11 Jahre nach dem Super-GAU

Die Katastrophe ist noch immer aktuell

Ein Artikel von IPPNW-Mitglied Dr. med. Jörg Schmid

Die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe

Nach dem schweren Erdbeben in Japan und dem folgenden dreifachen Super-GAU in der Atomanlage Fukushima-Daiichi sind elf Jahre vergangen. Die ehemaligen Evakuierungsgebiete sind zwar offiziell wiederbesiedelt, in einigen Orten sind aber nur ca. 30 % der Evakuierten zurückgekehrt – überwiegend ältere Menschen. Die Wiederbesiedlung ist unterhalb eines Strahlengrenzwertes von <20 mSv/a vorgesehen, obwohl die international geltenden Regeln für die Normalbevölkerung einen Grenzwert von <1mSv/a vorschreiben. Indem die japanische Regierung an der Notstandsverordnung in diesen Gebieten festhält, nimmt sie die mögliche gesundheitliche Gefährdung der Bewohner*innen bewusst in Kauf. Fukushima ist weit entfernt von jeglicher Normalität.

Vierte und fünfte Untersuchungsreihe „kindlicher Schilddrüsenkrebs“

Im Oktober 2021 wurden neue Studiendaten (Stichtag 30. Juli 2021) aus der vierten und fünften Runde der SD-Reihenuntersuchung bei Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre in der Präfektur Fukushima veröffentlicht (1). Begonnen hatte die erste Untersuchungsreihe („Baseline“) in den Jahren 2011-2013, mit der die Prävalenz festgestellt wurde. Es fanden sich 115 Krebs- oder Krebsverdachtsfälle. Allerdings nahmen von den ca. 380.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen, die zum Zeitpunkt der nuklearen Havarie in der Präfektur Fukushima lebten, nur ca. 300.000 Kinder (82 %) am Baseline-Screening teil. Die Studienteilnahme sank mit jedem Survey weiter ab, in der vierten Runde (2018-2019) auf nur noch 62%. Aktuell hat die Covid-Pandemie die zeitlichen Planungen deutlich verzögert, der vorgesehene 2-Jahres-Turnus der Reihenuntersuchung konnte zuletzt nicht mehr aufrechterhalten werden. So wurde erst bei knapp 12 % der Kinder der fünften Runde das Screening durchgeführt. Diese letzten Daten sind daher noch nicht auswertbar. Die japanische Regierung hat wohl mit Absicht darauf verzichtet, eine entsprechende Studie in einer nicht vom Fallout betroffenen Region durchzuführen. Damit fehlt grundlegend ein Vergleichsmaßstab zur Auswertung der Reihenuntersuchung in Fukushima.

Deutliche Zunahme der SD-Krebserkrankungen

Dennoch: die Inzidenz von SD-Krebs betrug in Jpaan vor dem Super-GAU bei Personen unter 25 Jahren 0,59/100.000/a.

Nach den jetzt vorgestellten offiziellen Zahlen wurden allein im Zeitraum 2014 bis 2019 bei insgesamt 138 Kindern und Jugendlichen Krebs-/Krebsverdachtsfälle dokumentiert. Damit wären, bezogen auf das Untersuchungskollektiv von 300.000 Kinder, in dieser Zeit ca, 11 erkrankte Kinder zu erwarten gewesen (1,77 Erkrankte x 6 Jahre = 10,6).

Tabelle 1. Ergebnisse für die SD-Inzidenz in den Survey-Runden 2 bis 4

 

Survey-Runde2345
Zeitraum2014-152016-172018-192020-21 (?)

Maligne oder

verdächtige Befunde

713136bisher 3
Teilnehmer*innen270.552217.922183.352bisher 32.404
Personen-Jahre (PY)541.104435.844366.704-
Inzidenz per 100.000*13,17,19,8-

* Inzidenz = Zahl der SD-Krebsfälle, geteilt durch Zahl der Personen-Jahre

Die aktuellen Inzidenzen sind um den Faktor 17,4 höher als erwartet (10.3/0.59=17.4).
Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass aus der Studie diejenigen Kinder, die zwischen den Screenings untersucht oder operiert werden bzw. an externen Kliniken operiert werden, herausfallen. Hinzu kommen noch diejenigen, die in die Altersklasse >25 hinüber gewachsen sind (2). Selbst Veröffentlichungen der Universität Fukushima (3) sprechen von einer 30-fachen Steigerung der Erkrankungszahl, begründen dies aber mit dem sog. Screening-Effekt, der Krebs-Frühstadien wegen der hohen Nachweisempfindlichkeit sichtbar macht, die sonst unentdeckt geblieben oder erst nach Jahrzehnten aufgefallen wären.

Insgesamt deuten die Erkrankungszahlen auf einen kausalen Zusammenhang mit der Exposition der Kinder mit radioaktivem Jod hin. Bereits 2017 hatte Körblein die Daten der zweiten Survey-Runde auf eine Abhängigkeit der SD-Inzidenz von der Entfernung vom AKW Fukushima Daiichi untersucht (4). Die Inzidenz stieg dabei signifikant mit der Nähe zum AKW an; im Nahbereich (evakuierte Zone) war sie mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Präfektur. Fahrlässigerweise hat die japanische Regierung die vorhandenen Jodtabletten unmittelbar nach dem Super-GAU nicht an die Bevölkerung ausgegeben – sie trägt damit eine Mitverantwortung für jedes einzelne, durch den radioaktiven Fallout erkrankte Kind.

Krankheitsbild Hydrocephalus

Eine 2021 von Prof. Yamada veröffentlichte Studie (5) untersuchte in 12 Präfekturen Ost-Japans die Zahl der Neugeborenen mit Hydrocephalus (Zeitraum 2011 bis 2017). Verglichen mit den Daten vor dem Super-GAU, fand sich durchweg eine Erkrankungs-Zunahme um den Faktor 2,2 bis 4,7. In der Präfektur Saitama konnte aufgrund einer dortigen pädiatrischen Spezialabteilung sogar eine 20-fache Steigerung festgestellt werden. Ähnliche Untersuchungen aus der Ukraine wiesen nach Tschernobyl eine vergleichbare Zunahme an Hydrocephali (2 bis 7,5 -fach) nach. Als Verursacher wird das radioaktive Isotop Tellur angesehen, dessen zusätzliche chemotoxische Schädlichkeit auch im Tierversuch nachgewiesen ist.

Solidarität mit den Betroffenen

Die psychosoziale Belastung der Menschen vor Ort als auch derjenigen, die weiter in der Evakuierung leben, ist anhaltend hoch. Sie leiden unter seelischen Belastungsreaktionen wie Depressionen oder Angststörungen. In der aktuellen Debatte um den Klimaschutz wird von den AKW-Befürwortern die relative C02-Armut der Atomtechnologie in den Vordergrund geschoben. Das Leiden der Menschen nach einem Super-GAU wird von ihnen ausgeblendet, verharmlost oder verleugnet. Auch deshalb muss unsere volle Solidarität den von der Radioaktivität betroffenen Menschen in Japan gelten. Wir müssen weiterhin deren Schicksal in der Öffentlichkeit sichtbar machen.

Protest gegen die Verklappung radioaktiven Kühlwassers

Die japanische Regierung hat dem Energieversorger TEPCO die Genehmigung erteilt, ab dem Frühjahr 2023 ca. 1,3 Millionen Tonnen radioaktiv-kontaminiertes Wasser in den Pazifik am Standort Fukushima Daiichi zu verklappen-
Die havarierten Atomreaktoren müssen weiterhin von außen ununterbrochen mit täglich ca. 140 t Wasser gekühlt werden, um eine nukleare Kettenreaktion zu verhindern. Im Inneren der Reaktorkerne herrschen mit ca. 42 Sv tödliche Strahlungswerte, was auch die Arbeit mit technischem Gerät unmöglich macht. Das radioaktiv verunreinigte Kühlwasser wird in Tanks gepumpt, deren Stellfläche bei mittlerweile über 1.000 Großtanks knapp wird. Statt z.B. weitere Gelände-Bereiche zuzukaufen, darf TEPCO die Tanks über eine einen Kilometer lange Abwasserleitung zukünftig direkt in den Pazifik entleeren – die kostengünstigste Variante für den, durch den Super-GAU völlig überschuldeten Energieversorger.
Das Kühlwasser soll zwar vorher ein Dekontaminierungsverfahren durchlaufen, das aber ineffizient ist – die Filterwirkung lag zuletzt bei knapp 30 % der Gesamtradioaktivität. Bei der Verklappung setzt Japan ganz auf das Verdünnungspotential des Pazifiks. Es wundert nicht, dass die japanischen Küstenfischer*innen und die Anrainerstaaten, insbesondere Südkorea und China, dagegen protestieren (6).
Aber auch ohne die direkte Verklappung gelangt täglich kontaminiertes Grundwasser in den Ozean. Auch weist die technisch aufwendig als Barriere gebaute Eismauer um die zerstörten Reaktoren immer wieder Löcher auf, zuletzt im November 2021.

Die Lehren Fukushimas sind weiter brandaktuell
Vergessen dürfen wir bei allem nicht: Weiterhin liegt über Fukushima das Damoklesschwert einer erneuten schweren radioaktiven Verseuchung durch das am Standort noch vorhandene hochradioaktive Inventar. Auch der aktuelle Krieg in der Ukraine mahnt, die Lehren Fukushimas nicht zu vergessen: Atomkraftwerke stellen immer eine Gefahr dar.


Literatur:
(1) www.pref.fukushima.lg.jp/uploaded/attachment/475149.pdf
(2) fukushimavoice-eng2.blogspot.com
(3) K. Kamiya, Health management and care following the Fukushima nuclear power plant accident: overview of Fukushima Health Management Survey, 5.2021 (https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/01466453211015402 )
(4) Körblein A. Medicine Correspondence Blog, November 16, 2017. (https://journals.lww.com/md-journal/Blog/MedicineCorrespondenceBlog/pages/post.aspx?PostID=67)
(5) zwanzigeinundzwanzig.files.wordpress.com/2021/12/radioaktives-wasser-ablassen-und-gesundheit-der-kinder-in-fukushima.pdf
(6) www.bi-luechow-dannenberg.de/2021/04/14/fukushima-daiichi-verstrahltes-kuehlwasser-soll-verklappt-werden/

Anmerkung: dieser Text erschien ebenfalls in leicht abgeänderter Form in unserre Mitgliederzeitschrift IPPNW-Forum.

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Ansprechpartner


Patrick Schukalla
Referent Atomausstieg, Energiewende und Klima
Email: schukalla[at]ippnw.de

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