Wissenschaftler verweisen auf neue Datenlage

Gefahren ionisierender Strahlung

10.10.2014 Am 8. Oktober 2014 informierte die Ärzteorganisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs / Ärzte in Sozialer Verantwortung) auf einer Fachtagung mit Politikern und Wissenschaftsjournalisten in Berlin über die gesundheitlichen Folgen ionisierender Strahlung. Der Epidemiologe Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann und der Kinderarzt Dr. med. Alex Rosen erläuterten, dass groß angelegte epidemiologische Studien der letzten 15 Jahre das Verständnis von biologischen Effekten durch Radioaktivität, Röntgenstrahlen und anderen Formen ionisierender Strahlung grundlegend verändert haben.

Neben der natürlichen Hintergrundstrahlung sind es vor allem zwei Faktoren, die für die Hauptlast der Strahlenexposition der Weltbevölkerung verantwortlich seien: die radiologische Diagnostik der modernen Medizin und die unterschiedlichen Bereiche der Atomindustrie. In der Medizin werden die neueren epidemiologischen Daten aus der Strahlenforschung sehr ernst genommen und der Trend geht zu einem deutlich sparsameren Einsatz ionisierender Strahlung. Vor allem die konventionelle CT-Diagnostik wird mehr und mehr durch low-dose Anwendungen, MRT und Sonographie ersetzt. In der Atomindustrie scheinen die wissenschaftlichen Erkenntnisse jedoch noch nicht angekommen zu sein. Hoffmann und Rosen verwiesen auf die Diskussion um die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima und die Debatten um die langfristige Lagerung von Atommüll, den Rückbau von Atomkraftwerken oder die Liberalisierung der Freigaberegelungen für radioaktiv kontaminierte Abfälle. Hier werden von Seiten der Atomlobby und einiger industrienahen Institutionen überholte Grenzwerte und realitätsfremde Strahlenschutzvorstellungen aufrecht erhalten.

Dabei ist die Datenlage mittlerweile erdrückend: Erst 2013 veröffentlichten australische Forscher in der angesehenen Fachzeitschrift "British Medical Journal" (BMJ) eine Analyse von über 10 Millionen Patientendaten, die eine Erhöhung des Krebsrisikos um ca. 24% durch eine einzige CT-Untersuchung (durchschnittliche Strahlendosis 4,5 mSv) zeigte. Jedes weitere CT ließ das Risiko um zusätzliche 16% steigen, bei Kindern war der Effekt sogar noch ausgeprägter. Erst im Vorjahr hatten britische Wissenschaftler ähnliche Ergebnisse in der Zeitschrift "The Lancet" veröffentlicht. Zudem ist bereits seit den 1950er Jahren bekannt, dass vor allem Säuglinge und Föten im Mutterleib eine stark erhöhte Strahlensensibilität besitzen. Schon ein einzelnes Röntgenbild während der Schwangerschaft führt zu einer messbaren Erhöhung des späteren Leukämierisikos der Kinder. Neuere Studien zeigen zudem Dosis-Wirkungsbeziehungen zwischen natürlicher Hintergrundstrahlung oder beruflicher Exposition mit ionisierender Strahlung und dem Risiko für Krebs und Herzkreislauferkrankungen. Ein Schwellenwert ist in keiner dieser Studien erkennbar. Die in Fukushima aufgestellte Behauptung, dass selbst Strahlendosen von bis zu 100 mSv keine messbaren gesundheitlichen Folgen haben würden, ist deshalb wissenschaftlich unhaltbar.

Zudem wurden auch ohne massive Katastrophen rund um deutsche, englische, französische und schweizerische Atomkraftwerke erhöhte Krebsraten bei Kindern festgestellt. Hinzu komme die absehbare Belastung zukünftiger Generationen durch Tausende Tonnen von radioaktivem Abfall durch abgenutzte Brennstäbe, ausrangierte Atomsprengköpfe und stillgelegte Atommeiler. Wie eng diese unterschiedlichen Aspekte der Atomindustrie mit einander verzahnt sind, wird laut Rosen an internationalen Konzernen wie AREVA deutlich, die „vom Uranbergbau über den Transport und die industrielle Aufbereitung spaltbarer Materialien, der zivilen Atomenergie, der Produktion von Atomwaffen bis hin zur Atommüllaufbereitung und -lagerung alle Abschnitte der sogenannten „Nuklearen Kette“ bedienen – und damit verdienen“.

Wissenschaftler und Ärzte fordern eine Anpassung des Strahlenschutzes an den aktuellen Stand der Wissenschaft, eine konsequente Minimierung der Strahlenexposition der Bevölkerung und eine evidenzbasierte öffentliche Diskussion: „Welches gesundheitliche Risiko durch ionisierende Strahlung als akzeptabel und zumutbar angesehen wird, bedarf einer gesellschaftspolitischen Entscheidung mit Einbeziehung der Betroffenen“, so das Schlusswort des Grundlagenpapiers, das Hoffmann und Rosen im Rahmen der Fachtagung in Berlin vorstellten*.

Dr. Alex Rosen

*Ulmer Expertenpapier "Gefahren ionisierender Strahlung" unter www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Ulmer_Expertentreffen_-_Gefahren_ionisierender_Strahlung.pdf

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