Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit ist am 1. Januar 2025 der „Operationsplan Deutschland“ [1] in Kraft getreten – ein tausendseitiger Strategieplan, erarbeitet seit 2023 unter der Federführung der Bundeswehr. Er legt die verpflichtenden zivilen Unterstützungsleistungen für das Militär im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung fest. Die Details unterliegen der Geheimhaltung. Vorausgegangen ist die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ [2] die die Bundesregierung im Juni 2023 vorstellte. Diese bedeutete eine grundlegende Neuorientierung in der „Sicherheitspolitik“. Sie löste das Weißbuch von 2016 ab, das sich noch allein auf die Verteidigungspolitik beschränkte. Nun sollen alle Bereiche der Gesellschaft auf die Bedürfnisse des Militärs und die Erfordernisse der Kriegsführung ausgerichtet werden.
Verteidigungsminister Boris Pistorius formulierte es unmissverständlich: "Wir müssen kriegstüchtig werden" [3], und meint damit die Gesellschaft insgesamt. Der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer [4] forderte, der Zeitenwende müsse ein Mentalitätswechsel in Bundeswehr und Gesellschaft folgen. Inzwischen erfasst das Militärische große Bereiche gesellschaftlichen Lebens: Universitäten, Schulen, Forschungseinrichtungen – und macht selbst vor Kindersendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht halt. [5] Besonders betroffen ist der Gesundheitsbereich, der im Verteidigungs- und Bündnisfall eine Schlüsselrolle spielt. Die Versorgung von Verwundeten wird zur gesamtstaatlichen Aufgabe. Vor kurzem verschickte der ärztliche Direktor des Bundeswehrkrankenhauses Ulm, Prof. Dr. Benedikt Friemert, einen Artikel [6] an Kliniken bundesweit, um Chirurg*innen und Anästhesist*innen für die Landes- und Bündnisverteidigung zu sensibilisieren und auf mögliche Kriegsszenarien vorzubereiten.
Militarisierung auf Hochtouren
Im Sommer 2024 verabschiedete der Bundestag die neuen „Rahmenrichtlinien Gesamtverteidigung“ (RRGV) [7], die jene aus dem Jahr 1989 [8] ablösten. Deutlich wird hier der Schritt von der Friedenslogik der 1980/90-er Jahre zur aktuellen Kriegslogik vollzogen. Während 1989 Kriegsverhütung, Entspannung, Dialog, Abrüstung und gemeinsame Sicherheit noch im Fokus standen – auch das verfassungsrechtliche Verbot einer Angriffskrieges wurde ausdrücklich erwähnt – dominiert in den neuen Rahmenrichtlinien die Kriegsertüchtigung. Die zivile und logistische Unterstützung der Streitkräfte soll sichergestellt werden. Kriegsprävention wird nicht mehr als Ziel benannt. Gemäß der neuen geostrategischen Rolle Deutschlands liegt der Fokus jetzt auf Bündnisverteidigung [7] : „Deutschland ist nicht mehr Frontstaat, sondern dient den verbündeten Streitkräften im Herzen Europas als Drehscheibe. Hierfür bedarf sie der umfassenden Unterstützung der zivilen Seite. Daher werden Unterstützungsmaßnahmen der zivilen Seite für die Bundeswehr im äußeren Notstand jetzt auf verbündete Streitkräfte erweitert.“
In den ärztlichen Zeitschriften läuft die Diskussion über die Kriegsmedizin – offiziell „zivil-militärische Zusammenarbeit“ – auf Hochtouren. Ärzt*innen der Bundeswehr wird in den Fachzeitschriften ein breiter Raum eingeräumt. Das Hessische Ärzteblatt zeigte im Oktober 2024 einen Bergungspanzer der Bundeswehr auf dem Titelbild. Die Bundesärztekammer organisierte im Herbst 2024 eine Tagung mit dem Titel: „Bedingt abwehrbereit? Die Patientenversorgung auf den Ernstfall vorbereiten.“ [9]
Medizinische Versorgung im Bündnis- und Verteidigungsfall
Deutschland wäre im Bündnisfall sowohl das Aufmarschgebiet für NATO-Truppen als auch die Drehscheibe für verletzte Soldat*innen und Zivilist*innen. Die erwarteten Patientenzahlen, die von unserem Gesundheitswesen versorgt werden müssten, übersteigen alles, was wir von Katastrophen oder aus Pandemiezeiten kennen. Die Bundeswehr rechnet mit bis zu 1.000 verletzten NATO-Soldat*innen täglich, über Jahre hinweg. Zudem wird eine massive Flüchtlingswelle von verletzten Zivilist*innen erwartet. Dem stehen nur fünf Bundeswehrkrankenäuser mit 1.800 Betten gegenüber – eine Kapazität, die in zwei Tagen erschöpft wäre. Das zivile Gesundheitssystem müsste einen erheblichen Teil seiner räumlichen und personellen Ressourcen dem Militär zur Verfügung stellen. Groß wäre auch der Bedarf an medizinischer Rehabilitation. „Zahlen aus der Ukraine deuten darauf hin, dass aktuell in der Ukraine ca. 100.000 Amputierte behandelt werden müssen.“ Unser Gesundheitswesen wäre restlos überfordert.
Im Verteidigungsfall wäre die Zahl der Verletzten noch höher. Die Zahl verletzter Zivilist*innen wäre größer und die Versorgung erschwert durch die Zerstörung von Infrastruktur und Krankenhäusern, sowie durch verletztes oder getötetes medizinisches Personal.
Grundgesetz und Notstandsgesetzgebung
Der Bündnisfall könne zudem sehr schnell in einen Verteidigungsfall übergehen. Fest steht, dass das zivile Gesundheitssystem in erheblichem Maße einbezogen würde. Medizinisches Personal fehlt schon in Friedenszeiten. Unklar ist, wie dieser Bedarf gedeckt werden kann. Das lange angekündigte Gesundheitssicherstellungsgesetz soll dies regeln, doch das Grundgesetz steht im Weg. Eine umfassende Vernetzung ziviler und militärischer Akteure ist erst im Spannungsfall erlaubt. [10] Für die Feststellung des „Spannungsfalles“ ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag notwendig. Erst dann könnten Grundrechte, wie Art. 12 auf Berufsfreiheit außer Kraft gesetzt und Art. 12a aktiviert werden, der zivile und militärische Dienstverpflichtungen vorsieht, wenn der Personalbedarf auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden kann. Alle Sicherstellungsgesetze, die mit Grundrechtseinschränkungen einhergehen, können erst nach Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalles „entsperrt“ werden. Die zugrundeliegenden Notstandsgesetze wurden 1968 unter großen Protesten in die Verfassung aufgenommen. „Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält“, sagte damals der Schriftsteller Heinrich Böll in seiner Rede anlässlich eines Protestmarsches im Mai 1968 in Bonn.
Jetzt fordert der Expertenrat in seiner siebenten Stellungnahme „Gesundheit und Resilienz“ (12/2024) eine gesetzliche Regelung bereits vor Eintreten eines Spannungsfalles. [11]
Medizinische Ethik und Kriegslogik im Rollenkonflikt
Ein Rollenkonflikt ist unvermeidlich, wenn ziviles medizinisches Personal in militärische Strukturen eingebunden wird. Während das Militär den eigenen Regeln der Kriegslogik folgt, ist das zivile Gesundheitssystem dem individuellen Patienten verpflichtet. Zwar unterscheidet sich die ärztliche Ethik in Zeiten bewaffneter Konflikte nicht von der ärztlichen Ethik im Frieden (Havanna Declaration der World Medical Association). „Nur dringliche medizinische Gründe rechtfertigen eine Bevorzugung in der Reihenfolge der Behandlung“ (Genfer Abkommen 1949, Art. 12). Auch gilt nach der Genfer Konvention die grundsätzliche Gleichbehandlung von Zivilist*innen und Kombattant*innen, auch denen des Gegners. Doch ob dies unter Kriegsbedingungen eingehalten werden wird, bleibt fraglich. Der Begriff „Triage“ kommt ursprünglich aus der Militärmedizin, wird aber heute hauptsächlich für die zivile Katastrophenmedizin verwendet. Es geht um die Priorisierung knapper medizinischer Hilfeleistung. In Kriegszeiten erhält Triage jedoch eine andere Bedeutung. Geraten medizinische Ethik und militärische Logik in Konflikt, hat das Militärische den Vorrang. Letztendlich geht es dann um die Einsatzfähigkeit der Soldat*innen.
Der Begriff „Atomkrieg“ wird vermieden
Atomwaffen sind zwar Teil vieler Militärstrategien, doch das Wort „Atomkrieg“ wird in fast allen Zivilschutzpapieren vermieden. Stattdessen ist von „größereren radioaktiven Zwischenfällen“, oder „CBRN-Lagen“ die Rede. Die frühere Bezeichnung „ABC-Schutz“ (atomare, biologische und chemische Gefahren) wurde vor einigen Jahren durch die internationale geschmeidigere Bezeichnung „CBRN-Schutz“ ersetzt (chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren).
Die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission [12] für die Bevölkerung nach einem Atomwaffeneinsatz wirken hilflos: Die Menschen sollen sich 24-48 Stunden in geschlossenen Räumen aufhalten und beim Verlassen FFP2 oder FFP3-Masken tragen. Für die Erstversorgung von Strahlennotfallpatient*innen gibt die Strahlenschutzkommission [13] widersprüchliche Empfehlungen: Lebensrettende Sofortmaßnahmen seien vorrangig vor allen strahlenbedingten Prozeduren durchzuführen. Andererseits seien längerdauernde Maßnahmen an Verletzten in einem hochverstrahlten Bereich zum Schutz der Einsatzkräfte und des Patienten zu unterlassen.
Nach der Explosion einer Atombombe kann, abgesehen von den gesundheitlichen Strahlenfolgen, schon allein die Zahl der Verbrennungspatient*innen nicht versorgt werden, wie die Erfahrungen von Hiroshima zeigten. Hier erlitten ca. 60.000 Menschen schwerste Verbrennungen. Die Zahl wäre bei den heutigen thermonuklearen Bomben noch sehr viel höher. Kein Gesundheitssystem der Welt könnte ein solches Szenario bewältigen. [14]
Triage per App?
Während es keinen wirksamen Schutz der Zivilbevölkerung vor atomaren Gefahren gibt, forscht die Wehrmedizin an neuen Methoden wie der Biodosimetrie. [15] Mittels einer Triage-App können aus einem Blutbild Rückschlüsse auf eine erhaltene Strahlendosis getroffen werden. Das ermöglicht dem Militär, auch bei noch nicht erkrankten Soldat*innen, die Einsatzfähigen von den nicht mehr Einsatzfähigen zu unterscheiden.
Die Proteste der 1980er Jahre
1981 plante schon einmal eine Bundesregierung ein Gesundheitssicherstellungsgesetz, das nach heftigen Protesten aus der Ärzteschaft zurückgezogen wurde. Kernpunkt war die verpflichtende Fortbildung für alle Ärzt*innen, die Triage für den Kriegsfall zu erlernen, insbesondere die Sichtung und Priorisierung von Verletzten im Falle eines Atomkrieges. „Wir werden Euch nicht helfen können“, war damals die zentrale Aussage der IPPNW. Die Frankfurter Erklärung von 1982 hat bis heute für die IPPNW ihre uneingeschränkte Gültigkeit behalten.
Frankfurter Erklärung der IPPNW (1982)
„Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht beteiligen. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern.
Da ein Krieg in Europa nach überwiegender Experten-Meinung unter Benutzung der modernen Massenvernichtungswaffen geführt werden würde, muss er absolut unmöglich gemacht werden. Jede Vorbereitungsmaßnahme indessen, die von seiner Möglichkeit ausgeht, fördert indirekt die Bereitschaft, sich auf etwas einzustellen, was um jeden Preis verhindert werden muss. Deshalb erkenne ich als Arzt nur eine einzige auf den Kriegsfall bezogene Form der Prävention an, nämlich die Verhütung des Krieges selbst mit allen Anstrengungen, zu denen ich mein Teil beizusteuern entschlossen bin.“
Ute Rippel-Lau ist Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW.
Zum Weiterlesen: IPPNW-Factsheet: Auswirkungen einer Atombombenexplosion
Atomwaffen unterscheiden sich von allen anderen Waffen durch das Ausmaß der unmittelbaren Zerstörung und durch die katastrophalen humanitären Folgen. Der radioaktive Niederschlag verursacht langfristige Schäden noch über Generationen hinweg. In diesem Factsheet erfahren Sie, was passiert, wenn eine Atombombe gezündet wird und welche sofortigen, kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen ihre Explosion hat.
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Quellen:
[1] https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5761202/5101246ca9de726f78c4d988607532fc/oplan-data.pdf
[2] https://www.bmvg.de/resource/blob/5636374/38287252c5442b786ac5d0036ebb237b/nationale-sicherheitsstrategie-data.pdf
[3] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/verteidigungspolitische-richtlinien-2023-veroeffentlicht-5701338
[4] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/generalinspekteur-beschreibt-bundeswehr-der-zukunft-5652978
[5] https://www.fr.de/panorama/clip-ukraine-logo-olaf-scholz-kritik-kinder-kriegssatire-zdf-taurus-92871091.html
[6] https://www.bdc.de/chirurgische-herausforderungen-bei-der-landes-und-buendnisverteidigung/
[7] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/sicherheit/RRGV.html
[8] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/sicherheit/RRGV.pdf?__blob=publicationFile&v=1
[9] https://www.aerzteblatt.de/archiv/241566/Krisenresilienz-Das-Gesundheitswesen-in-der-Zeitenwende
[10] https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Veranstaltungen/20241010_Impulsvortrag_BAEK_Resilienz_des_Gesundheitswesens_in_der_ZV.pdf
[11] https://www.aerztezeitung.de/Politik/Expertenrat-Gesundheitssektor-muss-so-schnell-wie-moeglich-kriegstuechtig-werden-455031.html
[12] https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse/DE/2023/2023-02-07_Empf_FFP_Masken.pdf?__blob=publicationFile&v=17
[13] https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse/DE/2022/2022-09-05_Empf_Strahlennotfallmedizin.html
[14] https://shop.ippnw.de/produkt/ippnw-factsheet-auswirkungen-einer-atombombenexplosion