kardiologen des GMC. Zum krönenden Abschluss durfte ich einen Fall vor der Ärzteschaft vorstellen, wobei ich die kalzifizierende Aortenklappenstenose wählte um zum einen auch mal mit einem typisch westlichen Krankheitsbild punkten zu können und zum anderen nicht völlig hoffnungslos den sehr detaillierten und teilweise bloßstellenden Fragen der „Seniors“ ausgesetzt zu sein. Mein Tipp: Indische Süßigkeiten mitbringen, denn wer nascht, fragt nicht.
Land & Leute
Parallel zu den ersten vier Wochen Famulatur fand praktisch immer ein hinduistisches Fest statt. So kam es, dass ich oft nach der Klinik mit den Kurveys zu Freunden zum Buffet eingeladen war und reichlich Einblick in die kulturellen Besonderheiten indischer Familien bekommen konnte. Diese Erfahrung betrachte ich rückwirkend als einmalig und habe ich wohl ausschließlich den integrativen Bemühungen der Kurveys zu verdanken. Ich habe Indien durchweg als sehr bunt, leuchtend und fast kitschig erleben dürfen in dieser Zeit, was mir heute mit Abstand durchaus viele positive Erinnerungen abgewinnen kann, bei der sonst doch omnipräsenten Armut und den vielen Problemen der Menschen dieses Landes. Da nach der Famulatur ein verlängertes Wochenende anstand, entschied ich mich kurzerhand nach Goa zu fahren, um dann frisch in das Sozialprojekt zu starten. Die Kurveys haben mich von Anfang an unterstützt, was Buchungen von Zug- uns Bustickets für Reisewünsche anging. So haben sie bspw. am Tag meiner Ankunft noch für die letzten 10 Tage meine verlängerte Rückreise über Varanasi und Dharamsala nach Delhi Tickets reserviert, da dies mit einiger Vorlaufzeit (Minimum 2 Monate) in Indien passieren sollte. Neben den Festlichkeiten bleib auch Zeit einen Original Bollywoodstreifen im Kino zu sehen (natürlich auf Marathi, aber die Handlung ergab sich indirekt) oder mit den Kurveys aufs Land zu deren „Farm“ zu fahren bzw. einen Health Check Up der ländlichen Bevölkerung vor Ort durchzuführen. Insbesondere diese Aktion weckte in mir das Interesse weiter der Frage nachzugehen, wie die Gesundheitsversorgung wohl weiter auf dem Land organisiert war. So kam es, dass ich mich von der Spitze der öffentlichen Gesundheitsversorgung Richtung deren Basis bewegte.
Für mein Sozialprojekt
bin ich dafür weiter aufs Land nach Daryapur gefahren zu Dr. Rahate (dem Schwager von Dr. Kurvey), einem Arzt für „Ayurvedic Medicine & Surgery“, der mich ebenso herzlich empfing, wie generell alle meine Begegnungen in Indien. Das Leben auf dem „Dorf“ (das bezüglich Einwohnerzahl mit einer größeren Stadt in Deutschland vergleichbar ist) in Indien ist nochmal etwas ganz anderes als in der Stadt und ich war froh, diese „Unannehmlichkeit“ auf mich genommen zu haben. Leider gestaltete sich das Sozialprojekt eher als eine passive Demonstration der verschiedenen Ebenen des indischen Gesundheitssystems als in einem wirklich aktiven Partizipieren in einem Projekt. Beides hat definitv seine Vorteile. Hätte ich nur damals schon gewusst, dass der andere Teil meines Sozialprojektes in Anandwan (einem Rückzugsort für Leprakranke), von dem ich mir mehr aktives Mitarbeiten und vor allem mehr Kontakt zu Kindern gewünscht hatte, nicht stattfinden sollte, hätte ich vielleicht anders entschieden. Es war schier unmöglich Kontakt mit den Verantwortlichen herzustellen. Ich wurde dennoch mit einer tollen Zeit in Daryapur entschädigt. Dr. Rahate arbeitet mittlerweile als Supervisor der verschiedenen an das „Subdistrict Hospital“ in Daryapur angegliederten „Primary Health Care Centers“ (PHC), was mir unvergleichbare Einblicke in die verschiedenen PHCs und anderen „Subcenters“ einbrachte. Er arbeitete lange Zeit zudem in der sog. „Tribal Area“, einem Ort, wo viele Menschen nach wie vor unter einfachsten Bedingungen leben und wo es viel Fingerspitzengefühlt bedarf herkömmliche und bewährte naturheilkundliche Verfahren durch neue und evidenzbasierte Methoden zu komplementieren. Bei einem unserer vielen Ausflüge in die wunderschönen Wälder und Berge Maharashtras erzählte er mir viele Anekdoten zu den Problemen einer flächendeckenden medizinischen Basisversorgung. Theoretisch habe ich in dieser Zeit zumindest sehr viel lernen können.
Abschiednehmen
Und dann fuhr ich auch schon in einem für indische Verhältnisse ziemlich komfortablen Zug mit Schlaffunktion Richtung Varanasi, einer heiligen hinduistischen Stadt, die man vielleicht aus Filmen kennt, wenn rituelle Waschungen an den Treppenstufen hinunter zum Ganges gezeigt werden. Eine beeindruckende Stadt, die nach der Uhr hinduistischer Rituale tickt und es nebenbei den besten Lassi Indiens gibt. Da ich immer noch unzufrieden war, so wenig aktiv in einem Sozialprojekt mitgewirkt zu haben, hatte ich auf eigene Faust die NGO „Learning and Ideas for Tibet“ in Dharamsala angeschrieben, die sich zum Ziel gesetzt hat, der tibetischen Exilregierung im Norden Indiens besseren Zugang zu Bildung zu verschaffen. Meine Aufgabe sollte darin bestehen Kindern und Jugendlichen auf Konversationsbasis Englisch beizubringen. Da mich persönlich Dharamsala interessiert und mir die Unterstützung der Tibeter eine Herzensangelegenheit ist, fuhr ich also weiter Richtung Norden nach Dharamsala. Es war erleichternd seit Wochen die typische Schwüle Indiens hinter sich zu lassen und milde Bergluft des beginnenden Himalayas zu atmen. Trotz schriftlicher Zusicherung, dass ich für die 10 Tage herzlich Willkommen wäre, fand ich mich schließlich vor verschlossenen Türen der NGO wieder. Passanten klärten mich auf, dass durch die Anwesenheit des 14. Dalai Lamas, dem geistlichen Oberhaupt der Exiltibeter, alle bei den Unterweisungen seien und genau in dieser Zeit wirklich alle ansässigen NGOs geschlossen hätten. Ich machte schließlich das Beste draus und setzte mich in den buddhistischen Tempel, um den Unterweisungen des Dalai Lama zu folgen, was eine wirkliche Bereicherung und eine tolle Alternative war. Letztlich stellte sich diese Zeit zwar erneut weniger als aktives Mithelfen heraus, aber die vielen glücklichen Mönche und Nonnen zusammen mit den unzähligen erhellenden Gesprächen mit Menschen aus aller Welt sollten mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Eines weiß ich aber mit Sicherheit, in Zukunft werde ich versuchen, das Sozialprojekt besser zu planen, dass auch wirklich ein mitwirkender Anteil enthalten ist. Ich denke es tut gut bei dem vielen Elend in Indien, das einen ständig umgibt, einmal richtig anpacken zu können, mit dem Gefühl etwas „bewirkt“ zu haben. Ein abschließender Tipp: das Taj Mahal hat freitags geschlossen, also nicht zu knapp planen bei der Rückreise.
Wiederkommen
Wie ich dann so in der hochmodernen U-Bahn in Richtung Delhis Flughafensaß, war mein Kopf plötzlich ganz leer. Der ganze Stress des Reisens auf eigene Faust fiel plötzlich von mir ab. Ich saß einfach passiv da und beobachtete die blauen Punkte der Fahrtanzeige, die mir prozentual
den Weg bis zu meinem Ziel visualisierten. Ich dachte eigentlich, dass mich diese stille Sterilität erst im Frankfurter Flughafen ereilen würde und so genoss ich diese Kostbarkeit (die ich das letzte Mal bei meiner morgendlichen Ankunft in Nagpur genossen hatte) mit einem sehr durchmischten Gefühl. Es fehlte plötzlich etwas. Da war niemand Fremdes, der sich mir ungefragt an die Schulter lehnte. Da war kein Geräusch. Wie im Vakuum. Der Spruch, den ich der Einleitung vorangestellt habe, trifft auf Indien wahrlich zu. Diese unbezahlbare Herzlichkeit der indischen Bevölkerung ist unvergleichlich. Was bleibt sind schon jetzt Erinnerungen an ein Erlebnis, dass nicht mit schwarz und nicht mit weiß beschrieben werden kann. Man sollte sich vorher genau überlegen, was es für einen selbst und auch für die Menschen vor Ort bedeutet nach Indien zu fahren. Je weniger Erwartungen, desto besser. Aktiv geholfen habe ich gefühlt niemandem, passiv vielleicht einigen Wenigen. Profitiert habe insbesondere ich von der Hilfe anderer, ist man doch sehr hilfsbedürftig in diesem fremden Land mit fremder Kultur. Aber man versteht besser die eigenen kulturellen und ethischen Grundpfeiler, in denen man sich sicher bewegt und von welcher (westlichen) Warte aus man Dinge betrachtet. Das hilft sich selbst kennen zu lernen, wie man auf gewisse Situationen reagiert und evtl. in Zukunft nicht reagieren möchte. Um authentisch Konflikte bewältigen zu können, ist es unverzichtbar seinen eigenen Standpunkt zu kennen, um sich bewusst politisch zurückhaltend, verständnisvoll für andere Werte und tolerant gegenüber fremden Moralvorstellungen verhalten zu können. Gewissermaßen war f&e somit ein Crashkurs für Diplomatie im Kleinen.
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