Artikel von Dr. Alex Rosen

Schilddrüsenkrebs in Fukushima

9 Jahre nach dem mehrfachen Super-GAU

09.03.2020 Am 13. Februar tagte in Fukushima das Aufsichtskomitee der Fukushima Gesundheitsmanagementstudie (Fukushima Health Management Survey) und stellte die neuen Daten der Schilddrüsenuntersuchungen vor (Stand 30. September 2019). Nach der initialen  Reihenuntersuchung an rund 300.000 Kindern, die zum Zeitpunkt des mehrfachen Super-GAUs in der Präfektur Fukushima gelebt haben oder kurz darauf zur Welt kamen (2011-2014), fanden im Anschluss alle zwei Jahre Nachuntersuchungen dieser Kinder statt. Die Zweituntersuchung ist bereits abgeschlossen, die Drittuntersuchung im letzten Stadium und seit 2018 läuft bereits die vierte Untersuchungsreihe.

Auch in dieser Runde zeichnen sich vor allem drei Trends weiter deutlich ab:



Trend 1: Steigende Zahl von Schilddrüsenkrebsfällen
In der Erstuntersuchung in Fukushima fand man in den Jahren 2011-2014 101 bestätigte Krebsfälle (bei 14 weiteren Verdachtsfällen mit pathologischen Ergebnissen in der Feinnadelbiopsie, die aber bislang noch nicht operiert wurden). Diese unerwartet hohe Zahl wurde von der Fukushima Medical University damals mit einem Screening-Effekt erklärt, also dem Phänomen, dass man bei groß angelegten Reihenuntersuchungen mehr Krankheitsfälle identifiziert, als man in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen erwarten würde.

Während das genaue Ausmaß des Screeningeffekts in diesem Zusammenhang nicht abschließend geklärt werden kann, ist ausgeschlossen, dass es sich bei den erhöhten Krebsraten in den nachfolgenden Untersuchungen um Folgen eines Screeningeffekts handelt, denn all diese Kinder waren ja im Vorfeld schon voruntersucht und für krebsfrei befunden worden. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den Screeninguntersuchungen entwickelt haben.

In der 2. Screeningrunde fand man bislang 52 Krebsfälle (mit 19 weiteren, bislang unoperierten Verdachtsfällen). In der 3. Screeningrunde kamen weitere 24 Fälle hinzu (mit 6 bislang unoperierten Verdachtsfällen). Auch in der aktuell laufenden 4. Runde kam es bereits zu 8 Neudiagnosen (bei 8 weiteren, bislang unoperierten Verdachtsfällen).

Jugendliche der Untersuchungskohorte, die 25 Jahre alt werden, werden aus der offiziellen Hauptstudie ausgeschlossen und in eine neu erschaffene Kohorte der Über-25-Jährigen übertragen. In dieser Gruppe wurde bislang genau ein neu diagnostizierter Schilddrüsenkrebsfall registriert, drei weitere histologische Verdachtsfälle warten noch auf eine bestätigende Operation. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen: die Teilnahmequote in dieser Ablegerstudie beträgt gerade einmal 9,6%. Die Schaffung einer neue Studienkohorte wird allgemein als Maßnahme der FMU gewertet, die Zahl der diagnostizierten Krebsfälle weiter zu reduzieren.

Zu diesen Zahlen hinzu kommen 11 Schilddrüsenkrebsfälle, die bei Kindern aus der Untersuchungskohorte diagnostiziert wurden, allerdings nicht im Rahmen der Screeninguntersuchungen sondern im Universitätsklinikum von Fukushima. Diese 11 Fälle werden nicht offiziell zu den Ergebnissen der Fukushima Medical University hinzugerechnet, obwohl sie identische Tumorentitäten zeigen und bei Patienten aufgetreten sind, die sich eigentlich in der Untersuchungskohorte der Schilddrüsenstudie befinden. Die Patienten wurden allerdings aus der Studie heraus aufgrund von auffälligen Befunden ins „klinische follow-up“ geschickt, also zu weiteren Untersuchungen. Wenn im Rahmen dieser Nachuntersuchungen ein Schilddrüsenkrebsfall auffällt, wird er nicht zu den offiziellen Zahlen hinzugezählt, was Tür und Tor für ein systematisches Herunterspielen der tatsächlichen Fallzahlen öffnet. Die 11 Fälle wurden im Juni 2017 bekannt. Wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind ist unbekannt. Zudem stehen Daten anderer Krankenhäusern in Japan nicht zur Verfügung und Patienten aus verstrahlten Gebieten außerhalb der Präfektur Fukushima werden ohnehin nirgendwo erhoben, so dass die Dunkelziffer der Schilddrüsenkrebsfälle bei Patienten, die zum Zeitpunkt der Super-GAUs Kinder in den verstrahlten Gebieten waren, deutlich höher liegen dürfte.

Dessen ungeachtet liegt die Gesamtzahl an Schilddrüsenkrebsfällen in Fukushima aktuell bei 197 (185 offizielle Fälle aus den Reihenuntersuchungen, 1 Fall aus der Ü25-Kohorte und 11 Fälle aus der Universitätsklinik Fukushima). Die offizielle Zahl weiterer, bislang nicht operierter Verdachtsfälle liegt aktuell bei 50.

 

Interessant wird es nun bei einem Vergleich dieser Zahlen mit der japanweiten Neuerkrankungsrate. Die offizielle Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 25 Jahren in Japan beträgt pro Jahr rund 0,59 pro 100.000. Das bedeutet, dass in einer Kohorte von rund 300.000 Kindern pro Jahr ca. ein neuer Schilddrüsenkrebsfall zu erwarten wäre. Heute, 9 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe in der untersuchten Bevölkerung von mittlerweile knapp 218.000 Patienten wären demnach 11,5 Schilddrüsenkrebsfälle zu erwarten gewesen.  

Die tatsächliche Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle in Fukushima liegt allerdings um ein vielfaches darüber: 197 diagnostizierte Fälle bedeuten eine Steigerung gegenüber der zu erwartenden Fallzahl von 11,5 Fällen um den Faktor 17. Betrachtet man ausschließlich die 96 Fälle, die nach der Erstuntersuchung diagnostiziert wurden und somit nicht im Verdacht stehen, durch einen wie auch immer gearteten Screeningeffekt verursacht zu sein, beträgt der Faktor gegenüber der zu erwartenden Zahl an Schilddrüsenkrebsfällen seit Ende des 1. Screenings (4,1) sogar 23.

In der folgenden Grafik wurden die bislang diagnostizierten Schilddrüsenkrebsfälle (in blau) den rechnerisch in der Untersuchungskohorte zu erwartenden Fälle (in orange) gegenübergestellt. Man sieht, dass die Fallzahl im Laufe der 1. Screeninguntersuchung kontinuierlich anstieg, aber auch darüber hinaus, in den Jahren 2014-2020 weiter kontinuierlich zunimmt, was durch einen Screeningeffekt nicht zu erklären wäre.

Die sinkende Zahl der zu erwartenden Schilddrüsenkrebsfälle in den Jahre 2016-2020 ist übrigens den sinkenden Teilnahmezahlen an den Screeninguntersuchungen zuzuschreiben (von rund 300.000 auf 218.000). Da die Erkrankungen dieser Menschen nicht mehr im Screening auffallen würden, sinkt auch die Zahl der zu erwartenden Krebsfällen.


Bereits 2017 wurde deutlich, dass die geografische Verteilung der Schilddrüsenkrebsraten mit der vermuteten radioaktiven Belastung korrelierte. Die Präfektur Fukushima besteht aus drei Verwaltungsbezirken: dem westlichen Aizu, dem zentralen Nakadori und dem östlichen Hamadori, in dem das havarierte AKW Fukushima Dai-ichi liegt. Dieser Bezirk wurde von der FMU für die Ultraschall-Studie in 4 Untersuchungsregionen aufgeteilt: die 13 Ortschaften rund um das AKW weisen die höchste radioaktiven Verseuchung auf und bilden eine eigene Untersuchungsregion. Die Regionen rund um die Ortschaft Soma im Norden und die Ortschaft Iwaki im Süden wurde von der FMU als (Rest-)Hamadori bezeichnet. Die radioaktive Verseuchung soll im Vergleich zu Teilen des zentralen Bezirks Nakadori noch relativ gering ausgefallen sein. Am geringsten war die Belastung im westlichen gelegenen Aizu.

So lässt sich die Reihenfolge der Untersuchungsregionen mit abnehmendem Grad der radioaktiven Verseuchung wie folgt angeben: die 13 Ortschaften rund um das AKW Fukushima Dai-ichi, gefolgt von Nakadori, (Rest-)Hamadori und Aizu. Entsprechend sieht es auch mit den Krebsraten aus: die 13 Ortschaften im Osten der Präfektur Fukushima, nahe der havarierten Reaktoren, zeigten die höchsten Neuerkrankungsraten, während die Regionen Nakadori, Hamadori (Soma und Iwaki) und Aizu in Abhängigkeit ihrer Lage signifikant geringere Raten aufwiesen (Stand Juni 2017):




Trend 2: Steigende Raten an Knoten und Zysten

Wie schon in den vorausgegangenen Untersuchungsreihen finden die Forscher weiter steigende Raten an Knoten und Zysten in den kindlichen Schilddrüsen. Waren es im 1. Screening noch 48,5%, stieg diese Rate im 2. Screening auf 59,8%, im 3. Screening auf 64,9% und im aktuellen 4. Screening auf 65,7%, wobei dazu gesagt werden muss, dass hier bislang nur für knapp 43% der Studienkohorte Ergebnisse vorliegen Der Trend scheint sich jedoch seit Jahren zu verstetigen und auch hier bleiben die Mitglieder des Aufsichtskommittees Antworten schuldig.



Zudem zeigt sich in jeder Untersuchungsreihe, dass neue Krebsfälle in den vorherigen Untersuchungen noch als ungefährlich eingestuft wurden, sie sich also in der Zeit zwischen den Screeninguntersuchungen zu bösartigen (malignen) Tumoren entwickelt haben müssen. In der Zweituntersuchung fand man bei 42.436 Patienten Zysten und Knoten, die noch in der Erstuntersuchung keine gehabt hatten. In der Drittuntersuchung wurden bei weiteren 22.115, bislang als unauffällig beschriebenen, Patienten aus der Kohorte Zysten oder Knoten gefunden, in der Viertuntersuchung mittlerweile bei 9.209 weiteren. Auch gibt es in jeder Screeninguntersuchung mehrere Hundert Patienten, bei denen aus harmlos wirkenden Zysten oder Knoten (Stadium A2) auffällig große Läsionen werden (Stadium B). Aktuell ist dies beispielsweise bei 346 Patienten in der 4. Screeninguntersuchung der Fall.

Das Aufsichtskommittee hat diesmal auch die Voruntersuchungen bei bestätigten oder vermuteten Krebsfällen veröffentlicht:

  • In der 2. Screeningrunde waren 33 der 71 Krebsverdachtsfällen (46,5%) in der Erstuntersuchung noch völlig unauffällig (Stadium A1). Bei 32 Fällen (45,1%) lag in der Erstuntersuchung ein Stadium A2 mit kleinen Zysten oder Knoten vor. Lediglich in 5 Fällen (7,0%) lag in der Erstuntersuchung ein Stadium B mit auffällig großen Zysten oder Knoten vor, 1 Fall (1,4%) war in der Erstuntersuchung gar nicht untersucht worden
  • In der 3. Screeningrunde waren 6 der 30 Krebsverdachtsfällen (20%) in der vorausgehenden Untersuchung noch völlig unauffällig (Stadium A1). Bei 14 Fällen (46,7%) lag in der vorausgehenden Untersuchung ein Stadium A2 mit kleinen Zysten oder Knoten vor. Lediglich in 7 Fällen (23,3%) lag in der vorausgehenden Untersuchung ein Stadium B mit auffällig großen Zysten oder Knoten vor, 3 Fälle (10%) waren in der vorausgehenden Untersuchung gar nicht untersucht worden
  • In der aktuell noch laufenden 4. Screeningrunde waren 3 der bislang 16 Krebsverdachtsfällen (18,8%) in der vorausgehenden Untersuchung noch völlig unauffällig (Stadium A1). Bei 10 Fällen (62,5%) lag in der vorausgehenden Untersuchung ein Stadium A2 mit kleinen Zysten oder Knoten vor. Lediglich in 3 Fällen (18,8%) lag in der vorausgehenden Untersuchung ein Stadium B mit auffällig großen Zysten oder Knoten vor.

 

Es wird also deutlich, dass bei einem Großteil der Krebsverdachtsfälle in vorausgehenden Untersuchungen keine auffälligen, präkanzerösen Läsionen zu finden waren, sondern noch relativ unauffällige Befunde und dass sich die wesentliche Krebsentwicklung in dem Zeitraum zwischen den  Screeninguntersuchungen stattgefunden haben muss.



Trend 3: Sinkende Teilnehmerzahlen

Die Zahl der untersuchten Kinder sinkt seit Jahren. Waren es in der Erstuntersuchung von 2011-2014 noch rund 300.000 Kinder, deren Schilddrüsen abgetastet und geschallt wurden, sank diese Zahl in der Zweituntersuchung von 2014-2016 um 10% auf rund 270.000 und in der Drittuntersuchung von 2016-2018 um weitere 10% auf mittlerweile nur noch knapp 218.000. Bislang wurden in der Viertuntersuchung erst rund 125.000 Kinder untersucht, in der Untersuchung der Über-25-Jährigen weitere 4.200 Patienten. In relativen Zahlen ausgedrückt, ist der Prozentsatz der untersuchten Kinder in Fukushima von Anfangs 78,8% im 1. Screening auf 71,0% im 2. Screening, 57,2% im 3. Screening und aktuell im laufenden 4. Screening auf 32,9% gesunken.

Ein Teil dieses Teilnehmerschwunds ist sicherlich der Ausgliederung der Über-25-jährigen aus der Hauptstudie geschuldet. In der Kohorte der Über-25-Jährigen beträgt die Teilnahmequote an Schilddrüsenuntersuchungen gerade einmal 9,6%. In vielen klinischen Studien gibt es sogenannte „drop-outs“, also Aussteiger, die zu Nachuntersuchungen nicht mehr erscheinen. In Fukushima scheint dahinter jedoch ein System zu stecken: die für die Studie federführende Fukushima Medical University schickt seit Jahren MitarbeiterInnen an die Schulen der Präfektur, um dort Kinder über deren „Recht auf Nichtteilnahme“ und das „Recht auf Nichtwissen“ aufzuklären. Auf den Studienformularen gibt es mittlerweile auch eine entsprechende „opt-out“ Option, also eine Möglichkeit, aus dem Screening entfernt zu werden.

Es wird somit ganz bewusst in Kauf genommen und gefördert, dass Kinder aus der Studie austreten. Haben die Mitarbeiter*innen der FMU Sorge, dass der beunruhigende Trend der steigenden Zahl an Schilddrüsenkrebsfällen anhält? Sind Ihnen die Daten unangenehm, die der seit Beginn der Atomkatastrophe verbreiteten These widersprechen, dass der mehrfache Super-GAU zu keinen zusätzlichen Krebserkrankungen führen würde? Wer steckt hinter diesen Maßnahmen, die zunehmend die Integrität und Aussagekraft der eigenen Studie gefährden? Ist es die Regierung in Tokio, die sich die Renaissance der Atomenergie in Japan auf die Fahnen geschrieben hat? Oder die IAEO, die die Fukushima Medical University finanziell und logistisch bei der Durchführung der Studie „unterstützt“? Diese und andere unangenehmen Fragen wurden leider auch auf dieser Sitzung des Aufsichtskomittees nicht gestellt.



Fazit

Wir sehen in Fukushima weiterhin einen signifikanten Anstieg der Neuerkrankungsraten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Wir sehen seit Ende der Erstuntersuchung 2014 rund 23 Mal so viele Fälle wie eigentlich erwartet werden könnten. Diese Zahlen dürften aufgrund der oben erläuterten Entwicklungen gleichzeitig eine systematische Unterschätzung darstellen, wie anhand der neu publizierten Schilddrüsenkrebsfällen, die außerhalb der Studie diagnostiziert wurden, erneut deutlich geworden ist.

Zudem wird auch mit einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet, die durch ionisierte Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Schilddrüsenuntersuchungen der FMU stellen die einzigen wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen dar, die überhaupt relevante Aufschlüsse über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima liefern können. Und sie laufen derzeit Gefahr, von den Befürwortern der Atomenergie unterminiert zu werden.

Die Bewohner von Fukushima und die Menschen in Japan haben ein unveräußerliches Recht auf Gesundheit und auf ein Leben in einer gesunden Umwelt. Die Untersuchungen kindlicher Schilddrüsen kommt dabei nicht nur den Patient*innen selber zu Gute, deren Krebserkrankungen frühzeitig detektiert und behandelt werden können, sondern der gesamten Bevölkerung, die durch die freigesetzte Strahlung beeinträchtigt wird. Die korrekte Fortführung und wissenschaftliche Begleitung der Schilddrüsenuntersuchungen liegen somit im öffentlichen Interesse und dürfen nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden. Es ist wichtig, diese Entwicklungen von außen weiter kritisch zu begleiten.  

Dr. med. Alex Rosen ist Kinderarzt und Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW
Mitarbeit: Marla Feldwisch



Quellen:

 

 

zurück

Navigation