Berlin- Vor den sicherheitspolitischen Folgen der Raketenabwehrpläne der USA warnen Mitglieder des Europaparlaments, nationaler Parlamente und Repräsentanten internationaler Friedensorganisationen. Ein heute zeitgleich in Sydney, Washington und London vorgestelltes Schreiben an zahlreiche Präsidenten und Minister fordert, die globale Sicherheit und Stabilität nicht durch ein fragwürdiges Abwehrsystem zu gefährden sondern alle noch im Alarmzustand gehaltenen Atomwaffen zu deaktivieren. Zugleich müssten der START-Prozess vorangetrieben und entschiedenere Maßnahmen gegen die Proliferation ballistischer Raketen eingeleitet werden.
Für die mehr als 610 unterzeichnenden Personen und Organisationen würde dies ermöglichen, dass die Atomwaffenstaaten ihren Verpflichtungen aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag gerecht werden und ihre Atomwaffen vollständig abrüsten. Diese Schritte böten letztendlich jene Sicherheit, die die USA und ihre Alliierten durch eine Raketenabwehr erhalten wollen. Es folgt der Brieftext in einer deutschen Übersetzung: Internationaler Aufruf gegen den "Krieg der Sterne", gegen die sogenannte Raketenabwehr
( Stand der Unterschriften: 610 )
An:
PRÄSIDENT GEORGE W. BUSH, VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA; GENERAL COLIN POWELL, AUSSENMINISTER DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA; DONALD C. RUMSFELD, VERTEIDIGUNGSMINISTER DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA; PRÄSIDENT VLADIMIR PUTIN, RUSSISCHE FÖDERATION; IGOR IVANOV, AUSSENMINISTER DER RUSSISCHEN FÖDERATION; PREMIERMINISTER TONY BLAIR, VEREINIGTES KÖNIGSREICH; ROBIN COOK, AUSSENMINISTER DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS; ALEXANDER DOWNER, AUSSENMINISTER VON AUSTRALIEN; PETER REITH, VERTEIDIGUNGSMINISTER VON AUSTRALIEN; PRÄSIDENT JACQUES CHIRAC, FRANKREICH; PREMIERMINISTER LIONEL JOSPIN, FRANKREICH; HUBERT VEDRINE, AUSSENMINISTER VON FRANKREICH; BUNDESPRÄSIDENT JOHANNES RAU, BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND; BUNDESKANZLER GERHARD SCHROEDER, BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND; JOSCHKA FISCHER, AUSSENMINISTER DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND; YOHEI KONO, AUSSENMINISTER VON JAPAN; PREMIERMINISTER JEAN CHRETIEN, KANADA ; JOHN MANLEY, AUSSENMINISTER VON KANADA; PREMIERMINISTER POUL NYRUP RASMUSSEN, DÄNEMARK; PREMIERMINISTER JENS STOLTENBERG, NORWEGEN; THORBJORN JAGLAND, AUSSENMINISTER VON NORWEGEN; BJORN TORE GODAL, VERTEIDIGUNGSMINISTER VON NORWEGEN
Sehr geehrte Präsidenten, Premierminister, Verteidigungs- und Außenminister,
wir, die unterzeichnenden Organisationen, schreiben Ihnen stellvertretend für die vielen Millionen unserer Mitglieder, um unsere Ablehnung der Pläne der Vereinigten Staaten von Amerika zum Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) deutlich zu machen.
Wir drängen die Vereinigten Staaten, statt dessen das Atomwaffenarsenal drastisch zu verringern und aus der ständigen Alarmbereitschaft zu nehmen was Präsident George W. Bush im Wahlkampf ohnehin versprochen hatte -, und so einen Schritt zur vollständigen und eindeutigen Abschaffung der nuklearen Arsenale zu machen, zu der sich die Vereinigten Staaten, Russland und die anderen Atomwaffenstaaten in völkerrechtlich bindenden Abkommen wiederholt verpflichtet haben. Die Stationierung von Raketenabwehr unterhöhlt entsprechende Abrüstungsmaßnahmen und macht damit die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen noch schwieriger.
Unserer Meinung nach ist die Stationierung einer zweifelhaften Raketenabwehr rücksichtslos und wird nicht zu mehr sondern zu weniger Sicherheit führen. Präsident Bush sagt, dass die Vereinigten Staaten den 1972 abgeschlossenen Raketenabwehrvertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM-Vertrag) so anpassen wollen, dass ein nationales Raketenabwehrsystem der USA damit abgedeckt würde. Für den Fall, dass Russland eine Vertragsänderung ablehnt, hat die Bush-Regierung bereits die einseitige Änderung des ABM-Vertrages angekündigt. Präsident Bush ordnet möglicherweise noch dieses Jahr an, mit dem Bau einer Schlüsselkomponente von NMD, einer Radarstation in Alaska, zu beginnen, wodurch der ABM-Vertrag verletzt würde. Russland hat bei der Abrüstungskonferenz in Genf klar zum Ausdruck gebracht, dass es eine drastische Reduzierung der Gefechtsköpfe anbietet, sofern der ABM-Vertrag nicht angetastet würde. Auch die Ratifizierung des STARTII-Abkommens hat Russland unter den Vorbehalt gestellt, dass die USA den ABM-Vertrag einhalten und folglich keine Raketenabwehrsysteme stationieren.
Wir sind der Ansicht, dass selbst durch den Aufbau sogenannter begrenzter Raketenabwehrsysteme die Möglichkeit untergraben würde, in den USA und in Russland zu einer deutlichen Verringerung der Atomwaffenarsenale zu kommen. Außerdem könnte dadurch die Chance verpasst werden, die US-amerikanischen und russischen Atomraketen aus der ständigen Alarmbereitschaft zu nehmen, in der sie nach wie vor gehalten werden. Militärplaner reagieren eher auf Fähigkeiten denn auf Absichten. Schon die Stationierung begrenzter Raketenabwehrsysteme könnte die Russen dazu veranlassen, sowohl taktische Atomwaffen als auch Mehrfachsprengköpfe erneut zu stationieren.
Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass China den Ausbau seines strategischen Atomwaffenarsenals beschleunigt und u.a. Mehrfachsprengköpfe auf Langstreckenraketen montiert sowie die bislang kleine Zahl seiner ballistischen Langstreckenraketen deutlich erhöht. Ein Ausbau der chinesischen Arsenale könnte leicht zur beschleunigten Stationierung indischer und als Reaktion darauf auch pakistanischer Atomwaffen führen. Die entsprechende Eskalation offensiver Fähigkeiten birgt dann wiederum die Gefahr, dass die Nuklearstreitkräfte in einen noch höheren Alarmzustand versetzt werden. Abgesehen von den oben erwähnten Argumenten gegen Raketenabwehrsysteme ist insbesondere das aktuell von der US-Regierung beabsichtigte NMD-System außerordentlich teuer, und es ist noch keineswegs erwiesen, dass es auch tatsächlich funktionieren würde.
In den nächsten sechs bis zehn Jahren ist noch nicht einmal die Stationierung eines begrenzten NMD-Systems möglich. Zwei von bislang drei Abfangtests der USA gingen schief, ein nationales (oder regionales) Raketenabwehrsystem müsste anfliegende Atomsprengköpfe aber mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit abfangen, um seinen Zweck zu erfüllen. Und selbst wenn ein funktionsfähiges NMD-System Gegenmaßnahmen ausschalten könnte und keinen anderen Staat dazu provozieren würde, sein offensives Raketenarsenal so zu erhöhen, dass Raketenabwehrsysteme damit überfordert wären selbst dann könnten weder nationale noch regionale Abwehrsysteme verhindern, dass Massenvernichtungswaffen mit einfacheren aber zuverlässigeren Methoden zum Einsatz gebracht würden. Auch die verschiedenen regionalen Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD), die beispielsweise für den Einsatz in Taiwan, Japan, Europa oder dem Nahen Osten in Diskussion sind, unterliegen den gleichen technischen Einschränkungen und hätten vergleichbare Auswirkungen wie NMD-Systeme, d.h. auch sie würden zu einem gefährlichen Kreislauf zum Ausbau offensiver Raketenkapazitäten beitragen. Dies würde vor allem auf die Stationierung von TMD-Systemen auf und um Taiwan zutreffen.
Die Probleme im Zusammenhang mit Raketenabwehr legen es geradezu nahe, dass die internationale Gemeinschaft zusammenarbeitet und Mittel wie Diplomatie, Handel und Hilfe effektiv einsetzt sowie neue Mechanismen zur Kontrolle und Verringerung vorhandener und potentieller Proliferation von ballistischen Raketen einführt. Kurzfristig sollten sich die Bemühungen darauf konzentrieren, ein tragfähiges und erzwingbares Rahmenabkommen auszuarbeiten, das Nordkorea zum Einfrieren seines Raketenentwicklungsprogramms bewegt. Unbedingt sollten weitere Bemühungen zur Einhaltung und Stärkung des Missile Technology Control Regime (MTCR) unternommen werden, ebenso zur Kontrolle und Abrüstung von globalen und regionalen Raketenarsenalen. Angesichts des oben gesagten,
fordern wir die Vereinigten Staaten mit allem Respekt auf, keine Raketenabwehrsysteme zu stationieren und wirksame Verfahren zur Verhinderung der Raketenproliferation zu unterstützen.
fordern wir die Regierungen der NATO-Staaten und anderer Alliierten der Vereinigten Staaten auf, den Vereinigten Staaten nicht die für den Aufbau entsprechender TMD- oder NMD-Systeme erforderliche Modernisierung von Einrichtungen in Menwith Hill, Fylingdales, Pine Gap, Thule oder anderswo zu gestatten sowie ihren diplomatischen Einfluss dafür zu nutzen, die US-Regierung von der weiteren Verfolgung ihrer Raketenabwehrpläne abzubringen. Um die unmittelbare und drängende Bedrohung durch ballistische Raketen einzudämmen,
fordern wir die Vereinigten Staaten und Russland auf, die Doktrin, schon beim Verdacht eines Angriffs einen Vergeltungsschlag auszulösen, aus ihrer strategischen Kriegsplanung zu streichen und in diesem Zusammenhang alle Atomwaffen aus der ständigen Alarmbereitschaft zu nehmen. Dieser Schritt würde die globale Sicherheit und Stabilität unmittelbar erhöhen und das Risiko eines unbeabsichtigten Angriffs mit Atomwaffen verringern.
fordern wie die Vereinigten Staaten und Russland auf, in Zusammenarbeit mit anderen Staaten sofort Maßnahmen einzuleiten, die zu einer überprüfbaren und unumkehrbaren Verkleinerung der strategischen und taktischen Atomwaffenarsenale auf jeweils unter 1.500 Gefechtsköpfe führen, u.a. durch die Realisierung von START-II und START-III. Diese Maßnahmen wären der Erfüllung der feierlichen Versprechen dienlich, die von den Atomwaffenstaaten in der Abschlusserklärung der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages 2000 gemacht wurden, nämlich "unzweideutig Schritte zur vollständigen Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale zu unternehmen, die zur nuklearen Abrüstung führen, zu der sich gemäß Artikel VI alle Vertragsstaaten verpflichtet haben". Die unterzeichnenden Organisationen sind der Überzeugung, dass nur die genannten Maßnahmen, keinesfalls die Stationierung von Raketenabwehr, den Weg zur Abschaffung der Atomwaffen frei machen, zu der sich die Atomwaffenmächte verpflichtet haben und die die überwältigende Mehrheit der Menschen und Regierungen auf der ganzen Erde auch von ihnen erwartet. Die Unterzeichnerliste finden Sie unter: www.sydney.foe.org.au/nuclear/globalnmdltr.html Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an:
Regina Hagen 06151 / 47114
Dr. Jens-Peter Steffen, kontakt@ippnw.de
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