Die Schweiz ist dabei, das AKW Leibstadt an der Grenze zu Baden-Württemberg für den Betrieb über 40 Jahre hinaus vorzubereiten. Der kommerzielle Betrieb startete im Dezember 1984. Baubeginn war im Januar 1974. International gibt es viele Regelwerke und Rechtsvorschriften, die für so einen Fall mindestens eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) und eine grenzüberschreitende Öffentlichkeitsbeteiligung verlangen. Davon aber will die Schweiz nichts wissen. Da es keine Betriebsbefristung in der Genehmigung gibt, erfolge auch keine Laufzeitverlängerung, so der Schweizer Umwelt-Bundesrat. Daher haben bereits im Februar Bürger*innen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland ein rechtliches Gesuch auf den Weg gebracht, um eine solche UVP und Beteiligung durchzusetzen. Bislang liegt eine Reaktion der Schweizer Behörden nicht vor. Unterstützt werden diese Initiativen unter anderem von der Schweizer Energie Stiftung (SES), vom Trinationalen Atomschutzverband (TRAS), von Greenpeace und IPPNW Schweiz sowie vom BUND RSO.
“1.5 Milliarden Franken hat das Kernkraftwerk Leibstadt in den vergangenen 40 Jahren in das Werk investiert. Für den Betrieb der kommenden 20 Jahre soll noch einmal eine Milliarde Franken dazukommen”, heißt es zu den Plänen für die anstehenden Nach- bzw. Aufrüstungen im AKW Leibstadt beim Schweizer Radio und Fernsehen (SFR). Und zumindest auf ein Problem verweist der SFR: “Grundsätzlich könne man alle Teile des AKWs ersetzen oder modernisieren, heißt es in Leibstadt. Es gebe allerdings eine Ausnahme: der Reaktordruckbehälter, der bleibt.”
In dem rechtlichen Gesuch aus dem Februar 2024 begründen die Anwälte im Auftrag von Anwohner:innen aus der unmittelbaren Nachbarschaft des AKW Leibstadt die Forderung nach einer UVP und grenzüberschreitenden Öffentlichkeitsbeteiligung damit, dass die Schweiz viele der entsprechenden Regelwerke übernommen und ratifiziert hat. Als bedeutsame Rechtsnormen werden das „Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen (Übereinkommen von Espoo)“ sowie das Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Konvention) von den Anwälten genannt, die die Schweiz auch als Nicht-EU-Staat entsprechend verpflichten. Beide genannten Übereinkommen, so heißt es im Gesuch, sind von der Schweiz ratifiziert worden. Die Forderungen richten sich an das “Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation” (UVEK) in Bern.
Doch nicht nur in diesen Übereinkommen zur UVP und Öffentlichkeitsbeteiligung sind Grundsätze bindend formuliert. Zusätzlich sind sicherheitstechnische Anforderungen an einen Atomreaktor mit einer Laufzeit von mehr als 40 Jahren zu stellen. Diese müssten öffentlich nachprüfbar sein. Auch hier gilt, dass der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik Maßstab einer Bewertung sein muss. Hinzu kommt, dass neben dem Alter der Anlage auch neue Anforderungen entstanden sind, denen ein Altreaktor nicht gewachsen wäre und die daher in einer Gesamt-Perspektive zu prüfen wären: Neue Herausforderungen haben sich z. B. in Verbindung mit möglichen Terrorangriffen (USA 9. September 2011, IS und andere) herausgebildet und gegen einen (gezielten) Angriff mit Verkehrsflugzeugen oder panzerbrechenden Waffen sind diese Reaktoren nicht ausreichend geschützt. Seit dem Krieg Russlands in der Ukraine ist außerdem klar geworden, dass auch Angriffe mit Kriegswaffen nicht mehr auszuschließen sind.
In der Berliner Morgenpost hatte die Präsidentin des Bundesamts für Strahlenschutz, Inge Paulini – nicht zum ersten Mal – vor den nuklearen Gefahren gewarnt, die Deutschland auch trotz des Atomausstiegs weiterhin bedrohen: “Strahlung macht an den Grenzen nicht halt. In vielen Nachbarländern bleiben die Atomkraftwerke am Netz, es werden sogar noch neue gebaut. Hinzu kommen Bedrohungsszenarien, die lange vergessen waren. Die Bedrohungslage hat sich verändert, das Risiko ist aber nicht geringer geworden”. Damit könnte sie möglicherweise auch die Laufzeitverlängerung in der Schweiz im Blick gehabt haben. Weiter sagte Paulini in dem Interview: “Wir müssen uns auf Unfälle in ausländischen Atomanlagen einstellen, auf Probleme beim Transport von radioaktivem Material und auf terroristische Anschläge. Zudem wird wieder offen mit dem Einsatz von nuklearen Waffen gedroht. Wir beobachten natürlich auch genau, was in den ukrainischen Atomanlagen passiert – etwa rund um das Kernkraftwerk in Saporischschja.”
Vor diesem Hintergrund bekommt eine Studie von Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins (TH Brandenburg) Bedeutung. In seiner „Studie zu den Sicherheitsdefiziten des Schweizer AKW Leibstadt (Defizit-Studie KKL)” aus 2021 listet er in einer umfangreichen Analyse zahlreiche Mängel und Schwachstellen aufgezeigt. Für Mertins ist nach einer umfangreichen Faktenanalyse und Bewertung klar, dass es erhebliche Gründe für eine umfassende UVP und Beteiligung der Öffentlichkeit gibt, um zu entscheiden, ob die Gesellschaftl die damit verbundenen Risiken tatsächlich eingehen will.
- Die Studie von Mertins ist z. B. hier bei der Schweizer Energie Stiftung (SES) als PDF online. (Siehe auch direkt hier als PDF)
- Außerdem hier eine neuere, von der “International Nuclear Risk Assessment Group” (INRAG) vorgelegte Studie, an der Mertins ebenfalls beteiligt war: „Abschätzung notwendiger Investitionen für einen Langzeitbetrieb der schweizerischen Kernkraftwerke“, Autor:innen: Friederike Frieß, Manfred Mertins, Stephen Thomas, Nikolaus Müllner. Siehe hier bei INRAG als PDF, siehe auch direkt hier als PDF.)
Wie sich die Strahlung nach einem Unfall in einem Schweizer Atommeiler ausbreiten würde, hatte die IPPNW Schweiz bereits 2019 mit einer Studie „EUNUPRI2019 – European Nuclear Power Risk Study“ von Dr. Frédéric-Paul Piguet und anderen vom Institut Biosphère (Interdisziplinäres Forschungsinstitut) untersuchen lassen. Siehe auch direkt hier die englische Fassung als PDF. Die Studie ist in verschiedenen Sprachen hier zu finden, – die englische Fassung ist hier als PDF. Dabei wurden mehrere Reaktoren und der Verlauf einer Freisetzung von radioaktiver Strahlung nach einem Kernschmelzunfall analysiert, insbesondere auch für das AKW Leibstadt.
Die Studie kommt zum Ergebnis, dass die Folgen schwerer Nuklearunfälle größer als bislang angenommen und nicht nur auf die Schweiz begrenzt wären. Insbesondere zeigt die Studie auch mit Blick auf das hier in Rede stehende AKW Leibstadt auf, dass die Auswirkungen eines schweren Störfalls in der Schweiz in besonderer Weise die Bevölkerung in Baden-Württemberg und darüber hinaus treffen würden.
- Wie sehr die Bevölkerung in der Bundesrepublik betroffen wäre, wenn es im AKW Leibstadt zu einem Störfall mit Freisetzung von Radioaktivität käme, ist im Rahmen der Studie auf Grundlage der Daten auch visuell dargestellt. Hier ist das Video aus der Studie zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=5ggq_7qyc9o
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima, wo mehrere Atomreaktoren nach einem Versagen der Notstrom-Versorgung explodierten, hatte das Bundesamts für Strahlenschutz in der Bundesrepublik Deutschland die Ausbreitung der radioaktiven Wolke analysiert und auf bundesdeutsche und europäische Verhältnisse übertragen und angepasst. Bestimmte Eckdaten dieser Szenarien sind seinerzeit auch kritisiert worden, weil sie teilweise reduzierte Annahmen machte. Dennoch kam die Studie des BfS damals zu dem Ergebnis, dass noch in einer Entfernung von bis zu 170 Kilometern vom Unglücksreaktor entfernt, Evakuierungen notwendig sein können und damit Gebiete langfristig nicht bewohnbar wären. Das BfS hat die Studie hier als PDF veröffentlicht.
Die noch älteren Atomreaktoren in Gösgen und Beznau sind bereits vor einigen Jahren in die Betriebsphase +40 getreten, ohne das die Schweiz auf die Forderungen, mindestens eine UVP durchzuführen und die Öffentlichkeit grenzüberschreitend einzubeziehen und eine demokratische und transparente Diskussion zu ermöglichen, eingegangen ist. Auch in Frankreich, wo ebenfalls viele Atommeiler eine Laufzeitverlängerung verpasst bekommen sollen, und auf UVP und Beteiligung verzichtet werden soll, spitzen sich die Debatten zu, ob dieses Vorgehen angesichts von ESPOO und Asrhus-Konvention zulässig wäre. Eine Anhörung vor den ESPOO-Gremien ist mit Blick auf das französischen Vorgehen geplant.
Dirk Seifert
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