Bundestagswahl 2025

Atomkraft im Bundestagswahlkampf: Atommythen widerlegt

Das Ende der deutschen Atomstromproduktion zum 15. April 2023 ist ein Erfolg. Es ist ein Erfolg der erneuerbaren Energien und es ist der lang erstrittene Erfolg um die Deutungshoheit, den sich die Anti-Atom-Bewegung über Jahrzehnte erkämpft hat und der sich letztlich in politischer Einsicht und praktischem Handeln niedergeschlagen hat. Dennoch ist die atomkritische Deutungshoheit seit dem vollzogenen Ausstieg angekratzt. Mit unterschiedlicher Intensität sprechen sich einige Parteien in ihren Programmen für eine Rückkehr zur Atomkraft aus oder wollten sich zumindest die Option Atomkraft offen halten1. Im Wahlkampf wird die Atomkraft zum Zweck der Polarisierung und zur Abgrenzung vom politischen Gegner genutzt, auf Kosten eines Fokus auf die erneuerbare Energiewende. Im Folgenden entlarven wir die gängigsten Atommythen:

1. Unmöglich: Stopp des Rückbaus und Wiederinbetriebnahme der letzten deutschen AKW
Die Absicht, die Wiederinbetriebnahme der zuletzt abgeschalteten AKW zu prüfen, würde zunächst am geltenden Atomgesetz scheitern. AKW, deren Berechtigungen zum Leistungsbetrieb erloschen sind, müssen unverzüglich stillgelegt und abgebaut werden. Der Rückbau ist kostenintensiv, weitere Verzögerungen liegen nicht im Interesse der Betreiber, deren Anlagen sich derzeit mit jedem Tag des Rückbaus weiter von der technischen Machbarkeit einer Wiederinbetriebnahme entfernen. Sollte eine gesetzliche Grundlage für ein Wiederanfahren der Altanlangen geschaffen werden, müssten diese erheblich nachgerüstet werden und blieben dennoch weit hinter den Sicherheitsanforderungen zurück, die international an neue AKW gestellt werden. Die ehemaligen Atomkonzerne selbst lehnen dies aus betriebswirtschaftlichen Gründen ab. Der Betrieb von AKW ist teuer und nur mit hohen staatlichen Subventionen rentabel. Ein Abbruch des Rückbaus und eine Wiederinbetriebnahme der letzten deutschen AKW können daher als praktisch unmöglich angesehen werden.

2. Unbegründet: Versorgungssicherheit braucht Atomkraft
2024 war das erste volle Jahr ohne nukleare Stromerzeugung in Deutschland seit 1962. Deutlich mehr als die Hälfte der hiesigen Stromproduktion ist mittlerweile erneuerbar. Der Wegfall der nuklearen Erzeugungskapazitäten, die in ihrem letzten Betriebsjahr nur noch gut sechs Prozent der deutschen Stromerzeugung lieferten, ist energetisch längst durch erneuerbare Kapazitäten überkompensiert.2 Die Behauptung, das Festhalten am Ausstiegsplan nach dem sogenannten Streckbetrieb der letzten drei deutschen AKW habe die Versorgungssicherheit mit Strom in Deutschland gefährdet, ist falsch. Selbst wenn man von den bekannten Risiken der Atomkraft absieht, sind AKW mit den erneuerbaren Energien schlecht kompatibel und in einem zunehmend auf variable erneuerbare Energien ausgelegten Stromnetz nur teure Störfaktoren. Der wichtigste Schritt in Deutschland ist die weitere Dekarbonisierung des gesamten Energiesektors. Die Sicherheit der Stromversorgung wird nicht durch die Atomenergie gewährleistet, sondern durch den Ausbau von erneuerbaren Energien und Speicherkapazitäten.

3. und 4. Unerprobt: Small Modular Reactors und „neue“ AKW-Generationen
Unter dem Stichwort „Technologieoffenheit“ wird in einigen Parteiprogrammen auf zukünftige Atomkraftwerke der sogenannten „4. Generation“ sowie auf Small Modular Reactors (SMR) gesetzt. Diese Kraftwerke existieren nur als Konzeptstudien und wurden nirgendwo auf der Welt gebaut. Mit ihnen energiepolitische Planungen zu betreiben, ist daher unseriös. Glaubt man den Befürworter*innen der unterschiedlichen Reaktorkonzepte, die unter dem Begriff der 4. AKW-Generation zusammengefasst werden, lösen diese alle gängigen Probleme herkömmlicher AKW. Demgegenüber stehen die seit Jahrzehnten erfolglosen Versuche, solche Konzepte zu entwickeln. Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten Small Modular Reactors (SMR). Die Kluft zwischen dem Hype um SMRs und der Realität wird immer größer.3 Im Gegensatz zu den politischen Bekenntnissen zur Entwicklung kleiner in Serie zu bauender Reaktoren und den steigenden Investitionen in diesem Bereich werden die tatsächlichen SMR-Projekte massiv überteuert und verzögert oder ganz eingestellt. Wie im Nuklearbereich üblich, ist auch bei den SMR der Dual-Use-Aspekt, d. h. auch militärische Einsatzmöglichkeiten für mobile Reaktoren ein zentrales Interesse, diese Konzepte überhaupt weiterzuverfolgen.

5. Unfug: Atomkraft hilft beim Klimaschutz
Die Option Atomenergie wird in einigen Wahlprogrammen auch im Zusammenhang mit den Klimazielen genannt und als klimafreundliche Energiequelle dargestellt. Dabei verursacht Atomenergie im Vergleich zu Wind- und Solarenergie unter Berücksichtigung der jeweiligen Produktionsketten höhere Emissionen. Bei sinkenden Erzgehalten steigen derweil die CO2-Emissionen, die im Uranbergbau anfallen. Schon die Formulierung „als Option“ offenbart einen weiteren zentralen Fehler der Argumentation. Denn es ist unstrittig, dass den bereits spürbaren Auswirkungen der Klimakrise mit sofortigen Maßnahmen begegnet werden muss. Der erfolgreiche Weg einer Energiewende, die auf die vorhandenen und bereits skalierbaren Technologien der erneuerbaren Energien setzt, kann durch einen Wiedereinstieg in die Atomenergie nur gebremst werden. Atomkraft ist und bleibt zu schmutzig, zu gefährlich, zu teuer und zu langsam, um einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.4

6. Unwahr: Alle Welt setzt auf Atomkraft 
Der hiesige Atomausstieg wird oft als deutscher Sonderweg bezeichnet, verbunden mit der Behauptung, dass weltweit immer mehr auf Atomkraft gesetzt werde. Das ist schlicht falsch. Der Trend geht weltweit zu den erneuerbaren Energien. Im Jahr 2023 erreichten die Gesamtinvestitionen in erneuerbare Stromkapazitäten ohne Wasserkraft den Rekordwert von 623 Milliarden US-Dollar. Das ist das 27-fache der weltweit gemeldeten Investitionsentscheidungen für neue AKW. Die Solar- und Windkraftkapazitäten stiegen um 73 % bzw. 51 % auf insgesamt 460 GW, während die AKW-Kapazitäten um 1 GW zurückgingen. Weltweit erzeugten Wind- und Solaranlagen 50 %mehr Strom als AKW.5 Die in Betrieb befindlichen AKW werden immer älter und damit gefährlicher. Das Durchschnittsalter der weltweit betriebenen Reaktoren lag Mitte 2024 bei 32 Jahren, mehr als ein Viertel der globalen Reaktorflotte läuft bereits seit mindestens 41 Jahren.6 Der Neubau von AKW konzentriert sich auf China und Russland, hinzu kommen wenige russische Neubauprojekte im Ausland. Die Neubaupläne in Frankreich wurden kürzlich vom Rechnungshof wegen der Kostenexplosion beim einzigen neuen AKW des Landes auf Eis gelegt.7

7. Unerreicht: Fusionskraftwerke
Den Aussagen und Programmpassagen zu Fusionskraftwerken ist keine energiepolitische Relevanz beizumessen. Es handelt sich allenfalls um Absichtserklärungen im Bereich der Forschungsförderung. Bereits 1955 verkündete der Physiker des indischen Atomprogramms, Homi Bhabha, als Leiter der ersten Genfer Atomkonferenz: „Ich wage die Voraussage, dass innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte eine Methode zur kontrollierten Freisetzung von Fusionsenergie gefunden werden wird. Wenn dies geschieht, werden die Energieprobleme der Welt für immer gelöst sein.“ Es gibt bis heute keine Fusionskraftwerke und auch keine realistische Aussicht auf diese, aber erhebliche Bedenken hinsichtlich der Proliferationsrisiken und der Dual-Use-Optionen, also der militärischen Nutzbarkeit von Erkenntnissen, im Zusammenhang mit der Fusionsforschung.8

Zusammengefasst:
Die Wiederinbetriebnahme abgeschalteter AKW in Deutschland ist faktisch keine Option. Die Befürworter*innen des Wiederanfahrens scheinen das zu wissen und fordern daher nur eine Prüfung, wohl wissend, wie diese ausfallen würde. Neubauten herkömmlicher AKW werden hierzulande kaum noch ins Spiel gebracht, stattdessen wollen einige Parteien auf unerprobte, unausgereifte und teilweise vermutlich nicht realisierbare AKW-Konzepte der 4. und 5. Generation, SMR und sogar Kernfusion setzen. Es scheint ihnen leichter zu fallen, sich eine postfossile Welt mit einer utopischen Energiequelle vorzustellen als eine nachweislich machbare Energieversorgung mit 100 % erneuerbaren Energien auf der Basis funktionierender und effizienter Technologien. 
Anders als verschiedentlich behauptet, ist die Atomenergie weltweit nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Ihre großen und dominierenden Treiber sind und bleiben die Atomwaffenstaaten. Gerade deshalb bleibt es wichtig, der Rhetorik einer vermeintlichen nuklearen Renaissance argumentativ entgegenzutreten und einer Normalisierung dieses Pro-Atom-Diskurses vorzubeugen.

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Patrick Schukalla ist Referent der IPPNW für Atomausstieg, Energiewende und Klima

 

1 https://www.politikwechsel.cdu.de/sites/www.politikwechsel.cdu.de/files/docs/politikwechsel-fuer-deutschland-wahlprogramm-von-cdu-csu-1.pdf  / https://www.fdp.de/sites/default/files/2024-12/fdp-wahlprogramm_2025.pdfhttps://www.afd.de/wp-content/uploads/2025/02/AfD_Bundestagswahlprogramm2025_web.pdf

2 https://www.ise.fraunhofer.de/de/presse-und-medien/presseinformationen/2025/oeffentliche-stromerzeugung-2024-deutscher-strommix-so-sauber-wie-nie.html

3 https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2024-v2.pdf, S.343 ff.

4 https://dont-nuke-the-climate.org/mission-statement/de / https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/informationsblatt_atomenergie.pdf

5 https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2024-v2.pdf, S.20

6 https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2024-v2.pdf, S.24

7 https://www.energiezukunft.eu/wirtschaft/franzoesischer-rechnungshof-kritisiert-kernkraftausbau

8 https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000177720 S. 69 ff.

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Patrick Schukalla
Referent Atomausstieg, Energiewende und Klima
Email: schukalla[at]ippnw.de

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