Aus ATOM-Energie-Newsletter Juni 2016

Vom Rückbau eines Atomreaktors

13.06.2016 Seit Fukushima ist klar: bis zum Jahr 2022 sollen alle deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Das ist mittlerweile breiter gesellschaftlicher Konsens und eine erneute Abkehr vom Ausstieg im derzeitigen politischen Klima kaum noch denkbar. Doch auch wenn die Abschaltung aller Atomkraftwerke in Deutschland bald Realität ist, wird uns das nukleare Erbe des Atomzeitalters noch viele Jahrhunderte beschäftigen. Ein Atomkraftwerk kann man nicht einfach von einem Tag auf den anderen abreißen oder umfunktionieren. Die meisten Bausubstanzen sind radioaktiv verseucht und es dauert Jahrzehnte, bis überhaupt an einen Rückbau zu denken ist.

Auch stellt sich die Frage, ob es überhaupt im öffentlichen Interesse ist, Atomkraftwerke tatsächlich bis zur sprichwörtlichen „grünen Wiese“ zurück zu bauen oder ob man nicht statt dessen den Weg des „sicheren Einschlusses“ wählt, also das radioaktive Material auf unabsehbare Zeit im ehemaligen Kraftwerksgebäude von der Außenwelt abschirmt. Die Risiken für die Gesellschaft und die Ewigkeitskosten für die nötigen baulichen und sicherheitstechnischen Maßnahmen mögen erschrecken, müssen aber im Vergleich zu den Risiken und Ewigkeitskosten des Rückbaus und der Versorgung von Unmengen  radioaktiv verseuchten Mülls gesehen werden. Eine gute, sichere und gesundheitlich einwandfreie Lösung gibt es bei der schmutzigen Atomenergie nun einmal nicht.

In Deutschland stehen aktuell 33 kommerzielle Atomreaktoren. Nur 8 von ihnen sind noch in Betrieb. 14 Reaktoren befinden sich derzeit im Rückbau, eines im sogenannten „sicheren Einschluss“. Bei 10 Reaktoren wurde der kommerzielle Betrieb eingestellt, mit dem Rückbau jedoch noch nicht begonnen. Wie kompliziert, haarsträubend und frustrierend das Thema Rückbau von Atomkraftwerken sein kann, zeigt das Beispiel des Atomreaktors im nordrhein-westfälischen Jülich.

 

Rückblick: Der Atomreaktor von Jülich

Jülich ist eine kleine Stadt, 40 km westlich von Köln. 15 kommunale Elektrizitätsunternehmen bauten dort in den 1960er Jahren mit Unterstützung der öffentlichen Hand einen kommerziellen Atomreaktor, der zwischen 1967 und 1988 21 Jahre lang Strom ins Netz einspeiste. Es handelt sich in Jülich um einen sogenannten Kugelhaufenreaktor. Bei einem solchen Reaktor gibt es keine klassischen Brennstäbe, die in einem Wasserbad liegen und regelmäßig gewechselt werden, sondern kugelförmige Brennelemente, die im Reaktor einen Haufen bilden, von dem unten die verbrauchten Elemente abgezogen, oben die neuen nachgefüllt werden.

Die Technologie erwies sich bald als hochriskant: Kugeln blieben stecken, zerbrachen oder zerbröselten, radioaktiver Graphitstaub verteilte sich im Kühlkreislauf. Da Temperaturmessungen im Reaktorinneren aufgrund des Designs und der ständigen Präsenz von Brennelementkugeln nicht möglich sind, wurde der Reaktor über viele Jahre vermutlich unbemerkt bei viel zu hohen Temperaturen betrieben. So wurden große Mengen an radioaktivem Tritium, Strontium und Cäsium in den Reaktorbehälter freigesetzt. Durch Wassereinbrüche und undichte Ventile kam es bei vielen Störfällen zur Freisetzung radioaktiven Materials in die Umwelt. So wurde über knapp 6 Jahre Tritium in die Atmosphäre abgegeben, da keine funktionsfähigen Filter existierten. Untersuchungen im Jahr 1999 fanden zudem substantielle Mengen von Strontium im Boden und Grundwasser rund um den Reaktor. Auch Tritium wird in erheblichen Mengen ins Grundwasser übergegangen sein. Ein Zusammenhang mit den rund um Jülich signifikant erhöhten Leukämiefällen bei Kindern in den Neunziger Jahren kann nicht ausgeschlossen werden. Viele der Störfälle wurden über Jahrzehnte von den Betreibern verheimlicht und erst durch unabhängige Untersuchungen aufgedeckt. Etliche Male entging die Bevölkerung in NRW wohl nur durch Glück einem Super-GAU. Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl wurde der Reaktor aufgrund der zahlreichen Sicherheitsdefizite 1988 schließlich still gelegt.

 

Der Rückbau

Der Pannenreaktor von Jülich wurde mittlerweile von der öffentlichen Hand übernommen, da die ursprünglichen Betreiber die hohen Kosten des Rückbaus nicht tragen konnten und wollten. So wird der Atomreaktor seit 2003 vom bundeseigenen Rückbaukonzern Elektrizitätswerke Nord abgewickelt. Die Rückbaukosten von rund einer Milliarde Euro werden also vom Steuerzahler geschultert werden müssen.

Nachdem für den Reaktor ursprünglich ein "sicherer Einschluss" geplant war, wurde das Konzept 1999 zugunsten des „vollständigen Rückbaus“ geändert. Der Bevölkerung wurde eine „Grüne Wiese“ versprochen – der bedrohliche und verhasste Reaktorbau sollte vollständig aus dem Landschaftsbild verschwinden. Während diese Vorstellung den Wünschen vieler Anwohner entspricht, gestaltet sich der Rückbau kompliziert.

Im Inneren des Reaktors befinden sich weiterhin mehr als 60 kg hochradioaktiven Staubs und knapp 200 zerbröselte Brennelementkugeln mit hoch angereichertem Uran. Kein anderer Atomreaktor der Welt ist zudem so stark mit radioaktivem Strontium belastet wie der Kugelhaufenreaktor in Jülich. Wegen seiner extremen Verseuchung kann der Reaktor erst in einigen Jahrzehnten zerlegt werden und wurde vorerst mit 500 Tonnen Beton verfüllt, um den hochradioaktiven Staub im Reaktor zu binden. Um den Boden rund um den Reaktor von radioaktivem Strontium zu reinigen, musste der Reaktor 2014 in ein Zwischenlager auf dem benachbarten Forschungszentrum in Jülich verlegt werden. Zudem musste eine 60 m hohe „Materialschleuse“ um den Reaktor errichtet werden, um die Umwelt vor weiterer radioaktiver Kontamination zu schützen, die sonst ungehindert in die Atmosphäre gelangen könnte.

Was die mehr als 300.000 tennisballgroßen hochradioaktiven Brennelemente aus Uran, Thorium und Graphit angeht, so wurden diese, soweit sie nicht im Reaktor verunglückten, mittlerweile in 152 Castor-Behälter verfüllt, die ebenfalls im Zwischenlager auf dem Gelände des Forschungszentrums in Jülich lagern. Dieses gilt als das unsicherste Zwischenlager in Deutschland – so undicht, dass die Castoren selbst vor Regen nicht adäquat geschützt sind, der regelmäßig durchs Dach in die Lagerhalle dringt. Das Lager ist nicht erdbebensicher und auch einem gezielten Terroranschlag oder Flugzeugabsturz würde es kaum standhalten. Verantwortung für das Lager will längst niemand mehr tragen – 2014 entzog die Aufsichtsbehörde dem Lager die Betriebsgenehmigung und erließ eine Räumungsanordnung, der bis heute nicht entsprochen wurde. Seitdem wird das Lager vom Forschungszentrum Jülich faktisch illegal betrieben.

Das Forschungszentrum Jülich will die Castoren möglichst schnell loswerden – wobei es zunächst egal zu sein scheint, wohin. Ein Grund, weshalb der Atommüll des Jülicher Reaktors ein solch großes Problem darstellt, liegt im eigentümlichen Design der graphitbeschichteten Brennelementkugeln, vor allem dem hohen Anteil des langlebigen Radioisotops Kohlenstoff-14. Aufgrund der Wärmeentwicklung dieses Stoffes und der langen Halbwertszeit von 5.730 Jahren verbietet sich eine Überführung in ein „Endlager“ wie dem Schacht Konrad. Mehr als 50.000 der Jülicher Brennelementkugeln wurden dennoch illegal in die Asse transportiert, wo sie nun ungehindert und unkontrollierbar den Rest des sorglos verkippten Atommülls erhitzen können. Ein Skandal, der seinesgleichen sucht, der aber angesichts der noch bestehenden Probleme in Jülich fast verblasst.

 

Ausblick

Für die noch verbliebenen 152 Castorbehälter ist zunächst geplant, sie per LKW-Kolonne über die Autobahn ins Zwischenlager nach Ahaus zu transportieren. Viel sicherer wären die Castoren dort allerdings auch nicht – das dortige Lager ist ebenfalls unzureichend gegen Naturkatastrophen oder Anschläge gesichert. Es unterscheidet sich vom Zwischenlager in Jülich einzig dadurch, dass es noch über eine Betriebsgenehmigung bis zum Jahr 2036 verfügt. Problematisch wäre allerdings die notwendige Reparatur der Castoren oder die Umverpackung des Atommülls für die vermeintliche Endlagerung – in Ahaus gäbe es hierfür keine adäquaten technischen Möglichkeiten und so könnte in einigen Jahren oder Jahrzehnten ein Rücktransport nach Jülich notwendig werden. Ein möglicher Weitertransport in die USA wird ebenfalls diskutiert, auch wenn die Bereitschaft der USA, das einst gelieferte spaltbare Material tatsächlich zurück zu nehmen, noch gar nicht geklärt ist.

Unabhängige ExpertInnen kommen hingegen bereits seit Jahren zu dem Schluss, dass der Neubau eines eigenen, oberflächennahen Lagers vor Ort in Jülich der einzige halbwegs verantwortungsbewusste Weg aus dem Atommüll-Dilemma wäre. Es wird zwar gerne von einer „Endlagerung“ gesprochen, doch wer bedenkt, dass die menschliche Zivilisation gerade einmal rund eine Halbwertszeit von Kohlenstoff-14 umfasst, dem wird schnell klar, dass wir stattdessen von einer „unabsehbar langen Lagerung“ oder „Dauerlagerung“ sprechen sollten. Wer weiß schon, wie die Region um Jülich, wie Deutschland oder wie die Welt in 100, 1.000 oder 10.000 Jahren aussehen wird?

Auch wenn sich die skandalöse Situation in Jülich aufgrund der technischen und historischen Besonderheiten des Kugelhaufenreaktors nicht direkt mit anderen Atomkraftwerken vergleichen lässt, ist sie dennoch ein Lehrstück dafür, was anderen Atomstandorten in Deutschland noch bevorstehen könnte: Betreiber, die sich aus der Verantwortung ziehen und das nukleare Erbe auf die Allgemeinheit abwälzen, Rückbaukonzepte, bei denen Sicherheit und öffentliche Gesundheit nicht mehr im Mittelpunkt stehen, und undurchdachte, kurzfristige Lösungsversuche, die über die wahren Probleme und Bedrohungsszenarien hinwegtäuschen sollen. Noch kann sich der Rest von Deutschland mit einer gewissen Distanz über die beispiellose Atom-Schlamperei in Jülich wundern – dieser Luxus dürfte uns nicht allzu lang erhalten bleiben. Bald schon könnte es heißen: „Jülich ist überall“ ...

Von Dr. Alex Rosen

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