Aus dem ATOM-Energie-Newsletter Mai 2017

Der Fall des verlorenen Schilddrüsenkarzinoms

12.05.2017 Seit Jahren kritisieren ÄrztInnen und Wissenschaftler, dass die Fukushima Medical University die gesundheitlichen Folge der Atomkatastrophe von Fukushima  bewusst herunterspielt. Nun hat ein außergewöhnlicher Fall von Schilddrüsenkrebs neue Fragen aufgeworfen.

Am 30. März berichteten japanische Nachrichtenagenturen von einem Jungen, der zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophen in Fukushima 4 Jahre alt war und der kürzlich mit Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde. Angesichts der offiziell berichteten 184 Verdachts- und 145 gesicherten Fällen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in der Präfektur Fukushima wundert zunächst die mediale Aufmerksamkeit, die dieser Fall erhielt.

Diese erklärt sich jedoch aus dem Zusammenhang: anders als alle anderen Fälle wurde dieser von der Fukushima Medical University nicht berichtet. Der Junge war zwar im Rahmen der 2. Runde der Reihenuntersuchung 2015 mit einem pathologischen Schilddrüsenbefund aufgefallen, dann jedoch in ein externes Krankenhaus überwiesen, wo bei ihm Schilddrüsenkrebs diagnostiziert und er 2016 operiert wurde.

Schon länger besteht die Sorge, dass die Fukushima Medical University versucht, die Daten der Reihenuntersuchungen nach unten zu manipulieren. Die Universität wird in der Durchführung der Schilddrüsenuntersuchungen finanziell und logistisch von der internationalen Lobbyorganisation der Atomindustrie, der IAEO, unterstützt und wird von der atomenergiefreundlichen Regierung in Tokio unter Druck gesetzt, keine unangenehmen Schlussfolgerungen für die Atomindustrie zu produzieren. Die Zielsetzung der Reihenuntersuchungen wurden anfangs mit dem Wunsch begründet, der Bevölkerung die Angst und die Sorge um gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophe zu nehmen. Mittlerweile liegt die Inzidenz von Schilddrüsenkrebs bei Kindern jedoch um den Faktor 27 höher als vor der Atomkatastrophe, so dass es durchaus berechtigt erscheint, sich Sorgen um die Gesundheit der Kinder in den verstrahlten Regionen zu machen; und nicht zuletzt auch um die Unabhängigkeit der Forschung an der Fukushima Medical University.

Der aktuelle Fall scheint diese Sorgen erneut zu bestätigen. Und er könnte nicht der letzte sein. Denn auch andere Kinder wurden von der Fukushima Medical University in der Vergangenheit an externe Kliniken verwiesen. Ob auch bei Ihnen Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde, lässt sich laut Angaben der Universität nicht beantworten. Die US-amerikanische IPPNW-Ärztin Yuri Hiranuma zitiert die Fukushima Medical University mit ihren Worten (Übersetzung aus dem Japanischen): “Wir berichten über Krebsfälle oder Krebsverdachtsfälle in Patienten, die während der Bestätigungstests diagnostiziert wurden. Wir berichten nicht über Schilddrüsenkrebsfälle bei Patienten, die sich als Resultat des Bestätigungstest in der Kategorie „follow-up“ befinden oder in Patienten, die nach Weiterleitung an andere medizinische Einrichtungen diagnostiziert wurden, da es schwer ist, solche Fälle ausnahmslos zu erfassen.” Ein Beamter der Präfekturregierung erläuterte den Sachverhalt wie folgt: „Uns ist bewusst, dass Schilddrüsenkrebsfälle, die außerhalb der Reihenuntersuchungen diagnostiziert werden in den Berichten nicht auftauchen. Wir wissen, dass solche Fälle potentiell existieren, sind uns aber keinen individuellen Fällen bewusst.”

Insgesamt wurden im Rahmen der sonographischen Reihenuntersuchungen bei mittlerweile 2.708 Kindern auffällige Befunde gefunden, die weiter abgeklärt werden mussten. Bei 741 dieser Kinder wurden Feinnadelbiopsien durchgeführt. Bei 184 ergaben sich daraus krebsverdächtige Befunde. Das bedeutet, dass es aktuell rund 2.000 Kinder gibt, bei denen zwar sonographisch verdächtige Befunde gefunden wurden, die jedoch bislang nicht durch Feinnadelbiopsien nachuntersucht wurden. Nicht all diese Kinder werden krebsverdächtige Läsionen haben. Auch Hinweise auf Autoimmunerkrankungen oder diffuse Kropfbildung wären „verdächtige Befunde“, die weitere Untersuchungen nach sich ziehen würden. Es lässt sich jedoch nicht abschätzen, ob durch die Praxis der Weiterleitung von Patienten an externe Kliniken nicht doch weitere Schilddrüsenkrebsfälle für die Statistik verloren gingen.

Besonders pikant wird der Fall dadurch, dass der Junge der bislang jüngste Patient mit Schilddrüsenkrebs in der Präfektur Fukushima ist. Bislang war der jüngste offiziell berichtete Fall zum Zeitpunkt des Super-GAUs in Fukushima 5 Jahre alt. Schon jetzt hat der Fall, der von vielen lediglich als „Spitze des Eisbergs“ bezeichnet wird, das Vertrauen in die Berichte der Fukushima Medical University nachhaltig beschädigt.

Wir von der deutschen IPPNW werden in künftigen Publikationen neben den offiziellen Statistiken auch die nicht berichteten Fälle von Schilddrüsenkrebs nennen, wenn diese von belastbaren Quellen bestätigt werden. Wir müssen daher aktuell von 185 Verdachtsfällen und 146 bestätigten Krebsfällen bei Kindern in Fukushima in den letzten 6 Jahren sprechen. Statistisch zu erwarten wären in der betroffenen Bevölkerung unter 18 Jahren etwa ein Fall im Jahr, wobei unklar ist, wie viele der initial identifizierten Krebsfälle auf das Konto von Screeningeffekten gehen.

Von Dr. med. Alex Rosen

 

Quellen:

 

 

 

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