Der letzte macht das Licht aus

Atomenergie in Zeiten der Coronavirus-Pandemie

06.05.2020 Der weltweite Ausbruch von SARS-CoV-2 betrifft alle Teile unserer Gesellschaftsordnung – auch die Produktion von Energie. Insbesondere die zahlenmäßig zwar geringfügige aber gleichzeitig hoch riskante Atomenergie bedarf einer besonderen Betrachtung.

 

Konkrete Auswirkungen der Pandemie auf den Betrieb von Atomkraftwerken

Das Personal eines AKW ist zum Teil hochspezialisiert, benötigt besondere Fachkenntnisse, offizielle Genehmigungen und Hintergrundüberprüfungen und kann im Fall von größeren krankheitsbedingten Ausfällen oder zu Zwecken des Infektionsschutzes nicht einfach kurzfristig ersetzt werden. Die International Nuclear Risk Assessment Group INRAG sorgt sich in einer Publikation vom April 2020, „dass sich die in vielen Ländern als Reaktion auf die Pandemie vorgenommene Verringerung des Personalbestands, Inspektionen, Ausfälle und notwendige Wartungsarbeiten negativ auf die Sicherheitsmargen der atomtechnischen Anlagen auswirken und möglicherweise zu einem schweren Unfall führen werden.“

Regelmäßige Wartung, Nachrüstungen und der Ersatz defekter Bauteile sind unerlässlich, um den sicheren und zuverlässigen Betrieb von Atomreaktoren aufrechtzuerhalten. Die derzeitige Coronavirus-Pandemie hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf das Personal in den Kraftwerken, sondern auch auf die Versorgungsketten mit Ersatzteilen.

Die für das Frühjahr dieses Jahres geplanten Transporte hochradioaktiver Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield im Vereinigten Königreich wurden ebenfalls verschoben, da der erforderliche entsprechende Polizeieinsatz nicht durchführbar war

Im Falle eines schweren Unfalls könnten Notfallmaßnahmen wie die Evakuierung der lokalen Bevölkerung notwendig werden. Solche Maßnahmen sind selbst unter normalen Bedingungen äußerst anspruchsvoll, können aber in einer Pandemiesituation, in der Notfalldienste, Krankenhäuser und das gesamte medizinische System bereits unter hohem Druck arbeiten, noch kritischer werden. Im Gegenzug könnte die Bewegung großer Bevölkerungsgruppen inmitten einer Pandemie zu weiteren Ausbrüchen führen. Eine soziale Distanzierung z.B. in Evakuierungszentren wäre nicht möglich. So kann ein schwerer Atomunfall während einer Pandemie zu noch viel schwerwiegenderen Folgen führen.


Erlaubt die Situation auf dem Strommarkt eine frühzeitige Abschaltung?

Wegen der Stilllegung zahlreicher Industriezweige ist der allgemeine Stromverbrauch in Deutschland stark gesunken. Weil ganze Fabriken aktuell abgeschaltet wurden und Großfirmen ihre Stromnachfrage um bis zu 90% reduziert haben, kommt es zur Tagesmitte, wenn die Solarstromproduktion ihren Höhepunkt erreicht, an manchen Tagen bereits zu negativen Strompreisen. Insgesamt ist der Stromverbrauch nach Angaben des Energiewirtschaftsverbands BDEW in Deutschland im Schnitt um 9% eingebrochen – für den ansonsten relativ konjunkturunabhängigen Strommarkt ein außergewöhnlicher starker Abfall. Laut Handelsblatt liegen daher im Deutschen Stromnetz regelmäßig rund 4.000 Megawatt an Leistung zu viel vor. Dies entspreche der Leistung von vier großen Atomkraftwerken.

Schon jetzt laufen Kohlekraftwerke mit geringer Auslastung, Deutschland hat seine Stromexporte noch einmal deutlich gesteigert, mitunter müssen Abnehmer sogar finanziell abgefunden werden, damit sie den deutschen Überschussstrom überhaupt in ihre Netze einspeisen. Die mittelfristige Prognose lässt wenig Hoffnung auf baldige Erholung zu: Der IWF rechnet mit einem Einbruch der Weltwirtschaft um 3% - vorausgesetzt, dass die Pandemie noch in diesem Jahr ihren Höhepunkt erreicht. Sollte sie sich bis ins nächste Jahr fortsetzen, wovon auszugehen ist, könnte die Weltwirtschaft 2021 um weitere 8% einbrechen. Die Weltfinanzkrise von 2007 verursachte lediglich einen Einbruch von 0,1%.

In einer solchen Situation stellt sich die Frage, ob man Atomkraftwerke wirklich laufen lassen muss, oder ob eine frühzeitige Abschaltung sinnvoll wäre.


Die Situation in Deutschland

In Deutschland sind seit der Stilllegung von Philippsburg 2 Ende letzten Jahres nur noch 6 Atomreaktoren am Netz. Drei davon (Grohnde, Brokdorf und Grundremmingen C) werden Ende 2021 vom Netz gehen, drei davon (Isar/Ohu 2, Neckarwestheim 2 und Emsland) dann Ende 2022.

Das AKW Grohnde befindet sich derzeit in Revision. Das Kraftwerk ist abgeschaltet, Brennelemente werden gewechselt. Normalerweise wächst in dieser Zeit die Belegschaft von rund 500 auf 1.500. Doch diesem Plan erteilte die Landesregierung Niedersachsen aufgrund des Infektionsrisikos eine Absage. Statt 1000 zusätzlich Mitarbeiter*innen sollen nun maximal 250 kommen, die Revision dafür aber statt zwei jetzt sechs Wochen dauern. Ein klassischer politischer Kompromiss. Ob die Sicherheit und der Infektionsschutz damit eingehalten werden können steht auf einem anderen Blatt. Das Bundesumweltministerium stellte schon provisorisch fest: „Kann eine Anlage die Mindestbesetzung für den sicheren Betrieb nicht sicherstellen, so ist sie abzufahren.“

Im Mai steht die Revision im AKW Emsland an, bei denen ebenfalls Hunderte externer Fachkräfte aus Deutschland und dem Ausland über Wochen auf engem Raum neben der üblichen Belegschaft arbeiten müssten. Erste Stimmen werden bereits laut, dass diese Revision aufgrund der Coronakrise ausfallen müssten. „Es kann doch nicht angehen, dass im öffentlichen Bereich der Kontakt von mehr als zwei Personen miteinander unter Androhung von Strafe verboten wird und gleichzeitig eine mehrwöchige Großveranstaltung mit über 1.000 Teilnehmern in Lingen durchgezogen werden soll,“ so Gerd Otten vom Elternverein Restrisiko Emsland.

Dabei verbietet sich eine Verschiebung von Revisionen bei alten, störanfälligen Reaktoren wie dem AKW Emsland eigentlich. Aktuell müssten beispielsweise dringend die vorhandenen Risse in Rohren im Dampferzeugersystem überprüft werden. Die Alternative wäre, das AKW im Mai ganz vom Netz zu nehmen, statt wie geplant erst Ende 2022. Ähnliche Kritik an den geplanten Revisionen wird auch in Bayern laut, wo im Juni eine Revision im Atomkraftwerk Gundremmingen C ansteht, wobei das Kraftwerk aktuell aufgrund defekter Brennelemente ohnehin vom Netz ist.


Der Blick ins Ausland

In anderen Atomstaaten haben Atomaufsichtsbehörden die Anforderungen in sicherheitsrelevanten Bereichen bereits lockern müssen, um den neuen Anforderungen der Coronavirus-Pandemie gerecht zu werden. So werden Personaluntergrenzen unterschritten, Wartungsarbeiten verzögert und Reaktoren unzulässig lang im Betrieb gehalten.

In der Schweiz hatte man kürzlich Revisionen trotz Bedenken um Ansteckungsrisiken gestattet. Im Pannenreaktor Beznau müssen daher während der aktuellen Revision statt 460 regulärer Mitarbeiter*innen einen Monat lang 860 Mitarbeiter*innen auf engem Raum zusammenarbeiten. Die 400 Externen kommen aus Deutschland, Österreich und Italien. Im nahegelegenen AKW Leibstadt verdreifacht sich während der anstehenden Revision die Zahl der Mitarbeiter*innen sogar – von 500 auf 1500 Mitarbeiter*innen. Die schweizer NGO Aefu - Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz halten es für „kaum möglich“, dass die vom Bundesrat erlassenen Corona-Vorschriften bei den meist knappen Platzverhältnissen in Atomkraftwerken einhaltbar seien. Sie fordern daher: „AKWs bei allenfalls mangelndem Personal abschalten als ein erhöhtes Risiko eingehen – ausgerechnet während des Corona-Notstandes.“ Erste positive SARS-CoV-2-Fälle gibt es in der Schweiz schon bei mindestens 10 Mitarbeiter*innen schweizer Atomkraftwerke.

Die zuständige Behörde in den USA hat bereits vorgeschlagen, kritische Techniker in den Atomkraftwerken des Landes zu isolieren und sie zu bitten, vor Ort zu leben, um eine Exposition gegenüber dem Virus zu vermeiden. Auf der Grundlage von Pandemieplänen verfügen Atomkraftwerke in den USA über Kinderbetten, Decken, chemische Toiletten und genügend persönliche Pflegeartikel um die Betriebsmannschaften einer Anlage samt Familien zu versorgen.

Andere Betreiber geben der Sicherheit den Vorrang: die Wiederaufbereitungsanlage im englischen Sellafield wurde vor kurzem temporär stillgelegt, nachdem mehr als 1.000 der 11.500 Mitarbeiter*innen in die Selbstisolation gehen mussten, da sie Symptome von Atemwegsinfekten zeigten, zur Risikogruppe gehörten oder erkrankte Familienmitglieder haben. Ohne die Mitarbeiter*innen wäre ein sicherer Betrieb nicht möglich gewesen, weshalb man sich entschloss, die Anlage vorerst abzuschalten.

Verbindliche internationalen Regelungen, wie sich Atomkraftwerksbetreiber auf den Fall einer Pandemie vorbereiten müssen gibt es nicht.


Ausblick

In jeder Krise steckt auch eine Chance. Bewegung kommt in festgefahrene Prozesse, Prioritäten ändern sich und feststehende Dogmen geraten ins Wanken. Anlässlich der Coronavirus-Pandemie und ihrer verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen bedarf es dringend innovativer Konzepte, die jetzt in der Krise und weit darüber hinaus nachhaltige Lösungen für den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft und die Energieversorgung präsentieren können.
Die Weichen sind in Deutschland längst gestellt: es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens von Graswurzelaktivist*innen und Endverbraucher*innen  über lokale Stadtwerke, Rathäuser und Mittelstandsunternehmen bis hoch in die großen Konzernzentralen und das Kanzleramt, dass der Ausstieg aus der Atomenergie und den fossilen Brennstoffen dringend vorangetrieben und die fünf Säulen der Energiewende konsequent umgesetzt werden müssen: Energiesparmaßnahmen, Energieeffizienz, Elektrifizierung, Erneuerbare Energieproduktion und Energiespeichertechnologien.

Die Coronavirus-Pandemie kann neue Bewegung in diesen Prozess bringen und den vorgegebenen Weg beschleunigen, z.B. durch ein frühzeitiges Abschalten der maroden deutschen Altmeiler. Dies würde den Bedarf an mehr erneuerbarer Energieproduktion und damit den Innovationsdruck für Forschung und Entwicklung deutlich erhöhen. Die Welt wird „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein. Die richtigen politischen Entscheidungen von heute können dafür sorgen, dass die Gesellschaft und unsere Infrastruktur aus dieser Krise nicht schwächer sondern robuster und nachhaltiger hervorgeht.


Weitere Informationen
Pistner C et al. „Nuclear Safety and Security during a Pandemic“. International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG) Working Paper, 24.04.2020.
www.inrag.org/wp-content/uploads/2020/04/V01_-20200424-INRAG_Covid19_and_Nuclear_Safety.pdf


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