VGH Mannheim weist Anti-Atom-Klage ab

Im AKW Neckarwestheim-2 (GKN-II) wurden seit 2017 jedes Jahr neue Korrosionen in den Dampferzeugern des Reaktors nachgewiesen, darunter bisher mehr als 350 zum Teil lange und gefährlich tiefe Risse. Verantwortlich für die Rissgefahr in den Metallrohren der Dampferzeuger (DEHR) waren nach Angaben des TÜV NORD EnSys vor allem die seit 2010 von der EnBW durchgeführte und 2018 nach Entdeckung der Rissbildungen eingestellte Sauerstoffeinspeisung in den Sekundärkreislauf. Durch diese kam es zu korrosiven, d.h. rostbildenden chemischen Prozessen an der Innenseite der Rohre mit der Folge einer teils erheblichen Verringerung der Wandstärke.

 

Den Rissen liegt also eine fehlerhafte Bedienung des Reaktors durch den Betreiber zugrunde – was für diesen ohne Konsequenzen durch die Atomaufsicht geblieben ist. Das entscheidende Sicherheitsproblem besteht darin, dass Risse unvorhergesehen neu entstehen und unvorhergesehen schnell und tief wachsen können, was den Kläger*innen Anlass gab, bereits im August 2021 einen Eilantrag einzureichen. Denn schon der Riss nur eines  der ca. 4.000 Rohre, aus denen der DEHR besteht, kann die Integrität des gesamten Dampferzeugers gefährden. Nach Einschätzung von Dieter Majer, Ministerialdirigent a.D. und ehemaliger Bereichsleiter für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen im Bundesumweltministerium, kann ein solcher Riss zu einem ernsten Störfall führen, in dessen Folge eine Kernschmelze nicht mehr auszuschließen sei. Die 2018 erstmals entdeckten Rissbildungen seien aufgrund der besonderen sicherheitstechnischen Bedeutung im Sinne der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse sogar als INES-2-Ereignis einzustufen und damit einem Störfall gleichzusetzen. Majer vertrat die Kläger*innen gutachterlich während des gesamten Verfahrens. Der eingeforderte, extrem aufwändige Austausch der Dampferzeuger käme einer endgültigen Abschaltung des AKWs gleich. Die Klage hatte auch deshalb bundesweite Bedeutung in der Diskussion um eine Laufzeitverlängerung, weil in den beiden ebenso für den „Streckbetrieb“ vorgesehenen AKWs Emsland und Isar 2 das Vorliegen gleichartiger Spannungskorrosionen vermutet werden muss. Aber eben jene spezifischen und aufwändigen Sonden-Untersuchungen der Rohre werden dort seit Jahren vermieden.

 

Mitte 2020 hatten die Initiativen deshalb zunächst beim Umweltministerium Baden-Württembergs den Antrag auf Austausch der Dampferzeuger gestellt. Nachdem die Atomaufsicht dieser Aufforderung nicht nachkam, wurden im Dezember 2020 Rechtsmittel eingelegt und im August 2021 ein Eilverfahren vor dem VGH in Mannheim begonnen. Das Politikum begann damit, dass sich die Richter*innen bis April 2022 Zeit ließen, ehe sie den Eilantrag verhandelten – die Klage gegen das GKN-2 wäre so beinahe der am längsten verschobene Eilantrag in der Geschichte Baden-Württembergs geworden. Unter Verweis auf den „exekutiven Funktionsvorbehalt“ der Atomaufsicht wurde der Eilantrag abgelehnt. Die Richter hatten keine auch nur im Ansatz erkennbare eigene Sach-Prüfung vorgenommen, sie waren einzig der Atomaufsicht gefolgt. Auch das Hauptsacheverfahren, das am 14. Dezember 2022 in Mannheim stattfand, folgte dieser Inszenierung, in der die Argumente der Kläger*innen noch nicht einmal angemessen diskutiert wurden. Dies bemängelten die Initiativen scharf, denn das Gericht verzichtete damit auf die gerichtliche Kontrolle der Atomaufsicht und damit auf ihre Funktion innerhalb der verfassungsgemäßen Gewaltenteilung. Das schriftliche Urteil wird Ende Januar 2023 erwartet. Die Initiativen bewerten den Tag des Urteils als „schwarzen Tag“, was die Sicherheit der Bevölkerung vor Atomunfällen angehe. Auch für den Staatskonzern EnBW, an dessen Profit die grün-schwarze Baden-Württembergische Landesregierung sehr interessiert ist, dürfe es keine faulen Sicherheitsrabatte geben. Atomkraft ist und bleibe eine Höchstrisikotechnologie.

 

Jörg Schmid

 

Weiterführende Links:

http://www.bbmn.de/wp/gemeinsame-pressemitteilung-zum-abweisungsbeschluss-des-vgh-in-mannheim/

https://ausgestrahlt.de/akw-neckarwestheim

www.ausgestrahlt.de/blog/2021/05/07/akw-neckarwestheim2-der-unerkannte-störfall/

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Materialien

Öffentliches Fachgespräch im Bundestag zum Thema „Austausch über die Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie die aktuelle Situation in Saporischschja“ vom 15. März 2023

Statement von Dr. Angelika Claußen "Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – zivil wie militärisch"

Titelfoto: Stephi Rosen
IPPNW-Forum 174: Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter für die Anti-Atom-Bewegung?
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