Zur Diskussion

Die IPPNW handelt verantwortlich

Die Ereignisse während der Demonstration aus Anlass des NATO-Gipfels im April dieses Jahres in Strasbourg erregten viele Gemüter in der IPPNW. Einige wenige Mitglieder hatten sie direkt miterlebt, andere aus den Medien davon erfahren. Die entstehende Diskussion um Fragen der politischen Gewalt im Vorstand der IPPNW wendete sich nicht der Aufarbeitung der konkreten Vorfälle in Strasbourg zu. „Strasbourg“ wurde vielmehr zum Anlass genommen, grundsätzlicher über das Verhältnis der IPPNW zu Fragen der Gewalt und Militanz nachzudenken. Die verabschiedete Stellungnahme möchte der Vorstand den Mitgliedern des Vereins auf diesem Weg zur Debatte vorstellen.
Ihre möglichen Anmerkungen und Einwürfe senden Sie bitte an Jens-Peter Steffen in der Geschäftsstelle der IPPNW.

 

Die Haltung der IPPNW gegenüber Gewalt und Militanz

"Auseinandersetzungen und Konflikte finden sich in allen Sphären menschlichen Lebens. Sie können produktive Wirkungen auf die Entwicklung von Menschen und Gesellschaften haben - solange sie in gewaltfreien Formen verlaufen.
Die Konfliktaustragung mit Gewalt und Militanz (G&M) ist jedoch eine häufige Erscheinung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wenn wir unser Gewaltverständnis nicht nur auf körperliche Gewalt beschränken, sondern auch strukturelle und kulturelle Gewalt mit einbeziehen, erkennen wir die Existenz vielfältiger legitimierter oder nicht legitimierter direkter staatlicher, institutioneller und struktureller Gewalt – aber auch eine Militanz  als politische Gegenperspektive.
Die IPPNW stellt den unterschiedlichsten Kontexten, in denen Formen von Gewalt ausgeübt werden, ihre Vision gewaltfreier Konfliktlösungen entgegen. Der Maßstab ihres Engagements und ihre Praxis als friedenspolitische Organisation ist grundsätzlich von Gewaltfreiheit geprägt .
Gesellschaftspolitische Situationen entwickeln und verändern sich und bedürfen deswegen wiederholter Überprüfung. Dazu gehört, die eigenen grundlegenden Anschauungen und politisch-praktischen Ableitungen im jeweiligen Kontext zu hinterfragen oder neu zu formulieren.


Friedenspolitische Vorgaben der IPPNW
Der Verein wirbt laut Satzung „in der Öffentlichkeit für Frieden und gewaltfreie Konfliktlösungen, Abrüstung, Völkerverständigung, soziale Gerechtigkeit, Humanität und Ökologie“. So besagt das Leitbild der IPPNW, der Verein “versucht, wo immer es geht, Risiken für Leben und Gesundheit vorzubeugen”.
In den friedenspolitischen Bündnissen, in denen die IPPNW sich engagiert, setzt sich der friedenspolitische Gedanke fort. Das „Selbstverständnis“ der Kooperation für den Frieden, bei der die IPPNW eine der Mitgründerorganisationen ist, benennt die „Stärkung ziviler Konfliktbearbeitung und gewaltfreien Handelns“ als ein Ziel ihres Engagements. Die „Friedenspolitischen Richtlinien“ der Kooperation für den Frieden erklären die Qualität dieses gewaltfreien Handelns genauer:
“Die Mitglieder der Kooperation für den Frieden setzen auf die Kraft der Gewaltfreiheit. Gegen die herrschende Militärpolitik sind Widerspruch und Protest notwendig. Darüber hinaus gibt es Formen des direkten gewaltfreien Widerstandes und zivilen Ungehorsam gegen Militär, Kriegsvorbereitungen und Krieg. Wir verstehen solchen Widerstand in der Traditionen des gewaltfreien zivilen Ungehorsams, den z.B. Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und Aung San Soo Kyi ausgeübt haben.”  
Diese friedenspolitischen Grundsätze der IPPNW sind nicht nur ein Gegenentwurf zur “großen Politik”, sondern sie kommen zugleich im eigenen Engagement und in der politischen Zusammenarbeit mit anderen Kräften zum Erreichen bestimmter politischer Ziele zur Anwendung. Damit hat die IPPNW eine prinzipielle Haltung zur G&M und ordnet sie weder strategischen oder taktischen Interessen unter. Auf Grundlage unserer gemeinsamen grundsätzlichen Position gegenüber der Gewaltfrage und unserem Verständnis des kontextabhängigen Ziel-Mittel-Verhältnisses formuliert die IPPNW ihre friedenspolitischen Veränderungsvorstellungen. Dabei ist G&M kein Mittel ihres politischen Engagements.


Auswirkungen für die Bündnisfrage
Wenn wir gesellschaftliche Vorstellungen, Zustände und gesellschaftspolitische Praxis ändern wollen, brauchen wir dazu Mehrheiten und müssen uns überlegen, wo diese zu gewinnen und im Sinne unserer Anliegen zu mobilisieren sind. Auch diese Debatte ist so alt wie die Bewegungen: Dies heißt, dass man nicht nur Einzelne und Gruppen auf der Grundlage ganz ähnlicher Vorstellungen zusammenführt, sondern sich auch mit seinem politischen Wirken an existierende soziale und gesellschaftliche Kräfte anschließt, deren Haltungen auch in der Gewaltfrage durchaus anders sein können.
Die IPPNW ist nicht nur auf ein ihren Positionen entsprechendes politisches Handeln verpflichtet, sondern sie trägt zugleich die Verantwortung für jene Mitglieder, die zur Teilnahme an einer im Hinblick auf potentielle Gewaltentwicklung problematischen Aktion aufgefordert werden. Eine entschiedene Haltung nach innen wie nach außen verringert die Chance der “Geiselnahme” durch Trittbrettfahrer bei den eigenen und Bündnisaktionen.
In seiner Konsequenz ist die Haltung zur G&M immer auch eine Bündnisfrage. Unterschiedliche Weltanschauungen und Politikverständnisse können zu weit auseinanderreichenden Positionen bei den gewählten Mitteln zum Erreichen eines Zieles führen. Falsche Toleranz ist hier fehl am Platz.
Wenn im vorhinein bekannte Positionen möglicher Bündnispartner Absprachen und Kompromissen entgegenstehen  und seitens der Veranstalter nicht hinreichend Absprachen und Vorkehrungen getroffen werden, dass die zu erwartende Militanz isoliert und eingedämmt wird, sollten wir uns ggf. an gemeinsamen Aktionen nicht beteiligen.
Dazu gehört auch eine Haltung, sich durch provozierende Gewalt von Staatsorganen nicht zu eigenen Gewaltreaktionen – wie subjektiv und psychologisch verständlich auch immer – hinreißen zu lassen. Zudem sollte die schwierige und kaum lösbare Frage der gezielten Ausübung von G&M durch „Agents provocateurs“ mitbedacht werden, die das legitime Anlegen von Protestaktionen zu diskreditieren versuchen."


Verabschiedet auf der Vorstandssitzung am 10. Oktober 2009.

zurück

Navigation