Wenn am 21. Januar 2023 um 13 Uhr vor dem AKW in Lingen für den Atomausstieg demonstriert wird, dann geht es nicht nur um die unnützen und gefährlichen AKW-Laufzeitverlängerungen. Denn nur wenige hundert Meter weiter arbeitet der Brennelementehersteller Framatome an einer massiven atomaren Ostexpansion. Dazu möchte das französische Staatsunternehmen – mehrheitlich eine Tochter von Électricité de France (EdF) – die Atomanlage sogar ausbauen. Ein entsprechender Genehmigungsantrag liegt im Hannoveraner Umweltministerium.
Diese Ostexpansion beruht auf zwei Säulen: Zum einen bezieht Framatome im Auftrag diverser AKW-Betreiber in Westeuropa, z.B. aus der Schweiz, nach einer kurzen Kriegspause wieder in vollem Umfang Uran aus Russland. Geschäftspartner dort ist der Kreml-Konzern Rosatom, der für die russische Regierung das global-strategische Atomgeschäft organisiert. Zugleich ist Rosatom aber auch direkt am völkerrechtswidrigen Besatzungsregime im ukrainischen AKW Saporischschja beteiligt, das im vergangenen Frühjahr von russischen Truppen besetzt wurde.
Forderungen aus der Anti-Atom-Bewegung und von der russischen Umweltorganisation Ecodefense, die Urangeschäfte mit Russland umgehend zu stoppen, wurden von der Bundesregierung bislang unter Verweis auf fehlende EU-Sanktionen zurückgewiesen. Doch Anfang Januar forderte erstmals auch der ukrainische Regierungschef genau solche Sanktionen. Die Umsetzung bleibt abzuwarten, da sich die französische Regierung in dieser Frage bislang aus Eigeninteresse zusammen mit Ungarn und einigen anderen osteuropäischen Staaten querstellt.
Angeliefert wird das Uran für Lingen mit dem russischen Atomfrachter "Mikhail Dudin" via Rotterdam und Dünkirchen. Auch in die andere Richtung liefert Framatome. Mitte Dezember ging eine Ladung Brennstäbe via St. Petersburg nach Kasachstan – und von dort nach der Endmontage weiter nach China. Sogar der Spiegel berichtete über diese neue dubiose Geschäftsverbindung.
Im Dezember wurde dann auch die zweite Säule von Framatomes Ostexpansion bekannt. Schon vor einem Jahr hatte der Atomkonzern mit Rosatom in Lingen ein Joint Venture gründen wollen. Ziel war die gemeinsame Versorgung von osteuropäischen AKWs mit Brennelementen, die dann mit EU-Zertifikat auch vor jeglichen EU-Sanktionen geschützt wären. Dieses Projekt fiel beim Einmarsch Russlands in die Ukraine zunächst durch.
Doch Frankreichs staatliche Atomindustrie ist beharrlich. Wie die Neue Osnabrücker Zeitung recherchierte, soll das Joint Venture nun in Frankreich registriert werden. Rosatom soll Framatome dabei helfen, in Zukunft für Tschechien und Bulgarien "russische" Brennelemente herzustellen.
Groteskerweise begrüßte der neue niedersächsische Umweltminister Christian Meyer im Dezember diese Atompläne, weil sie Europa angeblich von Russland unabhängiger machen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Ein Joint Venture jeglicher Art bedeutet eine Vertiefung der atomaren Geschäftsbeziehungen mit dem Kreml. Und: Der Aufbau einer Produktionslinie für "russische" Brennelemente in Lingen erfordert den technischen Support von Rosatom – insbesondere, wenn es schnell gehen soll. Es ist also damit zu rechnen, dass bei Genehmigung schon bald russische Atomspezialisten auch in Lingen auftauchen, um Framatome zu "helfen" – ein Horrorszenario. Zudem ist nicht zu vergessen, dass Rosatom auch weiterhin das Uran für die Brennelemente liefern möchte.
Wie eng Framatome noch immer mit Rosatom zusammenarbeitet, zeigt sich schon daran, dass die strategische Kooperationsvereinbarung vom Dezember 2021 von der französischen Regierung nicht aufgekündigt wurde. So arbeitet man weiter gemeinsam z. B. am Bau des Rosatom-AKW im ungarischen Paks – mit Technik von Framatome Erlangen und Bauteilen von Siemens Energy. Und auch für die Kasachstan-/China-Geschäfte braucht Framatome das Wohlwollen Russlands, da für diese Urantransporte ein Transit notwendig ist. Energie-Unabhängigkeit sieht anders aus.
Und was sagt die Bundesregierung zu alledem? Man bemühe sich um einheitliche EU-Sanktionen, so das Bundesumweltministerium. Aber eigentlich befürworte man die Stilllegung der Brennelementefabrik Lingen und der Urananreicherungsanlage Gronau, damit der Atomausstieg in Deutschland "glaubwürdig" vollzogen werde. Das ist ein hehres Ziel, doch dafür müsste das Bundesumweltministerium als erstes die Genehmigung für weitere Russland-Geschäfte verweigern, sodann den Ausbau von Framatome Lingen verhindern und zugleich einen Gesetzesentwurf zur Stilllegung der beiden Atomanlagen vorlegen. In Lingen und in Gronau gibt es atompolitisch auch in 2023 noch sehr viel zu tun.
Matthias Eickhoff, Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen
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