Kein Gesundheitssystem der Welt kann sich auf einen Atomkrieg vorbereiten. Als Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges ist unsere Botschaft heute deshalb vielleicht wichtiger denn je: Wir werden Euch nicht helfen können. Die „Weltuntergangsuhr“ ist vor wenigen Wochen auf 89 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt. Damit stehen wir nach Meinung von Wissenschaftler*innen so nah an einer globalen Katastrophe wie nie zuvor.
Albert Einstein, Robert Oppenheimer und andere hatten die Uhr 1947 als Metapher für die Gefahr einer menschengemachten Apokalypse erfunden, aus Sorge vor dem beginnenden atomaren Wettrüsten. Heute fließen nicht nur die Bedrohung durch Atomwaffen, sondern auch Klimawandel, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz in die symbolische Uhrzeit ein.
Die multiplen Krisen erhöhen die Gefahr eines Atomkrieges, der unverändert die größte akute Bedrohung für das globale Überleben darstellt. In einem Atomkrieg in Europa mit Einsatz von weniger als drei Prozent der Atomwaffen in den globalen Arsenalen würden sofort über 100 Millionen Menschen sterben, wie eine aktuelle Studie der Rutgers-Universität ergeben hat. [1]
Die Aufwirbelung von Ruß und Staub aus den brennenden Städten würde zur Verdunkelung der Atmosphäre mit nachfolgenden Ernteausfällen und Hungersnöten führen („nuklearer Winter“). Über zwei Milliarden Menschen würden verhungern – also ein Viertel der Weltbevölkerung. Der weltweite Zusammenbruch von Infrastruktur, Wirtschaft und Sozialsystemen wäre die Folge. Effektive humanitäre Hilfe wäre unmöglich. Auch wenn dieses Szenario unvorstellbar erscheint, müssen wir es sehr ernst nehmen: Zu groß ist die Gefahr, dass eine kriegerische Eskalation oder auch menschliche oder technische Fehler zum Einsatz von Atomwaffen führen.
Bereits der Einsatz einer einzigen Atomwaffe hätte katastrophale Folgen für Menschen und Umwelt. Eine moderne Atomwaffe hat die vielfache Sprengkraft der Hiroshimabombe und könnte, wenn sie über einer Großstadt abgeworfen wird, sofort über eine Million Menschen töten. [2] Im Zentrum der Explosion würden Temperaturen von mehreren Millionen Grad Celsius entstehen und alles Brennbare verdampfen oder entzünden. Eine Druckwelle würde sich mit mehrfacher Überschallgeschwindigkeit ausbreiten. Gebäude würden kollabieren, Leitungen zerfetzt und Trümmer und Fahrzeuge durch die Luft geschleudert.
Hitze und Druckwelle würden zur Entstehung von zahlreichen Feuern führen und es käme – so wie bei den Bombenangriffen auf Hamburg oder Tokio im zweiten Weltkrieg – zu einem Kamineffekt. Dabei wird durch den säulenförmigen Aufstieg heißer Gase Luft angesaugt, hurrikanartige Winde entstehen und Feuerstürme breiten sich mit rasender Geschwindigkeit aus. [3]
Bei einem Atomwaffenangriff sterben die meisten Menschen an Verbrennungen, andere werden unter zusammenstürzenden Gebäuden begraben oder von umherfliegenden Trümmerteilen verletzt. Überlebende haben häufig schwere Brandverletzungen, mehrfache Knochenbrüche und Verletzungen innerer Organe. Eine angemessene Behandlung wäre unmöglich, da der Großteil der Krankenhäuser zerstört und das medizinische Personal ebenfalls tot oder schwer verletzt wäre.
Durch die Explosion wird direkt Neutronen- und Gammastrahlung freigesetzt, die bei Menschen in der Nähe des Explosionszentrums zum sofortigen Strahlentod führen kann. Diejenigen, die sich weiter entfernt aufhalten, erhalten je nach Entfernung und Abschirmung unterschiedliche Strahlendosen, die noch Wochen später zum Auftreten der akuten Strahlenkrankheit führen können und das Risiko für Krebs und andere Erkrankungen erhöhen.
Bei der akuten Strahlenkrankheit kommt es unter anderem zu einer Schwächung von Immunabwehr und Blutgerinnung. Menschen sterben an einfachen Infekten. Es kommt zu heftigen, oft blutigen Durchfällen, zu Blutungen von Haut und Schleimhäuten und zu Haarausfall.
Außerdem käme es zur Freisetzung von über 300 verschiedenen radioaktiven Substanzen. Vor allem bei bodennahen Explosionen werden Staub und Erde radioaktiv verseucht und mit der Pilzwolke emporgeschleudert und in die Atmosphäre eingebracht. Radioaktive Teilchen in der unteren Schicht der Atmosphäre, der Troposphäre (Schicht, wo das Wetter entsteht) werden mit dem Wind verteilt und kommen mit Regen und Schnee wieder zur Erde. Radioaktive Teilchen, die in höhere Schichten der Atmosphäre (Stratosphäre) eingebracht werden, kreisen um den ganzen Globus und verteilen sich noch Jahre später als weltweiter Fallout. Bis heute leiden und sterben die Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki und der über 2.000 Atomtests an Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen.
Heutige Atomwaffen sind nicht nur um ein Vielfaches größer und zerstörerischer als die Hiroshimabombe: Simulationen und Planspiele des US-Militärs haben ergeben, dass bereits der Einsatz von nur einer Atomwaffe wahrscheinlich zur Eskalation zum globalen Atomkrieg führen würde.
Studien von Ärzt*innen der IPPNW haben gezeigt, dass das Abfeuern der Atomwaffen eines einzigen russischen U-Boots auf kritische Infrastruktur in den USA zu über sechs Millionen Toten alleine durch die Feuerstürme führen würde. [4]
Ein Angriff mit 262 Atomwaffen auf die USA würde bis zu 100 Millionen Todesopfer durch Feuerstürme fordern.[5] Die globale Temperaturabkühlung und die Ernteausfälle nach einem großen Atomkrieg wären so drastisch, dass innerhalb der folgenden zwei Jahre fünf Milliarden Menschen verhungern würden, ein Team der Rutgers-Universität berechnet hat. Insgesamt gibt es derzeit noch etwa 12.121 Atomwaffen in den weltweiten Arsenalen, davon fast 90 Prozent in den USA und in Russland. [6]
Etwa 1.800 Atomwaffen stehen zwischen Russland und den USA auf höchster Alarmstufe und sind innerhalb von Minuten einsatzbereit. Wenn auf den Radarschirmen ein gegnerischer Angriff gemeldet wird, sollen die eigenen Atomraketen gestartet werden, bevor sie durch den Angriff zerstört werden. Aufgrund der kurzen Flugzeit der Interkontinentalraketen bleiben den Präsident*innen nur wenige Minuten, um über einen Gegenschlag zu entscheiden.
Die Deutsche Gesellschaft für Informatik warnt, dass in Zeiten hoher politischer Spannungen wie heute das Risiko hoch ist, dass ein Fehlalarm als echt bewertet wird und ein Gegenschlag ausgelöst wird. Es gibt viele gut dokumentierte Beispiele für Fehlalarme – z.B. 2017 in Spangdahlem in der Eifel [7] oder 2020 in Ramstein.[8] Durch die derzeit stattfindende Aufrüstung der in Rheinland-Pfalz stationierten US-Atomwaffen und durch die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland, die innerhalb von Minuten Moskau erreichen könnten, steht Deutschland besonders im Fadenkreuz.
Maßnahmen zur Risikoreduktion wie die Herabsetzung von der höchsten Alarmstufe, der Ausbau von Gesprächskanälen zwischen der NATO, USA und Russland und der Verzicht auf weitere Aufrüstungsschritte sind von höchster Dringlichkeit. Mittelfristig muss wieder abgerüstet werden. Die IPPNW hat in den 1980er und 90er Jahren durch Aufklärung über die humanitären Folgen von Atomwaffen zu den großen Abrüstungsverträgen beigetragen, unter anderem durch die Initiierung von Studien der Weltgesundheitsorganisation zu den Folgen von Atomwaffen.
Aktuell arbeiten wir darauf hin, dass die WHO auf ihrer Versammlung im Mai 2025 beschließt, ihre Arbeit zu Atomwaffen wieder aufzunehmen, um einen neuen starken Impuls für atomare Abrüstung zu setzen.
Dr. Inga Blum ist Mitglied im internationalen Vorstand der IPPNW.
[1] Xia L, Robock A, Scherrer K, et al. Global food insecurity and famine from reduced crop, marine fishery and livestock production due to climate disruption from nuclear war soot injection. Nat Food. Published online August 2022.
[2] https://nuclearsecrecy.com/nukemap/, abgerufen am 28.01.2026
[3] T.Ruff, The health consequences of nuclear explosions, Unspeakable Suffering, Reaching critical will, 2013
[4] L. Forrow, BG. Blair, I. Helfand, G. Lewis, T. Postol, V. Sidel, BS. Levy, H. Abrams and C. Cassel, Accidental Nuclear War-a Post-Cold War Assessment (1998), N Engl J Med 338, no. 18, pp. 1326-1331.
[5] I. Helfand, L. Forrow, M. McCally, and RK. Musil, Projected Us Casualties and Destruction of Us Medical Services from Attacks by Russian Nuclear Forces. Medicine and Global Survival (2002), 7(2), pp. 68-76 and Medicine and Global Survival 7 (2002), no. 2, pp. 68-76.
[6] https://www.sipri.org/media/press-release/2024/role-nuclear-weapons-grows-geopolitical-relations-deteriorate-new-sipri-yearbook-out-now, abgerufen 28.01.2025
[7] https://www.lessentiel.lu/de/story/acht-minuten-raketen-alarm-auf-eifel-airbase-878197145411
[8] https://www.welt.de/politik/deutschland/article225366131/US-Basis-Ramstein-Falscher-Raketenalarm-wirft-Fragen-auf.html
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