Gastbeitrag von Timo Luthmann, .ausgestrahlt

Kann das „Super-Greenwashing“ noch verhindert werden?

Aufnahme von Atomkraft und fossilem Gas in die EU-Taxonomie steht bevor

Am 2. Februar veröffentlichte die Europäische Kommission offiziell ihren Vorschlag für einen zweiten Delegierten Rechtsakt, welcher Atomkraft und fossiles Erdgas in die sogenannte EU-Taxonomie aufnehmen und damit als ‚grün‘ klassifizieren soll. Die EU-Kommission untergräbt damit das ursprüngliche Ziel der Taxonomie, Investitionen für einen ökologischen Umbau der Gesellschaft bereitzustellen. Stattdessen möchte sie weitere Gelder in fossile Infrastruktur und die an der Realität längst gescheiterte Atomtechnologie leiten.

Dies hätte jedoch gravierende Folgen:
1. Jeder Euro, der aufgrund dieser Einstufung in Atomkraft oder Erdgas fließt, fehlt für wirksamen Klimaschutz und bremst die Energiewende aus.

2. Investitionen in fossile Gas-Infrastruktur führen auf Jahrzehnte hin zu massiven weiteren Klimaschädigungen: nicht nur durch das bei der Verbrennung des Gases entstehende CO2, sondern auch, weil bei Transport und Lagerung  viel Methan über Lecks in die Atmosphäre entweicht.

3. Die Finanzsituation für die kapitalintensive Risikotechnologie Atomkraft würde sowohl durch Fördermittel als auch bessere Kredite entscheidend verbessert, was Laufzeitverlängerungen im französischen Kraftwerkspark und AKW-Neubauten in vielen europäischen Ländern deutlich wahrscheinlicher werden lässt.

Wie geht der offizielle Prozess nun weiter?

Die Taxonomie ist am 11. März offiziell dem Europaparlament übermittelt worden. Jetzt hat das EU-Parlament die Möglichkeit, den Vorschlag der Kommission bis zum 11. Juli abzulehnen. Dieser ist nun in den Wirtschafts- und Finanzausschuss (ECON) und den Umweltausschuss (ENVI) des EU-Parlaments weitergeleitet worden. Nach einer ersten Debatte im Parlament und der Abstimmung in den beiden zuständigen Ausschüssen, voraussichtlich vom 14. bis 21. Juni, gibt es die finale Abstimmung im Plenum in der ersten Juliwoche. Für eine Ablehnung im Parlament bedarf es 353 Stimmen. Da im EU-Rat absehbar keine Mehrheit für eine Ablehnung der Taxonomie zu erwarten ist, ist es möglich, dass hier gar keine Abstimmung darüber aufgesetzt wird.

Wie hoch stehen die Chancen, dass dieser Rechtsakt im EU-Parlament durchkommt?

Allein im EU-Parlament gibt es die Möglichkeit, den Vorschlag der EU-Kommission noch abzuwehren. Dafür braucht es eine absolute Mehrheit mit 353 Stimmen. Nimmt man die Anzahl der Unterschriften bei den etlichen Briefen gegen den Vorschlag zusammen, ergibt sich mittlerweile ein Stimmungsbild von ca. 250 Abgeordneten, ausgehend von Sozialdemokratischen S&D, Grüne und Linke und einigen Konservativen. Es fehlen also rund 100 Abgeordnete, die von der konservativen EPP-Fraktion und der liberalen Renew-Fraktion kommen müssen. Die EPP mit 177 Abgeordneten droht sich aktuell zu spalten. In der Renew-Fraktion wird es einzelne Abgeordnete geben, die gegen die Taxonomie stimmen werden. Die Mehrheit von Renew wird sich aber für die Taxonomie aussprechen, um den radikal pro-Atom französischen Präsidenten Macron nicht in den Rücken zu fallen. Es wird also ein Krimi werden, bei dem es auf jede einzelne Stimme der Parlamentarier*innen ankommt. Dabei kritisieren immer mehr Europa-Abgeordnete sowohl den Prozess als auch den Inhalt des Entwurfs.

Wenn es zu einem knappen Abstimmungsergebnis zu Gunsten des Vorschlags der EU-Kommission kommt, wäre dies trotzdem eine politische Niederlage für die Kommission, da sie wegen ihres undemokratischen Vorgehens bei der EU-Taxonomie zunehmend in der Kritik steht. Daraus könnten dann noch weitere Handlungsmöglichkeiten entstehen, mit unklarem Ergebnis.

Was planen zivilgesellschaftliche Gruppen, um das Greenwashing von Gas und Atom doch noch zu stoppen?

Im Mai mobilisierte .ausgestrahlt zu den EU-Abgeordnetenbüros in Deutschland, um mit Protest und Forderungsübergaben einen direkten Kontakt vor allem zu den konservativen und liberalen Abgeordneten herzustellen. Gleichzeitig wurde im Rahmen des Global Climate Strike am 21.05. von Fridays for Future europaweit die EU-Taxonomie thematisieret und insbesondere Abgeordnete zu adressieret. Verschiedene Umweltverbände haben bereits oder werden noch im Mai und Juni offene Briefe und Direktmailing-Kampagnen starten, und die Parents for Future wollen kurz vor der Abstimmung einen Twitterstorm initiieren.

Am Tag oder kurz vor der Abstimmung wird es am 6. oder 7. Juli noch eine Bündnisdemo in Straßburg geben!

Was passiert, wenn das EU-Parlament es nicht schafft, die Pläne der EU-Kommission zu stoppen?

Luxemburg und Österreich haben bereits eine Klage angekündigt, sollte die Verordnung rechtsgültig werden. Eine solche Klage könnte sich darauf stützen, dass gemäß Artikel 290 der EU-Verträge nur „unwesentliche“ Aspekte eines Gesetzes an die EU-Kommission delegiert und per Verordnung geregelt werden dürfen. Deutschland unterstützt diese Klage bis jetzt noch nicht, aber soziale Bewegungen und NGOs sollten darauf hinwirken, dass die Bundesregierung ebenfalls mit klagt, falls das EU-Parlament das Super-Greenwashing nicht stoppt.

Doch jetzt schon einseitig auf Klagen und deren unklares Ergebnis zu setzten, wäre verfrüht. Noch ist die Verordnung nicht in Kraft – und Protest dagegen notwendiger denn je. Hier sollte ein Fokus auf den EU-Parlamentarier*innen liegen. Um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, braucht es vielfältige Kontaktaufnahmen an die Abgeordneten von Organisationen, Einzelpersonen per E-Mail, Brief oder auf den Social-Media-Kanälen der Abgeordneten. Gleichzeitig kann öffentlicher Protest auf der Straße, im Netz oder mit Leserbriefen in der Lokalzeitung nicht nur Druck auf die Abgeordneten aufbauen, den Entwurf im Europäischen Parlament abzulehnen. Vielmehr würden sich damit auch die Erfolgsaussichten einer Klage verbessern – denn Details eines Gesetzes sind umso „wesentlicher“, je mehr sie auch politisch umstritten sind.


Gastkommentator Timo Luthmann arbeitet bei der bundesweiten Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt als Campaigner zum Thema Klimakrise und Atomkraft.


Timo Luthmann, Jahrgang 1977, ist Vater eines Kindes und lebt in Bonn. Er hat sich in der Anti-Atombewegung Ende der 1990er Jahre politisiert und war in vielen verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv. Seit 2009 hat er die Klimagerechtigkeitsbewegung mit aufgebaut und sich seit 2017 im Bereich Klimagerechtigkeit und Landwirtschaft engagiert. Er hat das "Handbuch Nachhaltiger Aktivismus" (2018) geschrieben. Seit März 2021 verstärkt er das .ausgestrahlt-Team  u.a. im Bereich Klima und Atom.


Weitere Informationen:
ausgestrahlt.de/eu-taxonomie

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Materialien

Titelfoto: Stephi Rosen
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