Die USA entwickeln eine neue Generation von Atomwaffen. Nach sechzig Jahren atomarer Abschreckung befinden wir uns am Anfang einer neue Ära, in der es eine andere Rolle für Atomwaffen geben wird. Die bipolare Abschreckung durch die gegenseitige gesicherte Vernichtung des Kalten Krieges wird durch ein Monopol ersetzt: die USA schrecken alle anderen ab und werden selbst unantastbar - das ist die Kernaussage der neuen US-Militärstrategie "Vision 2020".
Die bipolare Abschreckung durch die gegenseitige gesicherte Vernichtung (Mutually Assured Destruction = MAD) des Kalten Krieges wird durch ein Monopol ersetzt: die USA schrecken alle anderen ab und werden selbst unantastbar - das ist die Kernaussage der neuen US-Militärstrategie "Vision 2020". Angestrebt wird die Dominanz in allen militärischen Sphären (Land, Luft, See und Weltraum) mit konventionellen und atomaren Mitteln und mit einem weltraumgestützten Abwehrsystem, das den gesamten Globus überwacht.
Mit der Entwicklung neuer Atomwaffen reagiert die US-Regierung auch darauf, dass die Menschheit und besonders die US-Amerikaner den Einsatz herkömmlicher Atomwaffen verurteilen. Ihr Einsatz als verbrecherische Un-Waffen wird nicht wirklich für möglich gehalten.
US-Militärstrategen argumentieren deshalb, die Abschreckung sei nicht mehr glaubwürdig, da man nur sich selbst abschrecke, während die Bösen keine Hemmungen kennen würden, atomare, biologische oder chemische Waffen einzusetzen.
Doch es gibt sicherlich noch andere Gründe für die Entwicklung dieser Waffen: Die zahlreichen Wissenschaftler in den Atomlabors bangen um ihre Arbeit, sollte das Arsenal nur bestehen bleiben und nicht aufgestockt werden. Wissenschaftlicher Ehrgeiz spielt auch eine Rolle: etwas Neues wird entwickelt. Und militäririsch verheißen die neuen Atomwaffen mehr Flexibilität, schließlich sollen sie tatsächlich im Krieg eingesetzt werden können und nicht nur als Drohkulisse dienen.
Die Entwicklung ist in vollem Gang: Die robuste "Earth Penetrator Weapon" (EPW) bzw. der atomare "Bunker Buster" befinden sich in der ersten Stufe der Entwicklung. Ein Prototyp soll bereits 2005 fertig sein. Er soll bei minimalem "Kollateralschaden" unterirdische Ziele zerstören können.
Doch die angebliche Harmlosigkeit dieser Waffe darf uns nicht täuschen. Wenn eine derartige Atomwaffe eingesetzt wird, befürchten Fachleute, dass sie die notwendige Eindringtiefe nicht erreicht und damit sogar mehr radioaktives Fallout (Aufschleudern nuklear verseuchter Erdpartikel) verursachen wird, als eine herkömmliche Atomwaffe mit gleicher Sprengkraft, die über der Erde explodiert. Eine zusätzliche Bedrohung kann dann noch das Ziel selbst sein - eine Verseuchung
durch nur halb zerstörte B- und C-Waffen.
Die Entwicklung neuer Atomwaffen bekräftigt die Strategie des Pentagon, den Einsatz von Atomwaffen wieder wirklich glaubhaft androhen zu können. Die Regierung Bush-Junior unterstützt dieses Ziel, während die Regierung Clinton noch eine Politik der "Mehrdeutigkeit" bei ihren Aussagen über den Atomwaffeneinsatz pflegte. Das Pentagon will deutlich machen, dass die USA willens sind, in gewissen Situationen - auch als Erste - Atomwaffen einzusetzen.
"Mit einem effektiveren Erdpenetrator könnten viele eingegrabene Ziele mit einer Waffe mit einer viel geringeren Sprengkraft angegriffen werden, als sie für eine Oberflächenexplosion benötigt würde. Diese geringere Sprengkraft würde dieselbe Zerstörung erreichen und dabei weniger Fallout (um einen Faktor von 10 bis 20) produzieren, als eine Explosion auf der Oberfläche mit größerer Sprengkraft. Für die Bekämpfung sehr tiefer oder größerer Untergrundanlagen würden penetrierende Waffen mit großer Sprengkraft zum Einstürzen der Anlagen gebraucht."
Nuclear Posture Review, 8. Januar 2002.
Das Militärische Ziel
Die Militärs suchen nach einer Waffe, die stark befestigte unterirdische Militäranlagen, Produktionsstätten oder Lager biologischer wie chemischer Waffen zerstören kann. Dafür wird entweder eine Atomwaffe neu entwickelt oder eine bestehende modifiziert. Da unterirdisch eingeschlossene Explosionen eine größere Schockwelle erzeugen, versprechen sich die Militärs eine erhöhte zerstörerische Wirkung auf ein Ziel. Dennoch, wenn die Explosion wie von Experten vermutet, nicht eingeschlossen bleibt, dann entstehen verheerende Folgen für Mensch und Umwelt.
Für größere oder sehr tief eingegrabene Anlagen plant das Pentagon laut der Washington Post vom 7. März 2003 eine Atomwaffe mit rund 75 Kilotonnen Sprengkraft, etwa fünf mal größer als jene, die in Hiroshima binnen vier Monaten 136.000 Menschen getötet hat.
Die Militärs wollen zwei Typen von Atomwaffen haben: Mininukes und Bunker Busters. Für die Entwicklung beider Typen haben Wissenschaftler bereits Aufträge erhalten.
Atomwaffen mit geringer Sprengkraft (Mininukes)
Eine Mininuke ist eine Atomwaffe mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen. Neue Forschung über kleine, technisch hochentwickelte Atomwaffen sollte demnächst beginnen.
Es gibt im US-Arsenal bereits Bomben, die als Mininukes einsetzbar sind: Die B-61 Atomwaffen-Familie kann mit einer Sprengkraft von 0,3 bis zu 340 Kilotonnen konfiguriert werden. Allerdings soll die neueste Version (B61-11) laut des im Januar 2002 veröffentlichten Überprüfungsberichts (NPR = Nuclear Posture Review) der US-Atomwaffenpolitik von 2002 eine erdeindringende Waffe mit einer festen Sprengkraftgröße wesentlich höher als fünf Kilotonnen sein.
"Keine erdeindringende Rakete kann sich so weit in die Erde bohren, dass eine Explosion vollständig dort eingeschlossen wird - selbst wenn die Sprengkraft nur ein Prozent der 15-Kilotonnen-Bombe von Hiroshima beträgt."
Robert Nelson, Physiker, Princeton University (FAS Public Interest Report, Jan./Feb. 2001)
Erdpenetratoren - nukleare "Bunker Buster"
Es gibt bereits einen konventionellen Bunker Buster, der u.a. im Irakkrieg eingesetzt wurde. Bei den "nuklearen Bunkerbrechern" handelt es sich um eine neue Generation erdeindringender Atomwaffen.
Drei Modifikationsmöglichkeiten stehen zur Verfügung: der konventionelle Bunker Buster, der vorhandene nukleare Bunker Buster (B61-11) oder eine Atomwaffe mit einer großen Sprengkraft (W-76 oder B-83).
Es wird behauptet, dass ein mit geringer Sprengkraft bestückter Atom-Bunkerbrecher mit "minimalem Kollateralschaden" einsetzbar wäre. Dabei muss eine ein-Kilotonnen-Bombe mindestens 100 Meter in die Erde eindringen, um die Radioaktivität im Untergrund eingeschlossen zu halten. Bisher gibt es jedoch kein Waffensystem, das diese Tiefe erreicht.
So dringt die 1997 als nuklearer "Bunker Buster" modifizierte, getestete und stationierte B-61-11 aus einer Höhe von gut 13.000 Metern nur bis zu sieben Meter in die Erde und 2-3 Meter in gefrorenen Boden ein. Dennoch habendie USA etwa 50 dieser Bomben zur Verfügung.
Atomwaffen mit geringer Sprengkraft müssen Vorgabewerte präzise einhalten, sonst könnte die Sprengkraft größer als vorgesehen ausfallen. Ob die Nuklearkomponente und die Elektronik des Sprengkopfes dem massiven Aufprallschock beim Eindringen in die Erde standhalten, ist sehr fraglich. Nichterdeindringende Atomwaffen erhalten für den Aufprall einen Fallschirm. Bunkerbrechende Atomsprengköpfe werden deswegen wahrscheinlich mit abgereichertem Uran gefestigt.
Wünsche der Wissenschaft
Wichtig bei der Entwicklung der neuen Waffe sind Präzision, Stabilität, geringe Sprengkraft und einfaches Design. Dennoch halten die Wissenschaftler es für wichtig, einige herkömmliche Atomwaffen mit großer Sprengkraft zu behalten, um stark gepanzerte oder sehr tief im Felsen versteckte Anlagen zu zerstören.
Die politische Entscheidung für neue Atomwaffen
Der Überprüfungsbericht der US-Atomwaffendoktrin (NPR) forderte eine Machbarkeitsstudie zu erdeindringenden Atomwaffen.
Unter Leitung der nuklearen US-Sicherheitsbehörde (NNSA = National Nuclear Security Administration) sollen binnen drei Jahren die Atomlabore Livermore, Los Alamos und Sandia ihre 45 Mio. US$ (pro Jahr 15 Millionen US$) teuren Studien fertigstellen und einen getesteten Prototyp liefern.
Das US-Energieministerium beantragte allein für das Fiskaljahr 2004 6.38 Milliarden US$ für die Modernisierung (Upgrading) aller US-Atomwaffen, die Verbesserung nuklearer Anlagen und Infrastruktur, für weitere Arbeiten an einer Machbarkeitsstudie für eine neue Atomwaffe, den nuklearen Erdpenetrator und die Einrichtung einer Fabrik zur Herstellung der Plutonium-"Pits" (Kettenreaktion auslösenden Abzug) einer Atomwaffe.
Die neue Bombenfabrik wird bis zu 500 Pits pro Jahr herstellen können, wie zu den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges. Der Bau wird insgesamt ca. 4 Milliarden kosten und der Kongress bewilligte ohne nennenswerte Debatte Anfang Dezember 2003 320 Millionen US$ für 2004, um diese Pläne voranzutreiben.
Der Kongress bewilligte auch 135 Millionen US$ für die Bereithaltung von Tritium (erhöht die Sprengkraft einer Atomwaffe) und 265 Millionen US$ für die Sanierung der Atomwaffenanlagen.
Der Entwurf einer komplett neuen Atomwaffe lässt die Wiederaufnahme von Atomtests befürchten. Der Kongress hat die Finanzierung eines Programms bewilligt, das die Vorbereitungszeit für einen Test (normalerweise drei Jahre) auf 18 Monate verkürzen soll (34 Millionen US$ in 2004).
Zudem hob der US-Senat im November 2003 ein 10 Jahre altes Verbot der Entwicklung von Mininukes auf. Die Begründung hieß: Die USA müssen neue Atomwaffen entwickeln, um sich gegen Angriffe mit chemischen, biologischen und nuklearen Waffen zu schützen. Die ersten 6 Millionen US$ wurden für Studien über neue Atomwaffendesigns bewilligt.
"Die USA braucht zweifellos neue Atomwaffen ... weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Zerstörungskraft der Waffen, die aus dem Kalten Krieg übrig geblieben sind, für die Zwecke der Abschreckung in einer multipolaren Welt mit hohem Proliferationsniveau zu groß ist. Wenn wir die Situation nicht ändern, schrecken wir uns nur selbst ab."
Paul Robinson, Direktor des Sandia-Labors, 28. März 2000
IPPNW Studie warnt vor den Folgen eines nuklearen "Bunker Buster"- Einsatzes
Staub, Trümmer und Strahlung: Eine erdeindringende Atomwaffe mit nur sehr geringer Sprengkraft, die innerhalb oder in der Nähe eines dicht besiedelten Gebietes zur Detonation käme, würde mit ihrem Fallout radioaktiven Staub, Trümmer und anderes radioaktives Material über mehrereQuadratkilometer verteilen. Eine Bombe von einer Kilotonne hinterlässt dabei fast eine Million Tonnen Staub und Trümmer und die freigesetzte Strahlung wird nicht unter der Erde gehalten.
Hohe Opferzahlen: Auch Atomwaffen mit geringer Sprengkraft, d.h. mit weniger als einem Zehntel der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe, können die Zivilbevölkerung einer tödlichen Strahlung aussetzen und Zehntausende von Opfern fordern. Die Opferzahlen dieser Größenordnung würden selbst die effektivsten medizinischen Versorgungssysteme überfordern.
Gesundheitliche Auswirkungen: Eine IPPNW-Studie nennt - abhängig von der Strahlungsart - u.a. Erbrechen, Durchfall sowie Flüssigkeits- und Elektrolytverlust, Schäden des Verdauungstrakts sowie die Anfälligkeit des Knochenmarks und anderer Immunabwehrzellen. Schwere Anämie, Blutungen und Folgeinfektionen wären weitere verbreitete Phänomene. Außerdem können die Strahlenbelastungen zu Krebserkrankungen führen, die erst Jahre nach der Bestrahlung auftreten. Keine spezielle Therapie: Nach dem ersten Auftreten von Frühsymptomen kann der Tod je nach Dosis innerhalb von Minuten, Stunden oder Wochen eintreten. Die Medizin ist bei akuten Strahlenschäden auch in Friedenszeiten relativ hilflos, denn es gibt keine spezielle Therapie für akute Strahlenschäden. Mehr als unterstützende Behandlungsmethoden wie Infusionen, Bluttransfusionen und Antibiotika kann den Patienten nicht angeboten werden.
Weitere Informationen:
IPPNW-Akzente: Die Bedrohung der Zivilbevölkerung durch erdeindringende Atomwaffen geringer Sprengkraft: Nukleare "Bunkerknacker" und ihre medizinischen Folgen.
Dr. med. Victor Sidel, Dr. med. Jack Geiger, Dr. med. Herbert L. Abrams, Dr. phil. Robert W. Nelson, John Loretz; IPPNW , Berlin 2003
Zu beziehen über die IPPNW Geschäftsstelle, 1 Euro zzgl. Porto.
Zusammenstellung; Xanthe Hall, Dr. Jens-Peter Steffen
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