Aus dem ATOM-Energie-Newsletter März 2017

Strahlenmessung als Beruhigungsmittel

13.03.2017 Wissenschaftler in Japan haben über mehr als 4 Jahre die individuelle Strahlendosis von Menschen in Fukushima gemessen und nun die ersten Ergebnisse veröffentlicht. Was ist von diesen Messungen zu halten und weshalb fordert die japanische Atomlobby nun weniger Strahlenschutz für die Bevölkerung?

Um die gesundheitlichen Folgen einer Atomkatastrophe wie der in Fukushima ansatzweise zu erfassen, benötigt man umfangreiche Studien und große Mengen an Daten: die Cäsiumkonzentration von Bodenproben, Strahlendosen von Nahrungsmitteln, Luftmessungen, Blutproben, Ultraschallergebnisse und vieles mehr. Ein vielversprechender Ansatz wäre zudem die Messung der individuell erhaltenen Strahlendosis der Menschen in den betroffenen Gebieten. Mit diesen Daten könnte man, jenseits von Computersimulationen und hypothetischen Hochrechnungen, viel über die tatsächliche Strahlenbelastung erfahren und möglicherweise sogar konkrete Maßnahmen einleiten, um diese zu reduzieren.

Problematisch werden solche Messungen jedoch, wenn sie systematisch zu niedrige Werte produzieren und diese Ergebnisse dann von der Atomlobby dazu genutzt werden, um Schutzmaßnahmen zurück zu nehmen und die Bevölkerung in einer falschen Sicherheit zu wiegen. Genau dies ist in Japan derzeit zu beobachten.

Kurz nach Beginn der Atomkatastrophe im Jahr 2011 wurden in einzelnen Gemeinden in Fukushima Glass-Dosimeter an die Bevölkerung verteilt, die die individuelle Strahlendosis messen können. Das wohl umfangreichste Messprogramm wurde in der Stadt Date durchgeführt, die etwa 50-60 km nordwestliche der havarierten Atomreaktoren liegt. Insgesamt erhielten 65.000 Menschen Dosimeter, deren Daten nun ausgewertet werden.

Eine erste publizierte Studie von Miyazaki und Hayano erschien Ende 2016 in einer Fachzeitschrift für Strahlenschutz. Die Studie untersucht die Differenz zwischen individuell gemessener und errechneter Strahlenexposition der Bevölkerung im Zeitraum zwischen 5 und 51 Monaten nach den Kernschmelzen im März 2011 (August 2011 – Juni 2015). Die errechneten Werte basierten auf Strahlenmessungen, die durch Flugzeuge in einer Flughöhe von etwa 300m gewonnen wurden. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die individuell gemessenen Strahlendosen nur 15% der errechneten Strahlendosen betrugen. Schon jetzt wird diese Aussage von der Atomlobby genutzt, um die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe erneut klein zu reden.

Dabei ist zu bedenken, dass die Strahlenmessgeräte für Atomarbeiter konzipiert wurden, die klassischerweise einer Strahlenbelastung von vorne ausgesetzt sind. Sie sind nicht dafür gemacht, Strahlung zu messen, die von allen Seiten gleichzeitig kommt und so wird die tatsächliche Strahlendosis von den Messgeräten unterschätzt. Dieser Tatsache sind sich übrigens auch die Autoren der Studie bewusst. Sie schreiben, dass die Glasdosimeter an Phantompuppen in „anterior-posteriorer Geometrie“ kalibriert werden, während Bewohner der kontaminierten Gegenden Strahlung aus allen Richtungen ausgesetzt sind, da radioaktives Cäsium nach dem Atomunglück von Fukushima „nun fast gleichmäßig verteilt in der Umwelt vorkommt“.

Zudem ist zu bedenken, dass die Autoren explizit angeben, dass sie keine Möglichkeit haben, zu verifizieren, dass die Dosimeter tatsächlich korrekt eingesetzt wurden, also ob und wie sie getragen wurden. Eine falsch zu hohe Dosis ist dabei sehr unwahrscheinlich, eine falsch zu niedrige Dosis könnte allerdings sehr einfach durch schlichtes Vergessen des Dosimeters im Schrank, falscher Tragrichtung des Dosimeters zum Körper hin oder sogar der bewussten oder unterbewussten Veränderung des Alltagsverhaltens durch die Teilnahme an der Studie zustande kommen – ein systemischer Fehler, der aus vielen in-vivo-Studien bekannt ist: Menschen, die sich darüber bewusst sind, dass ihre Strahlendosis gemessen wird, könnten gerade deshalb ihr Verhalten entsprechend anpassen, um möglichst wenig Strahlung ausgesetzt zu sein, während sie wenige Wochen nach den Messungen wieder riskantere Verhaltensweisen aufzeigen. Riskant ist in vielen  Gebieten Fukushimas und der benachbarten Präfekturen bereits ein Spaziergang im Park oder im Reisfeld, das Mähen eines potentiell kontaminierten Rasens, das Spielen auf einer Wiese, der Besuch eines Spielplatzes oder der Aufenthalt im Freien an einem windigen Tag.

Es wird also deutlich: die Mittelwerte der Dosismessungen sagen wenig aus über die tatsächlichen Risiken. Es sind in solchen Situationen die Extremfälle, die die höchste Aussagekraft darüber besitzen, welche Risiken durch die Strahlung möglicherweise vorliegen. Beim Strahlenschutz sollte es daher nicht um den Bevölkerungsdurchschnitt gehen, sondern um die maximal exponierten – und diejenigen mit der höchsten Empfindlichkeit gegenüber Strahlung: den Kindern und dem ungeborenen Leben.

Abschließend darf nicht vergessen werden, dass Dosimeter lediglich Gamma-Strahlen messen, also Strahlung mit einer hohen Wellenlänge, aber einer niedrigen Frequenz. Die biologisch gefährlichere Alpha- und Beta-Strahlung, die beispielsweise durch radioaktives Cäsium, Strontium oder Jod entsteht und die nach Aufnahme der strahlenden Partikel mit der Luft, der Nahrung oder dem Trinkwasser umliegendes Gewebe im Körper über lange Zeiträume schädigen kann, kann von den Dosimetern nicht erfasst werden.

Die klinisch relevante Aussagekraft der individuellen Strahlenmessungen ist daher für die Menschen in Fukushima, deren Hauptrisiko in der internen Verstrahlung durch Aufnahme radioaktiver Partikel besteht, zumindest fragwürdig. Gänzlich von der Hand zu weisen sind alle Versuche, auf der Basis dieser Untersuchungen die ohnehin unzureichenden Schutzmaßnahmen der betroffenen Bevölkerung zurückzuschrauben. Die Menschen in Fukushima brauchen empathische Zuwendung und Unterstützung im Umgang mit der andauernden Atomkatastrophe – und nicht weitere Versuche, ihnen durch undurchdachte Dosismessungen eine falsche Sicherheit vorzutäuschen.

Dr. med. Alex Rosen

 

Quelle:

Miyazaki M und Hayano R. „Individual external dose monitoring of all citizens of Date City by passive dosimeter 5 to 51 months after the Fukushima NPP accidents (series): 1. Comparison of individual dose with ambient dose rate monitored by aircraft survey.“ Journal of Radiological Protection, 37:1, 06.12.16.


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