13.09.2018 Aktuell erleben wir, wie den Atomkonzernen der Atomausstieg mit Milliardenbeträgen vergoldet wird. Schon vor 20 Jahren erlebte die Öffentlichkeit, wie die Atomindustrie ein demokratisches Wahlergebnis konterkarierte, um weiterhin extrem viel Geld zu Lasten der Stromkund*innen zu verdienen: Eine mit dem Versprechen eines schnellen Atomausstiegs 1998 gewählte rot-grüne Bundesregierung willigte im Sommer 2000 in einen "Atomkonsens" ein, der den langjährigen Weiterbetrieb selbst der ältesten deutschen Atomkraftwerke ermöglichte. In dieser Situation entstand in der Ärzteorganisation IPPNW die Überlegung, mit einer Musterklage zum Ausstieg aus der Atomenergie beizutragen. Die Vorbereitungen für die Biblis-Klage liefen an ...
Das Problem vorheriger Klagen gegen Atomanlagen hatte darin bestanden, dass sich diese auf „atomkritische“ Gutachter gestützt hatten, denen im Gerichtssaal gut 12 TÜV-Leute gegenüberstanden, die Aussagen pauschal dementierten. Im Ergebnis billigten die Gerichte den Atombehörden einen weiten „Beurteilungsspielraum“ und somit die abschließende sicherheitstechnische Bewertung zu, so dass die Atomkraftgegner mit ihren Klagen fast zwangsläufig scheitern mussten, sofern sie keine formalen Mängel geltend machen konnten.
Neue Strategie
Vor diesem Hintergrund entwickelte die IPPNW eine völlig neue Strategie: Statt eines eigenen atomkritischen Gutachtens sollte ganz im Gegenteil nur das vor Gericht vorgebracht werden, was die Sachverständigen der Atomaufsichtsbehörden, die Betreiber wie auch der Atomkraftwerkshersteller Siemens selbst als Sicherheitsprobleme identifiziert hatten.
Warum sollte man nicht die sicherheitstechnischen Bewertungen des TÜV, der mit den Kraftwerksbetreibern eng verbunden ist, heranziehen, um vor Gericht die Sicherheitsdefizite des Atomkraftwerks Biblis B darzulegen? Warum sollte man sich nicht auf die Studien und Stellungnahmen der Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit (GRS), des „Hausgutachters“ der Bundesatomaufsicht stützen?
Das neue Konzept ging auf: Die Betreibergesellschaft RWE, der Kraftwerkshersteller Siemens, der TÜV, die GRS und die Atomaufsicht in Bund und Land konnten der IPPNW-Klage kaum etwas entgegensetzen.
Restrisiko
Auch auf der rechtlichen Seite berief sich die IPPNW von Anfang an nur auf die Logik des Atomgesetzes, auf höchstrichterliche Urteile und auf wissenschaftliche Beiträge führender Atomrechtler. Das maßgebliche „Kalkar-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts wurde in seinen zentralen Passagen nicht - wie so oft - nur zitiert, es wurde vielmehr unter Rückgriff auf die atomrechtliche Fachliteratur interpretiert.
Unter anderem wurde dargelegt, dass das Atomrecht mit dem zu akzeptierenden „Restrisiko“ lediglich rein „hypothetische“ Unfallabläufe jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens meint. Reale Unfallszenarien sind demgegenüber nicht als „Restrisiko“ hinzunehmen.
Breit abgestützt
Neu war insbesondere auch, dass die Biblis-Klage der IPPNW – gestützt auf das Atomgesetz - rechtlich „sehr breit“ abgestützt wurde. Der Genehmigungswiderruf und somit die Stilllegung des Atomkraftwerksblocks Biblis B wurde nicht nur - wie üblich - wegen einer „Gefahr“ im atomrechtlichen Sinne beantragt. Hinzu kam die zentrale Begründung, dass mit der massiven Abweichung des Sicherheitsstandards vom „Stand von Wissenschaft und Technik“ eine wesentliche „Genehmigungsvoraussetzung weggefallen“ war.
Nicht zuletzt wurde auch ausführlich dargelegt, dass weitere Genehmigungsvoraussetzungen weggefallen waren: Hierbei ging es um Zweifel an der „Zuverlässigkeit des Betreibers“, um den unzureichenden „Schutz gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter“ (u.a. Flugzeugabsturz, Terrorgefahr), sowie um die unzureichende „Deckungsvorsorge“ („Haftpflichtversicherung“).
Verhältnismäßigkeitsprüfung
Die rechtlichen Anforderungen wurden auch insofern ernst genommen, als ein Genehmigungs-Widerruf, d.h. die Stilllegung eines Atomkraftwerks natürlich auch „verhältnismäßig“ sein musste. Hier wurde in der Biblis-Klage darauf verwiesen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem „Kalkar-Urteil“ eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits vorgenommen hatte.
Demnach kann sich ein Atomkraftwerksbetreiber weder auf das „Eigentumsrecht“ noch auf das Recht auf „freie Berufsausübung“ berufen, wenn der Stand von Wissenschaft und Technik nicht gewährleistet ist. Maßgebend ist hierbei das Grundrecht auf Leben und Gesundheit.
Ferner konnte auch kein „Vertrauensschutz“ geltend gemacht werden, weil die Genehmigung von Biblis B von Beginn an unter dem „Widerrufsvorbehalt“ des Atomgesetzes gestanden hatte. Verhältnismäßig wäre ein Widerruf der Betriebsgenehmigung u.a. auch wegen des ungelösten Entsorgungsproblems gewesen.
Mehr noch: Das Bundesverfassungsgericht hatte wegen der Gefahren der Atomenergie geurteilt, dass es sich beim Atomrecht um „Sonderrecht“ handelt, bei dem weitaus strengere Maßstäbe anzulegen sind als im sonstigen Verwaltungsrecht.
Fragwürdige „Atomkonsens-Verhandlungen“
Mit dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung zeigte die Biblis-Klage auf, dass die zentralen Argumente der Atomkraftwerksbetreiber während der so genannten „Atomkonsens-Verhandlungen“ zwischen der damaligen Bundesregierung und der Atomindustrie zwischen Herbst 1998 und Sommer 2000 rechtlich auf sehr wackeligen Füßen standen.
Denn die Betreiber hatten während dieser Verhandlungen immer wieder auf ihr „Eigentumsrecht“ und auf ihr Recht auf „freie Berufsausübung“ gepocht und zudem stets wiederholt, der „Vertrauensschutz“ stünde einem politischen Atommausstieg im Weg. Beständig drohten sie mit milliardenschweren Entschädigungsklagen gegen die Bundesregierung bzw. zu Lasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Ein etwas genauerer Blick u.a. in das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hätte damals genügt, um diese Argumentation zu entkräften. Mit der Biblis-Klage wurde dieses Versäumnis gewissermaßen nachgeholt.
Aufsichtsbehörden räumten Risiken ein
Mit der Klage wurde sehr umfänglich dargelegt, dass Biblis B aus rechtlichen Gründen stillgelegt werden musste. Und tatsächlich bestätigten die Aufsichtsbehörden wesentliche Argumente der Klage:
So hatte das hessische Umweltministerium schon frühzeitig den zentralen Vorwurf der Klage eingeräumt, wonach Biblis B „selbstverständlich“ nicht mehr dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprach. Später bestätigte ein Gutachten im Auftrag der Bundesatomaufsicht, dass es in Biblis B in der Tat rund 80 Sicherheitsdefizite von „hoher Relevanz“ gab.
Mehr noch: Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestätigte die in der Klage dargelegte Rechtsauffassung hinsichtlich „auslegungsüberschreitender Ereignisse“, wodurch u.a. die unzulängliche „Kernschmelzfestigkeit“ der deutschen Atomkraftwerke rechtlich zu würdigen war.
Die intensive rechtliche und sicherheitstechnische Auseinandersetzung im Rahmen der Biblis-Klage war eine der Grundlagen für die späteren atompolitischen Entscheidungen nach Fukushima, die als eine der ersten Maßnahmen die Schließung von Biblis B vorsahen.
Von Henrik Paulitz
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