Statement des NGO-Forums der UN-Frauenrechtskommission

Erklärung zur erhöhten Bedrohung durch eine nukleare Katastrophe als Folge des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine

Die Teilnehmer*innen des NGO-Forums der 66. Sitzung der UN-Frauenrechtskommission kamen am 25. März 2022 zusammen, um ihre Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck zu bringen und die Gefahr einer nuklearen Katastrophe für die Welt zu diskutieren und darauf aufmerksam zu machen. Es wurde vereinbart, eine Erklärung an alle Beteiligten zu senden, um das Bewusstsein für dieses kritische Thema zu schärfen.


Wir, die Unterzeichnenden, bringen unsere äußerste Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Aktionen der Russischen Föderation seit dem 24. Februar, die eine Eskalation eines unprovozierten und brutalen Angriffskrieges gegen die Ukraine darstellen, zu einer unhaltbaren Situation globaler Gefahr geführt haben. Die Inbesitznahme des Kernkraftwerks Tschernobyl und der Sperrzone am 24. Februar 2022 durch russische Truppen sowie die Inbesitznahme des südostukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja am 3. März 2022 haben die Ukraine, die Nachbarländer und möglicherweise die Welt einer katastrophalen nuklearen Bedrohung ausgesetzt.

 
Nach wiederholten Bitten um einen Besuch in der Ukraine begrüßen wir, dass der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), Rafael Mariano Grossi, die Erlaubnis erhalten hat, in die Ukraine zu reisen, um die dringend benötigte technische Unterstützung zu erörtern, die die Sicherheit der ukrainischen Atomanlagen gewährleisten und dazu beitragen soll, das Risiko eines Unfalls abzuwenden, der alle Nationen und die Umwelt gefährden könnte. Zwei der ukrainischen Atomanlagen befinden sich jedoch nach wie vor unter der vollständigen Kontrolle des russischen Militärs.


Wir fordern, dass die Expert*innen der IAEO sofortigen und ungehinderten Zugang zu allen Nuklearanlagen in der Ukraine sowie Zugang zu allen erforderlichen Informationen erhalten. Die russischen Streitkräfte müssen sich unverzüglich und vollständig aus der Ukraine zurückziehen, damit eine vollständige Risikobewertung der ukrainischen Nuklearanlagen vorgenommen und Abhilfemaßnahmen ergriffen werden können, um den internationalen Standards für nukleare Sicherheit und Sicherung zu entsprechen.


Die unverantwortlichen Handlungen der russischen Besatzungstruppen haben die physische Unversehrtheit der Kernreaktoren einschließlich ihrer Stromversorgung beeinträchtigt, wesentliche Managementroutinen einschließlich der Rotation des Arbeitspersonals gestört, Sicherheitskontrollen einschließlich der Strahlungsüberwachungssysteme außer Kraft gesetzt und den lebenswichtigen Informationsfluss unterbrochen, was eine sorgfältige Überwachung der Gesamtstabilität der fünfzehn ukrainischen Reaktoren verhindert.


Am 2. März 2022 skizzierte der Generaldirektor der IAEO, Rafael Mariano Grossi, sieben unverzichtbare Säulen der nuklearen Sicherheit und Sicherung, von denen viele in der Ukraine verletzt wurden:


1) Die physische Unversehrtheit der Anlagen - seien es Reaktoren, Brennelementbecken oder Lager für radioaktive Abfälle - muss aufrechterhalten werden.
Als Folge der russischen Militäraktivitäten sind das Kernkraftwerk Tschernobyl und das gesamte Gebiet der Sperrzone gefährdet. Der Transport und die Lagerung von Waffen in diesem Gebiet würden im Falle einer Explosion zu einer Katastrophe von bisher ungekanntem Ausmaß führen. Die Waldbrände, die im Gebiet von Tschernobyl, das etwa 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew liegt, natürlicherweise auftreten, werden derzeit durch die trockene Witterung verschärft, wodurch die Gefahr des Erreichens von Lagerstätten für abgebrannte Brennelemente und von Anlagen zur Entsorgung radioaktiver Abfälle steigt. In der Nähe des Kernkraftwerks Saporischschja im Südosten der Ukraine haben russische Truppen Bomben gezündet, die in die Wände benachbarter Gebäude auf dem Gelände eingebettet waren.


2) Alle Sicherheits- und Sicherungssysteme und -ausrüstungen müssen zu jeder Zeit voll funktionsfähig sein.
Der Betrieb des Kernkraftwerks Tschernobyl wurde am 24. Februar 2022 unterbrochen, was in der internationalen Gemeinschaft große Besorgnis auslöste.


3) Das Betriebspersonal muss in der Lage sein, seine Sicherheits- und Sicherungsaufgaben zu erfüllen und ohne unangemessenen Druck Entscheidungen zu treffen.
Vom 26. Februar bis zum 21. März 2022 wurde dem Personal des Kernkraftwerks Tschernobyl die Rotation verweigert, obwohl am 20. März eine Teilrotation erlaubt wurde. Das Personal steht unter Stress, wird von russischen Truppen schikaniert und überwacht.


4) Für alle Nuklearstandorte muss eine gesicherte, externe Stromversorgung aus dem Netz bestehen.
Nach Angaben von Ukrenergo, dem wichtigsten Energieversorger der Ukraine, wurde die Stromversorgung des Kernkraftwerks Tschernobyl am 9. März 2022 unterbrochen, weil russische Truppen die Stromleitungen beschädigt hatten. Die Kämpfe in der Region verhinderten Reparaturarbeiten an den Stromleitungen. Die Stromversorgung wurde schließlich mit Hilfe von dieselbetriebenen Generatoren wiederhergestellt, so dass die Kühlung der Wasserbecken, die die abgebrannten Brennelemente umgeben, fortgesetzt werden konnte; eine unzureichende Stromversorgung kann jedoch zu katastrophalen Schäden führen.


5) Es muss ununterbrochene logistische Versorgungsketten und Transporte zu und von den Standorten geben.
Aufgrund der militärischen Besetzung und der anhaltenden Kämpfe in der Region können derzeit weder die Ukraine noch die internationale Gemeinschaft eine kontinuierliche Versorgungskette für das Kernkraftwerk Saporischschja garantieren. Besorgniserregend ist auch die unzureichende Ausbildung der russischen Besatzungstruppen, die die potenziellen Gefahren unterschätzt haben.


6) Es müssen wirksame Systeme zur Überwachung der Strahlung vor Ort und außerhalb der Anlage sowie Maßnahmen zur Vorbereitung auf Notfälle und zur Reaktion darauf vorhanden sein.
In einem am 23. März 2022 von der staatlichen ukrainischen Agentur für die Verwaltung der Sperrzone veröffentlichten Bericht heißt es: "Die russischen Besatzer haben das moderne Zentrale Analyselabor in Tschernobyl geplündert und zerstört, ein einzigartiges System mit leistungsstarken Analysefähigkeiten, das in jeder Phase der Entsorgung radioaktiver Abfälle, von der Klimatisierung bis zur Entsorgung, sowie in der Forschung und Technologieentwicklung eingesetzt werden kann. Gegenwärtig sind wesentliche Überwachungsinformationen nicht verfügbar.


7) Es muss eine zuverlässige Kommunikation mit der Aufsichtsbehörde und anderen Stellen geben.
Die Kommunikation zwischen den russischen Besatzern und den ukrainischen Atomaufsichtsbehörden ist aufgrund der Konfliktsituation, die durch die unzureichende Ausbildung der Besatzungstruppen verschärft wird, unzuverlässig. Am 11. März 2022, kurz nachdem die Stromversorgung des Kernkraftwerks Tschernobyl unterbrochen worden war, teilte die ukrainische Regierung der IAEO mit, dass die gesamte Kommunikation ausgefallen sei. Bis dahin hatten die Mitarbeiter*innen des Kraftwerks per E-Mail mit den ukrainischen Aufsichtsbehörden kommuniziert.


Insgesamt stellen diese Verstöße gegen die sieben unverzichtbaren Säulen der nuklearen Sicherheit eine ernste Bedrohung dar, die von der internationalen Gemeinschaft dringend angegangen werden muss. Wir fordern, dass der IAEO ungehinderter Zugang zu allen kerntechnischen Anlagen in der Ukraine sowie zu den Informationen gewährt wird, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die fünfzehn Atomkraftanlagen, zu denen auch das größte Kernkraftwerk in Europa gehört, sicher betrieben und verwaltet werden. Es ist zwingend erforderlich, dass Russland sich unverzüglich aus der Ukraine zurückzieht und diese unprovozierte Aggression beendet.

Englische Originalversion

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Materialien

Öffentliches Fachgespräch im Bundestag zum Thema „Austausch über die Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie die aktuelle Situation in Saporischschja“ vom 15. März 2023

Statement von Dr. Angelika Claußen "Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – zivil wie militärisch"

Titelfoto: Stephi Rosen
IPPNW-Forum 174: Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter für die Anti-Atom-Bewegung?
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IPPNW-Information: Radioaktive „Niedrigstrahlung“. Ein Blick auf die Fakten (PDF)

IPPNW Forum: 10 Jahre Leben mit Fukushima
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