Diese Ankündigungen wurden durch die Medien fast durchweg als wichtiger Schritt bewertet. Die Japan Times stellte z.B. am 16. November fest: "Ein riesiger Schritt in Richtung Abrüstung erfuhr die Welt in dieser Woche, als US Präsident George W. Bush und sein russischer Kollege Präsident Wladimir Putin sich darauf einigten, ihr Atomwaffenarsenal zu dezimieren."
Wir begrüßen die positiven Beziehungen zwischen den beiden Präsidenten. Gleichsam: Während jeder Einschnitt in die Atomwaffenarsenale Schritte in die richtige Richtung darstellen, sind wir besorgt darüber, dass dieser angekündigte Rüstungsabbau weder die Dringlichkeit noch die Vollständigkeit der 13 praktischen Schritte widerspiegelt, die auf der letztjährigen Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag beschlossen wurden. Die geplante Reduzierung geht auch nicht auf die Vorbeugung von Atomunfällen und das Risiko ein, dass Atomwaffen in die Hände von Terroristen fallen können. Vor allem ist als Erkenntnis notwendig, dass Atomwaffen keine Sicherheit bringen und die nukleare Abschreckung in der aktuellen Weltkrise irrelevant bleibt.
Putin hatte zuvor eine Reduzierung der russischen strategischen Atomwaffen auf 1500 oder weniger in START III Verhandlungen angeboten. Berater Putins hatten wissen lassen, dass die Zahl sogar auf 1000 oder weniger zurückgefahren könnte. Dagegen ging der US-Plan nicht mal auf das zuvor von Russland eingebrachte Niveau ein. Nach dem gegenwärtigen Plan Putins und Bush werden sich in zehn Jahren immer noch genug strategische Atomwaffen in den Arsenalen der beiden Länder befinden, um alles Leben auf diesem Planeten zu zerstören.
Die vorgeschlagene Anzahl der Atomsprengköpfe widerspricht der Behauptung Bushs, Russland nicht mehr als Feind zu betrachten und deutet eher auf eine Rationalisierung und Modernisierung der nuklearen Abschreckung hin als auf ernsthafte Bemühungen, den Verpflichtungen beider Staaten nachzukommen, ihre Atomwaffenarsenale vollständig abzurüsten. Die vorgeschlagenen Abrüstungsschritte spiegeln die Absicht der beiden Länder wider, ihre Sicherheit auch zukünftig auf Atomwaffen aufzubauen.
[...] Die beiden Staaten hatten sich zunächst mit dem START II Vertrag darauf geeinigt, ihr Arsenal auf jeweils 3500 strategische Atomwaffen bis 1. Januar 2003 abzubauen. Clinton und Jelzin verlängerten diese Frist zum 31. Dezember 2007. Jetzt soll es nach den Plänen Bushs und Putins vier weitere Jahre dauern, um die Arsenale auf 1700 bis 2200 zu reduzieren.
Einseitige Abrüstungsschritte sind nicht bindend. Einseitige Kürzungen könnten später einseitig revidiert werden.
Dies widerspricht den vertraglich zugesicherten Prinzipien der Unumkehrbarkeit aus dem Nichtverbreitungsvertrag. Mit den jetzigen Plänen ist es für beide Länder möglich, die Plutoniumkerne der Waffen zu behalten, um es im Falle einer Wiederaufrüstung in der Zukunft erneut zu nutzen.
Einseitige Abrüstungsschritte neigen ausserdem dazu, die Bedeutung des internationalen Recht zu unterlaufen, indem der multilaterale Abrüstungsprozess umgangen wird. Die Führerschaft der USA und Russlands müssen die Bemühungen der internationalen Abrüstungskontrolle unterstützen, wie z.B. der Konferenz zur Inkraftnahme des umfassenden Atomteststopp-Vertrages, die aber die USA kürzlich boykottierte.
Putin wies darauf hin, er würde es vorziehen, jede Vereinbarung zur nuklearen Abrüstung zwischen den beiden Ländern schriftlich festzuhalten. Wir stimmen darin überein, dass damit der Abrüstungsprozess gestärkt würde, insbesondere durch die Klausel über Unumkehrbarkeit, Transparenz und Verifikation.
Die beiden Präsidenten verpassten es, die Alarmbereitschaft ihrer Atomwaffenarsenale zu erwähnen. Gegenwärtig befinden sich in beiden Staaten etwa 2250 strategische Atomwaffen in ständiger Höchstalarmbereitschaft, jederzeit bereit, in wenigen Minuten eingesetzt zu werden. Dieser Zustand ist zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges völlig sinnlos. Damit wird ein Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher. So wurde der Start eines US-norwegischen Satelliten im Jahre 1995 von Russland versehentlich als Angriff auf das eigene Land bewertet.[...]
Die beiden Präsidenten verpassten auch, über die taktischen Atomwaffen zu sprechen. Diese Waffen könnten am ehesten in einem Krieg eingesetzt werden und in die Hände von Terroristen fallen.[...]
Bush hatte gehofft, zu einer Vereinbarung mit Putin über das Ende des ABM-Vertrages zu gelangen, um es ihm zu erlauben, see-, luft- und weltraumgestützte Raketenabwehrsysteme zu testen. Putin hielt jedoch vielmehr an der Aufrechterhaltung dieses Vertrages fest, der für ihn "ein Meilenstein der strategischen Sicherheit" darstellt. Diese Meinung Putins deckt sich [...] mit dem Schlussdokument der letztjährigen Konferenz zum Nichtverbreitungsvertag, das "den ABM-Vertrag als Meilenstein der strategischen Sicherheit" bezeichnete und "aufforderte ihn als Grundlage für weitere Abrüstungsschritte im Bereich strategischer offensiver Waffen zu bewahren und stärken."
Wir würden vorschlagen, dass Bush und Putin die Fragen der atomaren Abrüstung auf ihrem nächsten Treffen im März 2002 in Moskau in einem breiteren Rahmen besprechen.
Speziell empfehlen wir die folgenden Punkte:
- In Vorbereitung des Moskauer Treffens überprüfen sie das Schlussdokument der letztjährigen Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag vollständig, besonders die darin aufgeführten 13 praktischen Schritte.
- Die Reduzierung strategischer Waffen sollte dringlicher gemacht und der Öffentlichkeit entsprechend dargestellt werden.
- Diese Reduzierungen sollten in einen START III Vertrag münden, der die Vereinbarung zur Überprüfung, Transparenz und Unumkehrbarkeit enthält.
- Die Politik der ständigen Alarmbereitschaft sollte auf die Tagesordnung gebracht werden mit dem Ziel, sie zu beenden.
- Taktische Atomwaffen sollten auf die Tagesordnung gebracht werden mit dem Ziel, sie vollständig abzuschaffen.
- Der ABM-Vertrag sollte als "Meilenstein der strategischen Stabilität" aufrechterhalten und gestärkt werden.
- Eine Auflistung mit allen Atomwaffen und sämtlichem spaltbarem Material weltweit, beginnend mit der Anzahl und der Menge der USA und Russlands, sollte aufgebaut und bewahrt werden.
- Diese Auflistung sollte die Sicherheit und die Beseitigung von Atomwaffen und spaltbarem Material stärken, damit diese nicht in unerlaubte Hände geraten.
Die beiden Präsidenten unterstützen die Ratifizierung des vollständigen Atomteststopp-Vertrag durch alle Staaten, die für ein Inkrafttreten wichtig sind.
- Die beiden Präsidenten selbst leiten eine internationale Konferenz ein, die "die unmissverständliche Verpflichtung der Atomwaffenstaaten" umsetzt, " die vollständige Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale zu vollenden."
- Die Middle Power Initiative (MPI) bietet einen Weg an, den festgefahrenen Abrüstungsprozess voranzutreiben, indem sich gleichgesinnte mittelgroße Staaten mit Unterstützung der Zivilgesellschaft zusammen für die Abschaffung aller Atomwaffen einsetzen. IPPNW ist mittragende Organisation bei der MPI.
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