Das erste Foto, das ich aus meiner f+e-Zeit in die Heimat schicke, zeigt eine Hauswand mit Klimaanlagen. Etage über Etage, jede Wohnung ihre eigene, lassen sie ihr Kondenswasser auf den Bürgersteig tropfen, der Himmel darüber wolkenlos und blau. Es ist Anfang August und es ist heiß in Sarajevo. Sarajevo ist für eine Hauptstadt nicht besonders groß, hat gerade mal doppelt so viele Einwohner wie meine Studienstadt Göttingen, womit ich mich sehr wohl gefühlt habe. Es gibt viele Touristen, sowohl aus dem arabischen Raum (ein Konfliktpunkt: einerseits bringen sie dringend benötigtes Geld ins Land, andere befürchten gerade bei großen Investitionen eine Art Kolonisierung. Vor allem der strenger gelebte Islam macht das Thema schwierig, seit im Krieg die Religionszugehörigkeit zum wichtigsten Trennungsmerkmal geworden ist.) als auch aus dem europäischen (v.a. deutsche Backpacker), sodass man eigentlich nicht besonders auffällt und mit Englisch meistens ganz gut durchkommt. Sarajevo hat viele unterschiedliche Gebäude, die sehr schön die Geschichte der Stadt illustrieren. Einerseits die alte osmanische Baščaršia, enge Gassen, niedrige Häuser mit kleinen Läden dicht an dicht, viele gemütliche Cafés, Restaurants für Čevapi, Burek, Baklava und Kupferschmiede, die ihre Kaffee-Sets verkaufen. Direkt daneben beginnt die große westliche Einkaufsstraße aus der österreichisch-ungarischen Zeit. Weiter außerhalb sind die massiven Wohnblocks des sozialistischen Jugoslawiens und, allgegenwärtig in der Stadt, Einschusslöcher in Hauswänden und die "Sarajevo roses" im Boden (Granatenlöcher, mit roter Farbe gefüllt, zum Gedenken an Menschen, die durch den Einschlag gestorben sind), Spuren des Krieges, der gerade mal 20 Jahre her ist. Aber auch wenn der Wiederaufbau noch immer schleppend läuft, gibt es neue Gebäude, klotzige, glitzernde Shopping Malls oder normale Einfamilienhäuser, auf deren unfertigen Balkons schon die Wäscheständer stehen, während nebenan die frisch gegossene Betoneinfahrt in der Sonne trocknet.
Meine Famulatur mache ich im Uniklinikum in der Herzchirurgie. Das ist eher Zufall, weil für mich von vornherein feststand, dass aus mir keine Chirurgin wird. Nach diesem Monat bin ich mir da zumindest nicht mehr ganz so sicher... Besonders gefällt mir, wie viel das OP-Team mich machen lässt. Nach ein paar Tagen stehe ich mit am Tisch, bevor es losgeht, darf ich mich oft am Intubieren versuchen und am Anfang der zweiten Woche darf ich bei Bypässen die Beinwunde nähen. So viel wurde mir bisher in keiner anderen Famulatur zugetraut. Die moderne Herzchirurgie in Sarajevo wurde nach dem Krieg zusammen mit dem Berliner Herzzentrum aufgebaut, wie mir meine Mentorin stolz erklärt. In vielen Details bemerkt man aber doch Unterschiede: teure Einwegartikel werden teilweise so oft benutzt, bis sie nicht mehr funktionieren, Materialien fehlen manchmal einfach, sodass improvisiert werden muss. Gerade in letzter Zeit wächst der Druck auf das Klinikpersonal vonseiten der neuen Klinikleiterin, wirtschaftlich arbeiten zu müssen. Das größte Problem besteht allerdings, bevor man es überhaupt in den OP schafft: die Meisten müssen 1-2 Jahre auf ihre (teilweise dringend benötigte) Herz-OP warten und es ist leider nicht selten, dass sie letztendlich vorher versterben.
Die Atmosphäre im OP ist sehr angenehm, ich erlebe nie, dass es laut wird, dafür wird viel gelacht und nebenher läuft eigentlich immer Radio, oft hört man die Anästhesistinnen mitsingen (Wer Interesse an bosnischen Charts hat: Milimetar von Zeljko Joksimovic. Und diesen Sommer natürlich Despacito.). In der gemeinsamen Mittagspause nach Ende der OP wird etwas geklönt, die OTAs bringen mir bei, bosnischen Kaffee zu kochen (das Kaffeetrinken bin ich seitdem nicht mehr losgeworden) und regelmäßig gibt es aufwändige Torten von Patienten dazu. Dabei bekomme ich den Eindruck: Wer die Möglichkeit hat, geht gerne nach Deutschland, eine lernt gerade Deutsch, man weiß ja nie, aber bei einer Arbeitslosenrate von über 25% sind die meisten froh, ihren Job im Klinikum zu haben.
Die Politik ist für viele, mit denen ich mich unterhalte, ein leidiges Thema. Nach dem Krieg wurde ein kompliziertes System entwickelt, dass die unterschiedlichen Ethnien möglichst gerecht repräsentieren soll, aber leider vor allem bürokratisch und unflexibel ist. Das Land – Bosnien und Herzegowina – ist geteilt in zwei Entitäten, die muslimisch-kroatische Föderation und die RepublikaSrpska. Die besteht aus Regionen, in denen schon lange vorwiegend bosnische Serben gewohnt haben und Gebieten, die im Krieg erobert und ethnisch gesäubert wurden, um ein zusammenhängendes Territorium zu schaffen. Die serbischen Flaggen, die ich dort von manchen Privathäusern, aber auch offiziell vor Polizeistationen im Wind flattern sehe, sprechen für sich.
Meine Nachmittage beginnen meist mit einem Spaziergang über den Markt, auf dem es quasi alles zu kaufen gibt. An meinem ersten Tag bekomme ich dort meine weißen Arbeitsschuhe, aber ich sehe auch Kleidung, Handtaschen, selbst stapelweise Schulbücher für das beginnende Schuljahr. Aber vor allem: frische Feigen, Himbeeren, Tomaten, Weintrauben, Auberginen, Bohnen, ... alles bio, habe ich zumindest von Freunden gehört, die Bäuerinnen hätten oft kein Geld für Pestizide und bei so kleinen Anbauflächen lohne es sich ohnehin nicht. Je nach Wetter lässt sich danach die Sonne, der Schatten oder noch ein Kaffee genießen, mal alleine, mal mit Freunden, mal mit bisher Unbekannten.
Ein Highlight ist das Sarajevo Film Festival: Es ist während des Krieges als Zeichen des Widerstandes und der Solidarität entstanden und findet dieses Jahr schon zum 23. Mal statt. Dabei laufen eine Woche lang über 200 Filme in Kinos überall in der Stadt verteilt, die meisten eher kleinere Produktionen, etwas ab vom Mainstream, viele regional. Die, die ich sehe, machen mich oft nachdenklich. Einige treffe ich später auf der Seite des Göttinger Programmkinos wieder. Währenddessen blüht die Stadt auf, die Atmosphäre ist noch weltoffener als sonst, die Straßen, Cafés und Bars sind voll von jungen und älteren alternativen Kunstschaffenden und Kunstinteressierten aus aller Welt.
Tuzla ist anders. Als eine Studenten- und Arbeiterstadt hat sie auch einige nette Bars zu bieten, aber außer dem morgendlichen Spaziergang zu meinem Projekt bekomme ich eher wenig von ihr mit. Die meiste Zeit verbringe ich bei SnagaŽene (übersetzt in etwa „Powerfrauen“). Die Organisation wurde von Branca, einer Ärztin, nach dem Krieg aufgebaut und arbeitet mit Kindern und Frauen. Ich komme regelmäßig mit in zwei Flüchtlingslager, die jetzt seit über 20 Jahren bestehen, die Kinder heute sind teilweise schon die dritte Generation. Die Familien sind als Muslime aus ihren Heimatgebieten vertrieben worden, heute gehören die zur RepublikaSrbska. Eine Rückkehr ist im Moment keine Option mehr, auch weil der Staat die nötige Infrastruktur für den Wiederaufbau der oft winzigen Dörfer nicht leisten kann oder will.
Zwar sind es befestigte Häuser, in denen die damaligen Flüchtlinge seitdem leben, doch die waren ursprünglich nicht für eine so lange Zeit gedacht. Die hygienischen Bedingungen sind oft schlecht und Infektionskrankheiten spielen eine große Rolle in der medizinischen Versorgung, teilweise fehlt Geld für Hygieneartikel, teilweise fehlt das Wissen zueinfachen, wirkungsvollen Präventionsmaßnahmen. Manche Familien haben mittlerweile eigene Häuser bauen können, aber fehlende Infrastruktur, Stigmatisierung ebenso wie die persönlichen Traumata sind Gründe, dass Armut und Arbeitslosigkeit große Probleme bleiben.
SnagaŽene begleitet die Camps mit Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen, die in regelmäßigen Frauengruppen Raum geben, Probleme anzusprechen, medizinische Aufklärungsarbeit leisten, beraten und manchmal Hilfestellung bei rechtlichen Fragen oder Jobsuche geben können. Zweimal wöchentlich gibt es Treffen für die Kinder, bei denen gebastelt, gespielt und gelernt wird. Während ich da bin, fängt Sönne, der deutsche FSJler, an, ihnen etwas Deutsch beizubringen (der Vorschlag war bei ihnen auf helle Begeisterung gestoßen, einige können schon ein paar Sätze, weil sie mit ihren Eltern eine Zeit lang in Deutschland gelebt haben). Dabei lerne ich mindestens genauso viel, weil meine Bosnischkenntnisse bis zum Ende leider eher zu vernachlässigen bleiben.
Das ärgert mich besonders, weil ich dadurch aus den Frauengruppen weniger mitnehmen kann. SnagaŽene arbeitet auch in anderen Orten, die besonders vom Krieg betroffen waren, der bekannteste wohl Srebrenica. Die Angebote sind unterschiedlich, je nachdem, was wo am Dringendsten gebraucht wird. Es gibt Traumatherapie für Frauen, die Opfer der massenhaften Vergewaltigungen im Krieg wurden, wirtschaftliche Unterstützung in Form von Gewächshäusern und einer Kooperative, über die selbsthergestellte Tees und Säfte verkauft werden oder Gesprächskreise gegen die Einsamkeit in einem abgelegeneren Dorf, in dem viele Ehemänner selbst vergewaltigt wurden und seitdem nicht mehr die gleichen sind.
Nachmittags darf ich Branca in ihre Praxis begleiten: Zusammen mit ihrem Mann arbeitet sie dort jeden Tag weitere vier Stunden. Sie ist auf H.pylori-Infektionen spezialisiert (Forschung und Weiterbildung bringt sie auch in ihrem Leben unter), macht aber auch viele Ultraschalluntersuchungen und übernimmt für Bekannte, oft aus den Flüchtlingslagern, auch hausärztliche Aufgaben. Wer die Zuzahlungen nicht leisten kann, bedankt sich mit frischen Tomaten oder einem großen Glas Honig. Ich bin wirklich beeindruckt von ihrem Umgang mit Patienten. Liebe und Arbeit, sagt sie, sind die Geheimnisse eines guten Lebens. Ich glaube ihr irgendwie, habe aber trotzdem keine Ahnung, wie sie das seit 20 Jahren durchhält.
Ein Wochenende nutze ich, um nach Srebrenica zu fahren. Viel verbunden habe ich mit diesem Örtchen vorher nicht, das Ausmaß des Völkermords, der dort stattgefunden hat, beginne ich erst zu verstehen, seit ich in Bosnien bin. Umso mehr irritiert mich, als selbst Mitarbeiterinnen von SnagaŽene mir raten, lieber an die Adria zu fahren, in meinem Alter wäre das doch unnötig düster. Düster finde ich es schon, mit dem Wort unnötig hab ich meine Probleme. An der Busstation treffe ich den Kurator des Museums, er lädt mich ein, obwohl es samstags eigentlich nur für angemeldete Führungen geöffnet ist. So habe ich die Ausstellung für mich und kann mich langsam durch die menschenleeren Räume in der ehemaligen Fabrikhalle arbeiten. Es lohnt sich, einen ganzen Tag mitzubringen, ich wäre gerne länger geblieben. Als ich mich vor dem zum Mahnmal gehörigen Friedhof noch etwas mit dem Kurator unterhalte, überraschen mich die Leidenschaft und der Tatendrang, mit denen er das Museum weiter verbessern und ausweiten will. Daran, dass aus meiner Sicht historische Ereignisse für mein Gegenüber erlebte Realität sind, habe ich mich noch nicht gewöhnt.
Meine Vermieterin in Tuzla lerne ich kennen, als ich am ersten Tag durch die Innenstadt laufe, auf der Suche nach einem Pensionszimmer, das nicht doppelt so viel kostet wie im Internet angegeben. Sie spricht mich – vollbepackt und offensichtlich etwas hilflos – auf der Straße an und mein Bosnisch reicht zum Glück, um zu verstehen, dass die Dreizimmerwohnung, die sie sonst an Studierende vermietet, jetzt in den Ferien leer steht und ich dort gerne wohnen kann. Später werde ich doch regelmäßig den Google-Übersetzer brauchen, aber die Küsse, das frische Obst und die warmen Suppen, die immer mal abends auf meinem Küchentisch stehen, verstehe ich auch so.
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