Hintergrund

Der gefährliche Traum von Unverwundbarkeit

NMD

Gleichzeitig träumten beide Seiten von einem Raketenabwehrsystem, das sie vor einem atomaren Angriff schützen würde. Am spektakulärsten waren die sogenannten "Krieg der Sterne"-Pläne des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan. Es wurde jedoch eingesehen, dass eine solche "Verteidigung" zu viel kosten würde und nie 100%igen Schutz geben könnte. Diese Überlegungen hatten schon 1972 zum Raketen-Abwehrvertrag (ABM) geführt, in dem die UdSSR und die USA auf Raketenabwehrsysteme verzichteten.

Noch heute kann die Welt mehrfach vernichtet werden (Overkill), denn es gibt immer noch etwa 30.000 Atomwaffen weltweit. Die atomare Abschreckung gilt weiterhin als Eckpfeiler der Sicherheit bei allen Atommächten und ihren Verbündeten. Gerade jetzt, in einer günstigen Zeit für die Abrüstung, kehrt die US-Regierung zu ihrem alten Traum von nationaler Unverwundbarkeit zurück und entwickelt ein Raketenabwehrsystem (NMD=National Missile Defense) gegen interkontinentale Atomraketen. Experten halten diese Pläne für technisch kaum realisierbar. Zudem schützt es die USA nicht vor einem Angriff durch Marschflugkörper oder Bomben, die per Schiff, Flugzeug, LKW eingeschmuggelt werden. Dazu kommen die enormen Anfangskosten von 60 Milliarden US-Dollar. Die US-Regierung erklärt, das System sei nicht gegen Russland oder China (die die USA mit ballistischen Raketen erreichen können), sondern gegen zukünftige Gegner gerichtet, wie z.B. Nordkorea oder Iran, obwohl keiner dieser Staaten solch weitreichende Raketen besitzt.

Die Pläne eines US-Raketenabwehrsystems bedrohen vor allem die Abrüstung. Russland und China befürchten, ein solches System würde ihnen die Fähigkeit zu einem Zweitschlag wegnehmen. Wenn China deshalb mehr Atomwaffen baut, werden Indien und Pakistan nachfolgen. Zudem hat Russland erklärt: Wenn die USA ihr System realisieren, werden sie bestehende Abrüstungsverträge aufkündigen.

Wie soll das System funktionieren?
Die geplante Nationale Raketenabwehr (NMD: National Missile Defense) soll das gesamte Territorium der USA, einschließlich Hawaii und Alaska, gegen einen begrenzten Angriff durch Interkontinentalraketen schützen. Schnelle Abfangraketen sollen vom Boden aus anfliegende Sprengköpfe außerhalb der Atmosphäre durch Zusammenprall zerstören.

Um angreifende Flugkörper unterscheiden und den eigenen Abwehrvorgang koordinieren zu können, ist ein komplexes System aus Sensoren, Kommunikationeinrichtungen und Waffensystemen erforderlich, das von der Einsatzzentrale in den Cheyenne Mountains (Colorado) koordiniert wird. Um die hohe Treffgenauigkeit über Tausende von Kilometern zu erreichen, muss der angreifende Flugkörper frühzeitig entdeckt, erkannt und über die Flugbahn hinweg verfolgt werden. Dazu sind Radaranlagen auf der Erde und im Weltraum vorgesehen. In der letzten Phase vor dem Zusammenprall soll die Zielannäherung durch hochempfindliche Wärmesensoren gesteuert werden.

Derzeit werden die vorhandenen Frühwarnradars der USA in Thule (Grönland), Fylingdales (Großbritannien) sowie Clear Air Station (Alaska) modernisiert. Bis zu acht weitere phasengesteuerte Radars sind in Vorbereitung. Umstritten ist, ob eine von den USA bereitgestellte Radarstation in Norwegen Daten von russischen Raketentests für das NMD-System nutzt. Neben einer Nutzung vorhandener Frühwarnsatelliten sollen bis zu 30 Infrarotsatelliten den gesamten Flugverlauf einer ballistischen Rakete verfolgen.

Daneben wird in den USA auch an der Abwehr von Raketen kurzer Reichweite (Theater Missile Defense, TMD) gearbeitet, um die eigenen oder alliierte Truppen auf den potentiellen Kriegsschauplätzen der Welt zu schützen. Die US-Armee entwickelt ein System zur Flächenverteidigung gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen (THAAD: Theater High Altitude Area Defense). Um diese Raketenabwehrsysteme rasch in Krisenregionen transportieren zu können, plant die US-Marine ein schiffgestütztes Abwehrsystem geringerer Reichweite sowie ein umfassenderes Abwehrsystem mit erheblich größerer Reichweite. Seit Jahren schon arbeiten die USA mit ihren NATO-Verbündeten an der Integration von TMD in die Erweiterte Luftverteidigung, zum Teil durch eine Weiterentwicklung der PATRIOT-Rakete, aber auch durch Neuentwicklungen mit europäischen Staaten. So unterzeichnete Deutschland Ende Mai 2000 ein Kooperationsabkommen über die Entwicklung von MEADS (Medium Extended Air-Defense System). Die USA sind bemüht, weitere nahestehende Staaten wie Israel, Japan, Südkorea und Taiwan in ihre TMD-Pläne einzubeziehen.

Bereits mit der Abwehr von Kurzstreckenraketen haben die USA erhebliche Probleme, wie das Versagen der PATRIOT-Raketen im Golfkrieg zeigte. Ungleich schwerer ist die Zerstörung der weit schnelleren Interkontinentalraketen im Flug, denn ihre Geschwindigkeit ist etwa zehn mal höher die einer Gewehrkugel. Trotz der mehr als 100 Milliarden Dollar, die die USA bislang in die Raketenabwehr investiert haben, ist es selbst unter künstlichen Versuchsbedingungen nicht gelungen, eine einzelne anfliegende Interkontinentalrakete zuverlässig zu treffen. Hinzu kommt, dass jedes Land, das eine solche Rakete entwickeln und testen kann, auch in der Lage ist, Gegenmaßnahmen zu entwickeln, um das Abwehrsystem zu täuschen. Das gelingt mit höheren Raketen- und Sprengkopfzahlen oder der Verwendung billiger Attrappen und Täuschkörper, die eine Ortung im Weltraum nahezu unmöglich machen. Schließlich kann eine Abwehr durch andere Transportmittel (Lastwagen, Schiffe, Privatflugzeuge) umgangen werden.

Die Entscheidung - wann, wie und warum?
Trotz internationaler Bedenken bleibt US-Präsident George W. Bush bei den Plänen ein Raketenabwehrsystem aufzubauen.. "Um unser eigenes Volk, unsere Verbündeten und Freunde zu schützen, müssen wir wirksame Raketenabwehrsysteme entwickeln und aufbauen," sagte er in seiner ersten Rede vor dem US-Repräsentenhaus. Während der Wahlkampf plädierte George W. Bush für ein flächendeckendes Abwehrsystem und einen robusteren Abwehrgürtel.

Aufgrund eines Beschlusses des US-Kongresses verschob US-Präsident Bill Clinton im Sommer 2000 die Entscheidung über den Beginn der Stationierung von NMD im Zeitraum 2003 bis 2005. Vier Kriterien sollen seiner Stationierungsentscheidung zugrunde gelegt werden: 1. Die tatsächliche Bedrohung durch ballistische Raketen; 2. die Ergebnisse der Tests und damit die Frage der ``technologischen Reife'; 3. die finanziellen Kosten und 4. die Konsequenzen für die Rüstungskontrolle und den ABM-Vertrag.

Alle vier Kriterien sprechen derzeit eher gegen eine Stationierung von NMD. Die technische Machbarkeit ist nach dem fast vollständig fehlgeschlagenen Versuchsprogramm mehr als fraglich. Von den seit 1976 durchgeführten 18 Tests konnte lediglich der Versuch vom 2. Oktober 1999 mithilfe einiger Tricks als Erfolg dargestellt werden. Der Zielflugkörper übermittelte per Sender seine genaue Position an die Abwehr, die das Ziel nur fand, weil ein großer hellbeleuchteter Ballon in unmittelbarer Nähe war. Zudem wurden bei dem Versuch nur Teilkomponenten verwendet, so dass von einem unter realistischen Bedingungen erprobten Gesamtsystem nicht gesprochen werden kann. Noch schlechter verliefen die beiden Folgetests, wobei das Scheitern des als entscheidend klassifizierten Versuch vom 7. Juli 2000 die weitere Planung von NMD in Frage stellt.

Sollte eine bilaterale Anpassung des Raketenabwehrvertrags mit Russland nicht erreicht werden, würde Bush für die unilaterale Aufkündigung des ABM-Vertrages eintreten. Außenminister Colin Powell hält den 1972 zwischen Moskau und Washington abgeschlossenen Raketenabwehrvertrag "in seiner jetzigen Form" für das neue strategische Konzept der USA für "nicht länger relevant". Verteidigungsminister Rumsfeld sieht die Notwendigkeit im Rahmen eines kräftig aufgestockten Militärhaushalts, der Ausnutzung der derzeitigen militärtechnologischen Revolution und der verbesserten Einsatzfähigkeit der US-Streitkräfte insbesondere dies: ein Abwehrsystem zum Schutz gegen Raketen, Raketenterrorismus und zur Verteidigung amerikanischer Satelliten im Weltraum.

Rumsfeld hat eine umfassende Überprüfung der amerikanischen Militärpolitik angekündigt. Die Bandbreite der neuen Gefahren rangiere von "Terroristen mit Bomben" bis hin zu "Tyrannen und Schurkenstaaten, die Massenvernichtungswaffen entwickeln wollen", sagte Bush. Das neue Verteidigungshaushalt enthält eine Anzahlung, um die technische Entwicklung der Raketenabwehr voranzutreiben. Bevor weitere Mittel bereitgestellt werden, soll jedoch zuerst die von ihm in Auftrag gegebene Überprüfung der Verteidigungsstrategie abgeschlossen sein. In seinem Haushaltsentwurf für 2002 sind die 60 Milliarden Dollar (128 Milliarden Mark), die ein Nationales Raketenschild (NMD) Schätzungen zufolge kosten würde, noch nicht enthalten. Aufgrund der unübersehbaren technischen Probleme dürften die Stationierungskosten deutlich über den Planungen liegen. Die Kosten für die ersten Ausbaustufen werden auf 50 - 60 Milliarden Dollar geschätzt. Weitere Ausbaustufen könnten die Kosten auf mehr als 150 Mrd. Dollar anwachsen lassen.

Dieses Geld sollte besser für Gesundheits- und Sozialprogramme ausgegeben werden, die dringend nötig sind. 

Folgen für Abrüstung und internationale Sicherheit
Auch wenn die technische Machbarkeit in Frage steht, sind die politischen Folgen der NMD bereits absehbar. Es besteht die Gefahr, dass das bisherige Regime zur Kontrolle und Nichtverbreitung von Atomwaffen ins Wanken gerät und die Chancen weiterer Abrüstung gegen Null gehen. Als Eckpfeiler der Rüstungskontrolle gilt der 1972 unterzeichnete ABM-Vertrag, der den USA und Russland die Entwicklung einer landesweiten Raketenabwehr untersagt (bis auf ein System mit 100 Abfangraketen an einem Ort). Sollten die USA diesen Vertrag aufkündigen, könnte die ohnehin schon zerbrechliche strategische Stabilität der nuklearen Abschreckung zusammenbrechen. Ein neues Wettrüsten oder gar ein Atomkrieg würde wieder wahrscheinlicher.

Besonders Russland und China fürchten eine einseitige Dominanz der USA, wenn ihre eigenen Atomwaffen entwertet werden und zu dem nuklearen Schwert der USA nun auch noch ein Weltraumschild hinzukommt. Sie drohen daher für den Fall einer NMD-Stationierung die Aufkündigung bestehender Abrüstungsverträge und die Modernisierung ihrer Kernwaffenarsenale an. Kaum jemand glaubt an eine Bedrohung durch Interkontinentalraketen von Iran, Irak oder Nordkorea, doch NMD würde die als "Schurkenstaaten" oder "Sorgenstaaten" abklassifizierten Länder eher noch anstacheln, Atomwaffen zu entwickeln. Für Asien ergibt sich die Gefahr eines Dominoeffekts, wenn nach Russland und China auch Indien, Pakistan oder gar Japan verstärkt versuchen sollten, die erhöhte Unsicherheit durch mehr Aufrüstung zu kompensieren. Für die Welt (einschließlich der USA und Europa) bedeutet dies nicht mehr, sondern weniger Sicherheit. 


Die Alternative heißt Abrüstung
Abrüstungsverträge bestehen bereits zwischen den USA und Russland. Dazu zählen die START I- und II-Verträge. Daneben gibt es auch Exportkontrollen für Raketentechnik, die deren Verbreitung allerdings nicht verhindern, sondern nur verlangsamen. Was fehlt, ist ein internationales multilaterales Kontrollsystem, das die Weiterverbreitung von Raketen wirksam verhindert. Boris Jelzin schlug 1999 ein globales Raketenkontrollsystem vor und sprach sich gegen eine Militarisierung des Weltraums aus. Letzteres wird auch von China unterstützt. Eine Expertengruppe auf Initiative Kanadas ging noch weiter: So soll der ABM-Vertrag gestärkt werden, eine verbesserte Frühwarnung und Informationsaustausch erreicht werden und Regelungen für den Weltraum geschaffen werden. Raketentests würden so begrenzt und schließlich ballistische Raketen unter internationaler Kontrolle abgeschafft. Besondere Bedeutung hätte ein Raketenteststopp. Die Abrüstung ballistischer Raketen, wie sie die Federation of American Scientists schon 1992 vorschlug, ließe allein die zivile Raketennutzung in der Raumfahrt zu. Raketenfreie Zonen wären dabei eine sinnvolle Ergänzung zu bestehenden atomwaffenfreien Zonen. Ein Einfrieren der Raketenarsenale und der Stopp der Raketenabwehrprogramme (Missile Freeze) wären ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Die Europäische Union sprach sich im Mai 2000 für die Einhaltung des ABM-Vertrags aus. Darauf sollte Europa aufbauen. Der erfolgversprechendste Weg zur Minderung und Beseitigung der Raketenbedrohung ist die Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses, geregelt durch einen Internationalen Vertrag zur Abschaffung aller Atomwaffen. So ist eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen möglich. 

AutorInnen: Xanthe Hall (IPPNW) & Jürgen Scheffran (IANUS)

Exemplare dieses IPPNW-Aktuells kann von der IPPNW-Geschäftsstelle abgerufen werden.


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Ansprechpartner*innen


Xanthe Hall

Abrüstungsreferentin
Expertin in Fragen zu Atomwaffen
Tel. 030 / 698074 - 12
Mobil 0177 / 475 71 94
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