Nur langsam offenbaren sich der Öffentlichkeit die weltpolitischen Konsequenzen des grundlegenden Wandels der US-amerikanischen Außen- und Atompolitik. Das vom Pentagon veröffentlichte neue Grundsatzdokument zur militärischen Nuklearstrategie (Nuclear Posture Review, NPR) gibt den Einblick in eine erschreckende Strategie, die zum Ziel hat, das gesellschaftliche Tabu, Atomwaffen einzusetzen, zu brechen.
Das Strategiepapier des Pentagon - fast könnte es aus Stanley Kubricks "Dr. Seltsam" stammen - enthält Planspiele für den Einsatz von Atomwaffen gegen mindestens sieben Länder, darunter Russland, China, Libyen, Syrien und natürlich die so genannte "Achse des Bösen": Irak, Iran und Nordkorea. Laut dem Papier, sollen Atomwaffen einerseits dort militärisch eingesetzt werden, wo die angegriffenen Ziele konventionellen Angriffen standhalten könnten; Andererseits dort, wo Ländern atomare, biologische oder chemische Waffen einsetzen oder mit deren Einsatz drohen. Zusätzlich soll die neue nukleare Strategie "im Falle von überraschenden militärischen Entwicklungen" angewandt werden, was auch immer diese ungeschickte Formulierung bedeuten mag.
Seit Hiroshima und Nagasaki wurden Atomwaffen als Ultima Ratio betrachtet. Ihr Einsatz wäre nur dann in Frage gekommen, wenn das blanke Überleben eines Volkes auf dem Spiel gestanden hätte. Unter der aktuellen Doktrin könnten Militärs im Kriegsfall Atomwaffen wie konventionelles Kampfgerät einsetzen. Ein Kommentator aus Großbritannien bemerkte: "Seit den finstersten Zeiten des Kalten Krieges war die Wahrscheinlichkeit, dass die USA bei künftigen Konflikten zu Atomwaffen greifen, nie so groß wie heute." (The Guardian, London, 10. Januar 2003)
Die Bush-Regierung hat in der Tat die atomare Hemmschwelle herabgesetzt. Im Furcht einflößenden Kauderwelsch der Pentagon-Veröffentlichung hört sich das so an: "Wir müssen bereit sein, Schurkenstaaten und ihre terroristischen Schützlinge aufzuhalten, bevor sie in der Lage sind, mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu drohen [...] Um solch feindseligen Akten zuvorzukommen oder sie zu verhindern, werden die USA, wenn nötig, präventiv handeln." Weiter heißt es: "Die USA behalten sich das Recht vor, mit aller Macht und unter Zuhilfenahme all ihrer Optionen auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die USA, ihre im Ausland stationierten Streitkräfte oder ihre Freunde und Alliierten zu reagieren."
Dies bedeutet, dass jeglicher noch so marginale Angriff auf US-Interessen - real oder eingebildet, egal von wem und wo in der Welt - der mit irgendeiner Form von chemischen, biologischen oder radiologischen Waffen geführt wird, einen atomaren Vergeltungsschlag auslösen könnte. Mit dem Strategiepapier des Pentagon wird der Atomwaffensperrvertrag Makulatur. Mit dieser neuen Strategie brechen die USA das im Jahre 1978 gegebene Versprechen, niemals Atomwaffen gegen ein Land einzusetzen, das selbst keine Atomwaffen besitzt. Sie verletzen ihre Verpflichtungen aus internationalen Verträgen, wenn sie gegen Länder, die den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet haben, Atomwaffen einsetzen. Im tieferen Sinne setzt das Strategiepapier des Pentagon einen seit den Anfängen des Kalten Krieges geheiligten Grundsatz außer Kraft, nämlich dass Abschreckung die einzige Rechtfertigung für die Stationierung atomarer Massenvernichtungswaffen sein darf, nicht aber die Absicht, sie im Kriegsfall einzusetzen. Dieser unheilvolle Präzedenzfall wird unkontrollierbare Kräfte mit weitreichenden, unvorhersehbaren und tückischen Konsequenzen in Gang setzen.
Das Strategiepapier des Pentagon offenbart auch Pläne, die nukleare Infrastruktur für den Kriegseinsatz in umfassenden Maße auszubauen. Die Bush-Regierung plant, ihre De-facto-Einhaltung des Atomteststoppabkommens zu beenden und eine neue Generation von Sprengköpfen zu entwickeln. Um die angestrebten Einsatzmöglichkeiten für Atomwaffen zu erweitern, befinden sich bereits die erddurchdringende Atomwaffe zur Zerstörung unterirdischer Ziele und die Atomwaffe mit verstärkter Strahlungswirkung (wie z.B. die Neutronenbombe) zur Verbrennung von Giftstoffen in der Entwicklung. Die Vereinigten Staaten geben gegenwärtig 45 Prozent mehr für die Arbeit an Atomwaffen aus als während des Kalten Krieges.
Warum gab es keinen Aufschrei der Empörung über diese politische Verschiebung hin zu offensichtlicher Barbarei? Die Vorbereitung einer auf dem Einsatz von Atomwaffen beruhenden US-Militärstrategie mit der beispiellosen Möglichkeit ihres Ersteinsatzes gegen Länder, die selbst keine Atomwaffen besitzen, die gewaltigen Investitionen knapper öffentlicher Mittel in die Entwicklung neuer Atomwaffen und sogar die geplante Wiederaufnahme von Atomtests sind in der Öffentlichkeit auf stillschweigende Zustimmung gestoßen. Weder Medien, noch Ethikerinnen, Ethiker, Geistliche oder Intellektuelle - all jene, die sich brüsten, Hüter unserer moralischen Werte zu sein - haben sich empört oder auch nur den leisesten Widerwillen bekundet. Immerhin wird gerade eine Art industrieller Völkermord ähnlich dem von Auschwitz vorbereitet, aber in viel größerem Maßstab.
Dieses Schweigen muss sorgfältig analysiert werden, wenn wir eine wirksame Opposition gegen die aktuelle atomare Militärdoktrin aufbauen wollen. Ich glaube, dass das öffentliche Desinteresse mit einer Terminologie in Zusammenhang steht, die vom Establishment auf subtile Weise eingeführt und vom gesamten politischen Meinungsspektrum akzeptiert wurde. Der Begriff "Massenvernichtungswaffen" ist Teil dieses Konzepts. Hierunter werden ohne Unterschied atomare, chemische und biologische Waffen zusammengefasst. Die simple Abkürzung WMD (Weapons of Mass Destruction) steht für die völlig unvergleichbaren zerstörerischen Folgen dieser völlig unterschiedlichen Instrumente des Massenmordes. Werbefachleute, die das Denken der Massen beeinflussen, wissen schon lange, dass sich die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Inhalte durch die ständige Wiederholung von mit ihnen assoziierten Schlüsselworten erhöht.
Eine nähere Betrachtung der Entwicklung und der vergangenen Einsätze von chemischen und biologischen Waffen belegt unzweifelhaft, dass diese - obschon durchaus in der Lage, Menschen entsetzliches Leid zuzufügen - um vieles weniger gefährlich und zerstörerisch sind als thermonukleare Bomben. Ein mit Tonnen konventionellen Sprengstoffs beladener B52-Bomber kann beim Einsatz gegen ein hochentwickeltes, reiches Land potenziell stärkere Verwüstungen anrichten als jede chemische oder biologische Waffe. Ein größerer atomarer Angriff kann ein riesiges, über einen ganzen Kontinent reichendes Land wie die USA unbewohnbar machen. Mit chemischen oder biologischen Waffen ist keine auch nur annähernd vergleichbare Zerstörung möglich. Trotzdem hat das konstante Gerede der Medien in den vergangenen Jahrzehnten Wirkung gezeigt: Die Auswirkungen von Atomwaffen werden weitgehend ignoriert und sich nahezu ausschließlich auf die schrecklichen Folgen eines möglichen chemischen oder biologischen Angriffs konzentriert.
Durch die Gleichsetzung dieser in ihrer zerstörerischen Wirkung unvergleichbaren Waffentypen in der Wahrnehmung der Menschen sinkt der öffentliche Widerstand gegen einen atomaren Militärschlag. Die moralischen Bedenken gegen den Einsatz von Massenvernichtungswaffen werden betäubt. Ich bin überzeugt, dass wir den Krieg gegen den Irak nicht geführt hätten, wenn sich die Medien nicht rund um die Uhr auf chemische und biologische Kampfstoffe "eingeschossen" hätten. Das Pentagon hätte auch nicht so unbekümmert über die Bombardierung Bagdads mit nuklearen "bunker-busters" (Bunkerknackern) geredet. Wenn die Medien dem unvergleichlichen Schrecken von Atomexplosionen die gleiche Aufmerksamkeit wie chemischen und biologischen Waffen widmen würden, träte das Pentagon heute nicht für eine neue atomare Militärdoktrin ein.
Die Öffentlichkeit mag sich vor biologischen Waffen ängstigen, aber es darf bezweifelt werden, dass diese Furcht bis in die inneren Flure der Macht in Washington vorgedrungen ist. Wäre die Bush-Regierung ebenso besorgt über diese Bedrohung, wäre sie weder aus dem in internationaler Zusammenarbeit entwickelten Protokoll der Biowaffen-Konvention (BWC) ausgestiegen, noch hätten sie im Dezember 2001 die fünfte Überprüfungskonferenz der Biowaffen-Konvention platzen lassen, die zum Ziel hatte, die Konvention zu stärken. Die Konferenz wurde nach dem Ausscheiden der USA im Chaos abgebrochen. Ohne amerikanische Unterstützung ist das Protokoll, das gegen biologische Verwüstungen schützen sollte, gestorben. Rufen Sie sich in Erinnerung, das dieser Vorfall sich drei Monate nach dem 11. September ereignete, auf dem Höhepunkt der staatlich geförderten Angst vor einem möglichen Terrorangriff mit biologischen Waffen.
Hätte die Bush-Regierung wirklich ein Interesse daran gehabt, die öffentliche Angst vor biologischen Kampfstoffen in den Händen von Terroristinnen und Terroristen zu zerstreuen, so hätte sie die Absender der Milzbrand-Erreger verhaftet. Es hätte ein Leichtes sein müssen, den oder die Schuldige(n) zu fassen, da genetisch nachgewiesen wurde, dass die an das Kapitol in Washington gesendeten Milzbrandsporen aus einem heimischen militärischen Biowaffenlabor stammten. Seit den Anthrax-Angriffen vom Oktober 2001 scheinen die Ermittlerinnen und Ermittler des FBI der Identifizierung der Täterin bzw. des Täters nur wenig näher gekommen zu sein. Man könnte sich fragen, ob das Vorhaben, Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern gegen Pocken zu impfen, nicht eher von der Strategie bestimmt ist, Furcht zu säen, als die Gesundheit der Bevölkerung zu sichern. Die Angst vor chemischen und biologischen Waffen ist ein Ass im Ärmel der Regierung, wenn es darum geht, einen Krieg zu schüren, in dem der Einsatz von Atomwaffen erwogen wird.
Als ich vor einigen Jahren Hiroshima besuchte, war ich von der Inschrift des dortigen Mahnmals tief bewegt: "Ruhet in Frieden, denn der Fehler soll sich nicht wiederholen." Das Verbrechen von Hiroshima kann bald noch einmal geschehen.
Bernard Lown ist Initiator und Mitbegründer der IPPNW, Präsident 1980-1982, Co-Präsident 1982-1993, Prof. emeritus der Kardiologie der Harvard-Universität in Boston, USA, Erfinder der lebensrettenden Elektro-Defibrillation, Empfänger des Friedens-Nobelpreises für die IPPNW, gemeinsam mit Evgenij Chazov.
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