Die wichtigsten Erkenntnisse des World Nuclear Industry Status Report 2023 nach dem COP28
In der vergangenen Woche endete der COP28 in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Verhandlungen waren nach einem für das Klima desaströsen Zwischenergebnis in die Verlängerung gegangen und es bleibt ein Abschlussdokument, das viele Kompromisse enthält[1]. Ein klarer Ausstieg aus den fossilen Energien wird nicht benannt, hingegen einigten sich die Delegierten u.a. auf eine Formulierung, die eine „Abkehr von den fossilen Energien“ anstrebt und auf eine Verdreifachung der Kapazitäten der Erneuerbaren bis zum Jahr 2030. Es wird als Erfolg angesehen, dass nun nicht mehr einzig die Emissionen im Mittelpunkt der Formulierungen stehen, sondern die emittierenden Energieträger klar benannt werden. Im Großen und Ganzen bleiben allerdings zu viele Schlupflöcher, die es erlauben, auch zukünftig auf fossile Energieträger zu setzen[2].
Auch die Atomkraft findet sich im Abschlusstext, dem die fast 200 beteiligten Staaten letztlich zustimmten. Sie wird unter den zu fördernden „emissionsfreien und emissionsarmen Technologien“ geführt, nimmt darüber hinaus aber keine herausgehobene Rolle ein. Im Verlauf des Gipfels hatten sich 22 Länder hinter eine Absichtserklärung gestellt, die eine Verdreifachung der Stromerzeugungskapazitäten aus Atomenergie bis zum Jahr 2050 anstrebt[3]. Die Erklärung, die die Atomenergie ins Zentrum der Zukunftsvision einer dekarbonisierten Energieversorgung stellt, war bereits vor dem Gipfel von den USA angestoßen und zunächst von zehn Staaten, darunter Frankreich, Großbritannien und Schweden, unterstützt worden. Kurzzeitig fand der Aufruf, der im Wesentlichen darauf ausgelegt ist, dem wirtschaftlich strauchelnden Atomsektor neue Finanzierungswege zu eröffnen, einige Aufmerksamkeit – sowohl von Befürworter*innen als auch von Gegner*innen. Im Vorwort des in der vergangenen Woche veröffentlichen World Nuclear Indutry Status Report (WNISR) 2023 kommentiert Stephanie Cooke diesen Vorschlag als nicht mehr zeitgemäß und konstatiert, er diene „nur dazu, die Aufmerksamkeit von realistischen und bezahlbaren Lösungen für den Klimawandel abzulenken“[4]. Sharon Squassoni kommt in einem Beitrag im Bulletin of the Atomic Scientist zum gleichen Ergebnis[5]: „Selbst im günstigsten Fall könnte ein Trend zu mehr Investitionen in die Atomenergie in den nächsten zwei Jahrzehnten die Klimakrise sogar noch verschlimmern, wenn billigere, schnellere Alternativen zugunsten teurerer, langsam umzusetzender Atomoptionen ignoriert werden.“
Aus den im WNISR vorgelegten Daten zum Stand der globalen Autoindustrie wird deutlich, worauf sich diese Einschätzungen stützten. Insbesondere im Vergleich zu den Erneuerbaren ist die Atomkraft weiterhin auf dem absteigenden Ast. Wind- und Solaranlagen allein erzeugten 28 Prozent mehr Strom als AKW und erreichten einen Anteil von 11,7 Prozent an der weltweiten Stromerzeugung, während der Anteil der Atomkraft auf 9,2 Prozent und damit den niedrigsten Stand seit 40 Jahren schrumpfte. Die zahlmäßige Gegenüberstellung der Zuwächse bei den Erneuerbaren im Gegensatz zur Atomkraft spricht hier Bände. Zwischen 2000 und 2020 wuchsen die AKW-Kapazitäten um 42 GW (Gigawatt), die Windkraft um 605 GW und die Solarkapazitäten um 578 GW, wie Squassoni vorrechnet. Das Wachstum der erneuerbaren Energien hat das der Atomenergie in den letzten Jahren also bereits bei weitem übertroffen. In einem Interview bezeichnet Mycle Schneider, Herausgeber und Mitautor des Reports, die Absichtserklärung der 22 Staaten, eine Verdreifachung der AKW Kapazitäten bis 2050 anzustreben als „ein schreckliches Signal“[6]. „Das ist wie der Einzug des Trumpismus in die Energiepolitik: Es ist ein Versprechen, das nichts mit der Realität zu tun hat“ kommentiert Schneider weiter. Ein Blick auf die von ihm und seinen Kolleg*innen vorgelegten Daten untermauert diese Einschätzung. Das Jahr 2050 liegt 27 Jahre in der Zukunft. In den vergangenen 20 Jahren wurden weltweit 103 neue Reaktoren in Betrieb genommen und 110 haben den Betrieb bis Mitte 2023 eingestellt, darunter die letzten deutschen AKW. Allein 50 der neuen Reaktoren speisen ihren Strom in das chinesische Netz ein und in China fiel unterdessen kein Reaktor unter die 110 Schließungen. Damit hat die Welt außerhalb Chinas in den letzten 20 Jahren eine negative Bilanz von 57 Reaktoren. Seit dem Baubeginn von Hinkley Point C Ende 2019 wurden weltweit 28 Reaktorneubauten begonnen. Davon sind 17 in China und die übrigen 11 werden von der russischen Atomindustrie in verschiedenen Ländern errichtet. Selbst wenn alle aktuell betriebenen Reaktoren bis an das Ende ihrer Genehmigung weiter Strom erzeugen, was eher unwahrscheinlich und in vielen Fällen kaum wirtschaftlich sein dürfte, wie der WNISR ebenfalls aufzeigt, werden bis zum Jahr 2050 noch 270 Reaktoren stillgelegt werden müssen. Einzig, um diese ausfallenden Reaktoren zu ersetzten, also den Status quo der Anzahl von Atomreaktoren an den Netzen zu erhalten, müsste die Neubaurate im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt werden.
Neben dem Update des weltweiten Überblicks zur Atomindustrie und einer Auswahl von detaillierten Betrachtungen von zwölf Fokusländern beinhaltet der Report ein Kapitel zum Sachstand in Fukushima, zum Stand des Rückbaus von AKW weltweit, zu Ländern, die einen Einstieg in die Atomstromproduktion anstreben, zum Stand der Entwicklungen sogenannter Small Modular Reactors und einer Reihe an Analysen der Ökonomie und Finanzwirtschaft der Atomindustrie sowie den detaillierten und hier bereits zitierten direkten Vergleich mit der Entwicklung der Erneuerbaren.
Leider ist aus den Daten und Analysen des Reports nicht zu schließen, dass sich das Thema Atomkraft nun mit der Zeit von selbst erledigt. Nicht nur, weil es ein Bedürfnis nach Scheinlösungen und vagen Zukunftsversprechen technologischer Lösungen zu geben scheint. Denn eine weitere im WNISR dargelegte Zahl deutet auf eine immer schon zentrale Motivation hinter der Stromerzeugung durch Kernspaltung: 93 Prozent aller laufenden Reaktorbauprojekte werden entweder in Atomwaffenstaaten oder von Unternehmen, die von Atomwaffenstaaten in anderen Ländern kontrolliert werden, betrieben. Der Bremsklotz an der Energiewende namens Atomkraft ist und bleibt also mit zwei großen, existenziellen Bedrohungen der Menschheit verknüpft – mit atomarer Rüstung bzw. Atomkriegsgefahr und der Klimakrise.
Patrick Schukalla
Referent für Atomausstieg, Energiewende und Klima
[1] https://unfccc.int/sites/default/files/resource/cma2023_L17_adv.pdf
https://www.ippnw.de/presse/artikel/de/atomkraft-ist-kein-klimaretter.html
[2] https://www.diw.de/de/diw_01.c.888056.de/cop_28__mit_dieser_einigung_wird_das_1_5-grad-ziel_kaum_mehr_erreichbar_sein.html
[3] https://www.energy.gov/articles/cop28-countries-launch-declaration-triple-nuclear-energy-capacity-2050-recognizing-key
[4] https://www.worldnuclearreport.org/-World-Nuclear-Industry-Status-Report-2023-.html
[5] https://thebulletin.org/2023/12/the-nuclear-energy-numbers-racket/?utm_source=Newsletter&utm_medium=Email&utm_campaign=ThursdayNewsletter12142023&utm_content=
ClimateChange_NuclearEnergy_12132023
[6] https://thebulletin.org/2023/12/nuclear-expert-mycle-schneider-on-the-cop28-pledge-to-triple-nuclear-energy-production-trumpism-enters-energy-policy/#post-heading
zurück