Kommentar

Zur Atomwaffenpolitik der USA

Brief der internationalen IPPNW an US-Präsidenten George W. Bush:

Sehr geehrter Herr Präsident Bush,

als die Co-Präsidenten der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), die 1985 den Friedensnobelpreis erhalten haben für das globale ins Bewusstseinrufen der medizinischen und ökologischen Konsequenzen eines Atomkrieges, möchten wir unsere tiefe Sorge zum Ausdruck bringen, dass die kürzlich abgeschlossene Überprüfung der US-Atomwaffendoktrin (Nuclear Posture Review = NPR) eine Zurückweisung der US-Abrüstungsverpflichtungen unter dem Nukleare Nichtverbreitungs-Vertrag (Nuclear Non-Proliferation Treaty = NPT) darstellt und dies die jahrzehntelangen Bemühungen, die Ausbreitung und den möglichen Einsatz von Kernwaffen zu verhindern, untergräbt.

Die Los Angeles Times berichtet, dass die NPR sieben Staaten auflistet - davon fünf atomwaffenfreie Staaten - als potentielle Ziele von US-Kernwaffen und dass die USA die Entwicklung von kleinen, taktischen Kernwaffen für den Gebrauch in verschiedenen möglichen Schlachtszenarien plant. Wenn dies den Tatsachen entspricht, bedeutet dies, dass der Einsatz von Kernwaffen doch wahrscheinlicher wird und zurückgewiesen werden muss. Solch eine Politik bedeutet einen Verstoß gegen das internationale Völkerrecht nach dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes von 1996.

Die jetzige US-Kernwaffenpolitik setzt die Welt unserer Auffassung nach einem größeren Risiko eines Atomkrieges aus seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Durch das Bekenntnis einer zentralen Rolle der Kernwaffen bis in die Mitte dieses Jahrhunderts entfernt der NPR alle Anreize für die existierenden Atomstaaten zur Abrüstung. Die Staaten, die unter der Bedingung der Abrüstung aller Atomwaffen der USA und anderen Atomstaaten unter Artikel VI des NPT unterzeichnet hatten, werden möglicherweise ihre eigenen "Nuclear Postures" überdenken.

Die als Schlüsselrolle in der NPR angekündigte Reduzierung von strategischen Kernwaffen wäre ein willkommener und wichtiger Schritt bei den Verpflichtungen der US-Abrüstung, wenn es nicht die offensichtliche Entscheidung gäbe, die meisten von ihnen als inaktive "ansprechende" Streitkraft verbleiben zu lassen, bereit zur kurzfristigen Stationierung. Dieser Wechsel im Operationsmodus der US-Sprengköpfe entspricht nicht einer legitimen Reduzierung im Umfang des Arsenals und ist in jedem Fall zu einfach rückgängig zu machen.

Darüber hinaus entnehmen wir dem, was über die NPR veröffentlicht wurde, dass die USA die Absicht haben, Atomtests wiederaufzunehmen, sobald die neuen Sprengkopfmodelle aus den Waffenlaboratorien der Energieministerium (Department of Energy = DOE) fertiggestellt werden. Somit kann eine neue Generation von Sprengköpfen in das Arsenal aufgenommen und die alte herausgenommen werden. Wenn die USA ihr Kernwaffenarsenal "modernisiert", werden dies auch andere Staaten tun. Die Wiederaufnahme von Atomtests in den USA wird unwiderruflich zu einem globalen Zusammenbruch des jahrzehntelangen Moratoriums über Atomtests führen, welche als vielversprechendste Entwicklung in der globalen Kampagne zur Verhinderung der Weitergabe von Kernwaffen galt.

Ihre Regierung hat bereits ihre Absicht erklärt, den ABM-Vertrag zu kündigen, um ein enorm kostenintensives System zu entwickeln und einzurichten. Dies wird jedoch nicht gegen den am wahrscheinlichsten Einsatz von Kernwaffen schützen, verursacht durch Terroristen oder Ländern mit feindlicher Absicht gegen die USA, die eine geringe Anzahl von Atomwaffen erwerben könnten. Die Raketenabwehr wird andere Atomwaffenstaaten provozieren, diese von ihnen als Bedrohung empfundene Entwicklung durch Aufrüstung von mehr Kernwaffen zu beantworten, statt ihre Vertragsverpflichtungen zu erfüllen.

Letztendlich unterstreicht die NPR den gefährlichen Trend in der US strategische Planung, dass die Unterscheidung zwischen nuklearer und nichtnuklearer "Missionen" - und sogar nuklearer und nichtnuklearer Waffen - verschleiert wird. Wenn den Offizieren auf dem Feld die nukleare "Fähigkeit" zum Beispiel einen unterirdischen Bunker zu zerstören gegeben wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die militärischen Entscheidungskräfte, die die Kernwaffen als eine Möglichkeit von vielen sehen werden, die nukleare Schwelle überschreiten werden. Dies darf jedoch nie erlaubt werden.

Als Ärzte, die sich für die Verhinderung des Atomkrieges einsetzen, sind unsere Einwände gegen die im NPR formulierte US-Atompolitik, im Angesicht der erweiterten US-Militäraktionen noch dringender geworden. Die enormen Zunahmen an Militärausgaben und der beunruhigende Trend zu unilateralen Entscheidungen können nicht als legitime Sorgen wegen des Terrorismus gerechtfertigt werden. Anstatt den Weg zu einer Welt zu verfolgen, in der so gut wie möglich gemeinsame Sicherheit durch die Normen und Strukturen des internationalen Völkerrechts und eine Politik, die die Wurzeln der Konflikte bekämpft, gewährt wird, bringt die USA nicht nur das Leben der US-Amerikaner in Gefahr, sondern auch das Leben der Menschen auf der ganzen Welt. Bis zur Umkehrung dieser Politik müssen sie und die nächsten Generationen im Schatten der Massenvernichtungswaffen leben.

Die IPPNW und ihre Mitglieder haben gemeinsam mit anderen weltweit die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 verurteilt, und wir haben über den Verlust unschuldiger Menschenleben getrauert. Wir waren dankbar für die große Sympathie für die Opfer dieser Anschläge für ihre Familien, und für die RettungsarbeiterInnen, die ihr Leben verloren, um anderes Leben zu retten. Wir sind daher tieftraurig, dass die USA den guten Willen der internationalen Gemeinschaft vergeuden und stattdessen einen dauerhaften Krieg führen, in dem nukleare Bedrohungen eine immer wesentlichere Rolle spielen.

Es gibt einen anderen Weg. Die USA und andere Atomwaffenstaaten könnten eine verifizierbare und durchsetzbare Atomwaffenkonvention verhandeln, die die Welt vom permanenten Nuklearschrecken erlösen würde. Als der reichste Staat der Welt sind die USA in einer einzigartigen Lage - die eine einzigartige Verantwortung in sich birgt - um die Nationen der Welt zur Milderung der Konditionen zu führen, die Terror und globale Konflikte ermöglichen.

Im Namen unserer Sektionen, die medizinische Vereinigungen in 65 Staaten ausmachen, fordern wir Sie auf, den Kurs der Nuclear Posture Review abzusetzen. Darüber hinaus fordern wir Sie auf, die US-Verpflichtung zur Abschaffung der Kernwaffen einzuhalten und gemeinsam mit der Internationalen Gemeinschaft produktiv zusammenzuarbeiten, um die Lösung von Konflikten ohne Krieg zu ermöglichen.

Hochachtungsvoll,

Dr. med. Mary Wynne Ashford, Co-Präsidentin der IPPNW, Kanada
Dr. med. Abraham Behar, Co-Präsident, Frankreich
Dr. med. Sergei Grachev, Co-Präsident, Russland

13. März 2002

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Ansprechpartner*innen


Xanthe Hall

Abrüstungsreferentin
Expertin in Fragen zu Atomwaffen
Tel. 030 / 698074 - 12
Mobil 0177 / 475 71 94
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