Aus IPPNW-Forum 102/06

Zur Lage im irakischen Gesundheitswesen

Ansschauungen und Erlebnisse nach 9 humanitären Missionen

01.12.2006 Das Gesundheitssystem im Irak war bis 1990 eines der besten, wenn nicht das beste im  Vorderen Orient. Es hatte westliches Niveau mit 172 modernen staatlichen Krankenhäusern und 1.200  Gesundheitszentren, die über das ganze Land verteilt waren. Dort wurden sowohl Untersuchungen und Schwangerschaftskontrollen als auch Impfungen durchgeführt. Die Neugeborenen- und Müttersterblichkeit war die niedrigste in der ganzen Region, die Impfrate lag bei über 90 %.

Die meisten Fachärzte waren in England oder anderen westlichen Ländern ausgebildet worden, so auch in Deutschland.  Trotz großer staatlicher Verschuldung im achtjährigen Irak-Iran-Krieg (1980-1988) lebte das Land im Wohlstand. Das änderte sich im August 1990, als der UN-Sicherheitsrat als Reaktion auf den Einmarsch irakischer Truppen in Kuweit ein totales Embargo gegen das Land verhängte.
 
Das Embargo wirkte sich katastrophal aus. Ich war mit fünf weiteren internationalen Präsidiumsmitgliedern der IPPNW, darunter drei Amerikanern, wenige Tage vor Ausbruch des 2. Golfkriegs im Dezember 1990 in Bagdads Kliniken. Wir sahen und besprachen mit den Chefärzten und dem irakischen Präsidenten des Roten Halbmonds und auch dem irakischen Vizepräsidenten Ramadan die tragische Situation: Nur drei Monate Sanktionen hatten in dem Land, das bisher über 90 % seines Medikamenten- und Krankenhausbedarfs im Ausland gedeckt hatte, bestürzende Folgen: Die meisten insulinabhängigen Diabetiker waren gestorben, wenn sie nicht mit westlichen Devisen aus Jordanien Insulin schmuggeln konnten. Das gleiche traf  für Nierenkranke zu, die nicht mehr an die künstliche Niere angeschlossen werden konnten und keine notwendigen Medikamente mehr erhielten, um Abstoßungsreaktionen der transplantierten Nieren zu verhindern. Viele Krankheiten verliefen für die Patienten tödlich, weil sie nicht mehr richtig behandelt werden konnten.
 
Im Januar 1991 begann dann der 2. Golfkrieg mit massiven Bomben- und Raketenangriffen Besonders schlimm wirkte sich die Zerstörung der Wasser- und Elektrizitätswerke und der Kläranlagen aus.
 
Bereits fünf Wochen nach Kriegsende ( im Mai 1991) war ich im Auftrag der deutschen IPPNW-Sektion zum 2. Mal im Irak, diesmal mit einem Container voll Medikamente, Babymilch und Operationsbedarf. Wir sahen die massenhaften Zerstörungen im ganzen Land und das Leiden und Sterben in den Kliniken, besonders in den Kinderabteilungen. Mehrfach leitete ich in den folgenden vier Jahren große LKW-Hilfstransporte, mit denen wir Medikamente, Desinfektionsmittel, Wasserpumpen, Hospitalbedarf, Babynahrung und Milchpulver zu den Kliniken Iraks brachten, vom Norden Kurdistans bis zum Süden in Basra. Das Elend war in allen Kliniken unbeschreiblich. Infolge der zerstörten Infrastruktur und des Embargos waren bis zum Ende des Jahres 2001 jeden Monat durchschnittlich 5.000 Kleinkinder gestorben. Insgesamt gaben UNICEF und WHO  an, dass 674.780 Kleinkinder und 954.859 ältere Kinder und Erwachsene, also insgesamt über 1,5 Millionen Menschen,  wegen fehlender medikamentöser und operativer Therapie und unzureichender Ernährung gestorben seien.
 
Ab 1997 besserte sich die Gesundheitssituation im Irak etwas, nachdem das Programm „Öl für Nahrungsmittel“ angelaufen war. Nun erhielt zwar jeder Iraker eine monatliche Ration von Grundnahrungsmitteln, aber Milch, Fleisch, Eier, Gemüse, Obst fehlten. Die Krankenhäuser erhielten einfache Medikamente, aber eine Therapie schwererer Krankheiten, wie z.B. Leukämie, Herz- oder Krebserkrankungen blieb unmöglich. Während  in Deutschland über 80 % der leukämiekranken Kinder geheilt werden können, starben im Irak nahezu alle Kinder mit dieser Diagnose.
 
Ab dem Jahr 2001 verschlechterte sich die Stimmung im Irak erneut, als die USA mit einem weiteren Krieg drohten, um Saddam Hussein zu stürzen. Vom 1. bis 4. Juni 2001 reiste ich wieder nach Bagdad. Meine Gespräche in den Kliniken sowie den Büros der WHO und von UNICEF ergaben, dass die Infrastruktur zwar funktionierte und sogar relativ sauberes Wasser durch die Leitungen floss. Der Zustand in den Kliniken war aber weiterhin schlecht wie in den vorausgegangenen Jahren. Nach wie vor hatten sich die irakischen Ärzte damit abgefunden, vielen Patienten nicht helfen zu können.
 
Allgemein bestand eine Apathie, doch gleichzeitig hatte man große Angst vor einem erneuten Krieg. Die Kinder sahen elend aus, viele mit seelisch zerstörten Gesichtern ohne Zukunftsfreuden.
 
Am 20. März 2003  brach dann der 3. Golfkrieg aus, der infolge der riesigen technischen Überlegenheit über die schwache irakische Armee schnell beendet war. Am 1. Mai wurde der Krieg von Präsident George W. Bush für „siegreich beendet“ erklärt. Irakische befreundete Ärzte aus Bagdad baten mich zu kommen, um zu sehen, was die Amerikaner angerichtet hatten, und um zu helfen.
 
So machte ich mich zusammen mit zwei weiteren deutschen IPPNW-Mitgliedern, einer Jugendpsychiaterin und einem deutsch-irakischen Kinderarzt,  erneut auf den Weg nach Bagdad. Wir flogen nach Amman und fuhren dann in einer Kolonne von vier anderen PKWs  zehn Stunden lang auf der Wüstenstraße nach Bagdad, eine recht gefährliche Route. Man berichtete uns, dass immer wieder Banditen Autos mit vorgehaltener Maschinenpistole anhielten und ausraubten, oder den Fahrer herauswarfen oder ihn töteten, um dann das Auto zu stehlen. In Bagdad  sahen wir die massiven Zerstörungen und erlebten die totale Unsicherheit. Überall wurde geschossen, auf den Straßenmärkten wurden Gewehre und Revolver verkauft....
 
Wir brachten unsere Medikamente und Babynahrung in eine Ambulanz im schiitischen Armenviertel in Sadr City zu der deutschen NGO „ architects for people in need“ (apn), die dort die Ambulanz aus einem früheren Frauengefängnis hergerichtet hatten. Jeden Tag kamen Mütter mit ihren Kindern, die zumeist an fieberhaftem Durchfall oder an Bronchitis und Lungenentzündung litten. Irakische Ärzte, die aus der aufgelösten Armee stammten, führten  die Untersuchungen und die Behandlung kostenlos durch. Aber auch Väter mit schwer herzkranken Kindern auf dem Arm  kamen in die Ambulanz und baten darum, ihr Kind in Deutschland operieren zu lassen.
 
Wir gingen in die Kliniken und sprachen mit den Ärzten: Sie waren zwar froh, dass der Krieg und auch Saddams Regime zu Ende waren, aber auch wütend über die massiven Kriegs-zerstörungen und die nicht verhinderten Plünderungen. Auf meine Frage, “was brauchen Sie am  dringendsten“ kam nicht der Wunsch nach Medikamenten, sondern nach sauberem Wasser, elektrischem Strom und einer Bezahlung, die ihnen den Kauf von Lebensmitteln ermöglichen sollte. Vor allem aber wünschten sie sich Sicherheit.
 
Die Situation hat sich bis heute nicht geändert. In meinen Telefonaten und e-mails mit Kollegen in Bagdad und Basrah  und in den Berichten deutsch-irakischer Kollegen, die zum Besuch ihrer Familien in den Irak reisen, sowie von den Angehörigen der in Deutschland  operierten irakischen Kinder stellt sich die ärztliche und gesundheitliche Versorgung zwiespältig dar:
 
Die Kliniken und Bagdads Bevölkerung haben jetzt zu 70%  fließendes Wasser, allerdings von zweifelhaftem Reinheitsgrad. Im übrigen Land ist die Situation viel schlechter, so dass weiterhin viel unreines Wasser getrunken wird. Daher die große Zahl von Durchfallkrankheiten. 70% der kindlichen Todesfälle gehen auf Diarrhoe und Atemwegserkrankungen zurück.
 
Die Kliniken verfügen jetzt alle über Notstromaggregate, die bei Stromausfall ( in Bagdad 3-4 mal täglich für mehrere Stunden ) anspringen. Auch die Grundernährung der Bevölkerung ist  garantiert, aber Zukauf auf den Märkten ist notwendig, was sich die arme Bevölkerung oft nicht leisten kann. Die Arbeitslosigkeit beträgt 50 - 80%. Die Preise im Irak, also auch die für Nahrungsmittel, sind um das 4-5fache gestiegen. Nach Angaben des irakischen Gesundheitsministeriums sind 50% der Kinder stark unterernährt und 10% chronisch krank
 
Die wichtigsten Medikamente sind in den Kliniken jetzt meistens  vorhanden. Internationale Hilfsorganisationen müssen weiterhin zusätzlich zur staatlichen Versorgung helfen und spenden. Spezielle und teure Medikamente fehlen immer wieder bzw. kommen unregelmäßig in die Kliniken. Entsprechende Hilfsbitten gehen an die NGOs, so auch an uns.
 
Gäbe es nicht die Hilfsorganisationen, wäre vielerorts die Sterblichkeit an Infektionen und besonders an kindlichen Krebserkrankungen noch genauso hoch wie während des Embargos. Die IPPNW unterstützt z.B. die Kinderonkologie des Al-Mansour Hospitals in Bagdad und zusammen mit der Österreichischen „Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Zusammenarbeit“, die von einer IPPNW-Ärztin (Frau Dr. Hobiger) aus Wien geleitet wird, die Kinderonkologie in Basra. Vor einigen Monaten besichtigte ein hoher  britischer Militärarzt diese Abteilung. Er war erstaunt über die gute Ausstattung und fragte: “Woher haben Sie all das?“ Auf die Antwort: „Von einer  österreichischen und deutschen Hilfsorganisation“, sagte er „die sollen doch die anderen Kliniken auch ausstaffieren“. Die Chefärztin erwiderte, „das ist doch Ihre Aufgabe als Besatzungsmacht“, woraufhin der Militärarzt verlegen lächelnd davon ging. Er versprach, mit Medikamenten wieder zu kommen, was  nicht geschah.

Man ist im Irak sehr enttäuscht und empört darüber, dass die reichen Amerikaner und Briten keine Unterstützung für die Krankenhäuser geleistet haben und dies auch weiterhin nicht tun.
So erhielten wir kürzlich die Nachricht, dass die Kinderabteilung in Bagdad keine Beutel zur Durchführung von Infusionen und Bluttransfusionen habe und keine Injektionsspritzen. Das Gesundheitsministerium im Irak habe dafür weder Geld noch die entsprechende Ware. Daraufhin haben wir für 1.700  Dollar 4.500 Infusionsbeutel und 10.000  Injektionsspritzen gekauft und rasch in die Klinik bringen lassen, außerdem 120 Liter Desinfektionslösung.
 
In den langen Jahren des Embargos sind in vielen Kliniken die Medikamentenkühlschränke ausgefallen. Ohne Kühlung verderben die Medikamente, Insuline und Blutkonserven schnell. Wir spendeten acht Medikamentenkühlschränke, eine Gefriertruhe, eine Klimaanlage und eine Sterilisierungsanlage. Dringend brauchte die Kinderkrebsstation Instrumente zu Organ- und Knochenmarkpunktionen. Zur modernen Therapie kindlicher Leukämien ist eine moderne Chemotherapie nötig. Wir haben immer wieder die notwendigen Medikamente geschickt, um Kinderleben zu retten.
 
Die Kinderklinik in Bagdad ist eine der wichtigsten für Neugeborene und Frühgeburten. Da nur wenige Inkubatoren noch funktionierten, konnten wir helfen: Von Bundesministerin Frau Wieczorek-Zeul erhielten wir drei Inkubatoren und konnten sie über die GTZ-Spedition dorthin schaffen lassen. Sofort wurden Säuglinge, die zu zweit in einem schlechten Inkubator gelegen hatten, umgebettet in die neuen.
 
Im Irak fehlen modern ausgebildete Fachärzte und insbesondere Fachchirurgen: Wer 1990 zu Beginn des Embargos ein erfahrener Chirurg war, hat seither keine Weiterbildung genießen können, oder ist inzwischen im Ruhestand. Das Schlimmste jedoch ist, dass seit Kriegsende 2003 und damit seit Beginn der Anarchie und des Chaos mehr als 25 % der 18.000 irakischen Ärzte das Land  wegen  der großen Unsicherheit und Gefahren verlassen haben (Min.of Health). 
 
218 überprüfte Fälle von Ermordungen von Ärzten und Wissenschaftlern sind dokumentiert.
In Basrah wurden der Direktor des Allgemeinen Krankenhauses sowie der Dekan der Technischen Universität von Unbekannten ermordet, in Bagdad der Präsident der Universität. Ein mir bekannter Kollege und Chefonkologe wurde von Banditen gezwungen, 500 Dollar  zu zahlen, damit seine Töchter nicht entführt würden. Die Chefonkologin sollte gezwungen werden, ihr Auto an Banditen abzugeben. Im Klinikeingang wurde eine Bombe gefunden. Die Klinikeingänge werden von bewaffneten Wächtern geschützt, auch innerhalb der Kliniken stehen auf den Fluren bewaffnete Beschützer, insgesamt eine beklemmende Atmosphäre.
 
Eine starke Belastung stellen die täglichen Entführungen und Geiselnahmen  von Arztangehörigen und anderen angeblich Wohlhabenden dar. Der  Mangel an Fachärzten wirkt sich schlecht auf die Gesundheitsversorgung aus. Schwierigere Operationen können nicht mehr durchgeführt werden.
 
Viele Kinder wurden durch Granatsplitter, Minen und Verbrennungen verletzt. Da es keine moderne plastische Chirurgie im Irak gibt, leiden sie unter den oft schmerzenden Vernarbungen. 57  Kindern konnten wir bisher in Deutschland durch die Zusammenarbeit mit dem Frankfurter deutsch-irakischen Kinderarzt Dr. Said-Falyh helfen. Die deutschen Chefärzte und manche Klinikverwaltungen haben ohne Rechnungsstellung behandelt. Immer aber erhielten wir einen  Preisnachlass. Um diese Opfer von Krieg und Embargo nach Deutschland zu bringen, bedarf es nicht nur des Spendenkontos „Kinderhilfe Irak“, sondern auch eines großen ehrenamtlichen Engagements.
 
Körperlich kranken  und verwundeten Kindern und Jugendlichen kann man in der von mir geschilderten Weise helfen, aber seelisch kranke Kinder, die durch die bis heute andauernden Erlebnisse der Hunger- und Kriegsjahre schwer traumatisiert sind, kann man nur im eigenen Land therapieren, wo auch die Familie sich um sie sorgt. Der Leiter der Psychiatrischen Univ.Klinik in Bagdad teilte uns  bei einem Treffen von deutschen und irakischen Psychiatern in Amman mit, dass man mit vielen hundert seelisch verstörten Kindern allein in Bagdad rechnen müsse. Eine Untersuchung an 1.000 irakischen Kindern ergab, dass 92 % erhebliche Lernschwierigkeiten aufwiesen, verursacht durch die ständigen Ängste vor Explosionen und Entführungen. Eine psychisch traumatisierte und antiwestlich eingestellte Generation wächst auf. Erlittene Gewalt entwickelt sich später oft zu eigener Gewaltanwendung, besonders in der Kombination mit Not, Frustration und Hoffnungslosigkeit bezüglich eines besseren Lebens.
 
Im Irak fehlen erfahrene Kinderpsychiater und Kinderpsychotherapeuten. Daher bemühten wir uns, an der Universitätsklinik in Bagdad ein Zentrum zur ambulanten Gesprächs- und Spielbehandlung von traumatisierten Kindern zu gründen und dafür sowohl  Ärzte als auch  Pädagogen auszubilden. Viele Kinder sind autistisch oder reaktiv  depressiv. Sie schreien nachts auf, wenn ein Geräusch Ähnlichkeit mit einer einschlagenden Granate oder explodierenden Bombe hat, sie schrecken bei Geräuschen oder fremden Stimmen zusammen, sie sind Bettnässer, apathisch, lustlos. Es gibt bereits einige private Institutionen, in denen „Kindergärtnerinnen“ sich um solche Kinder, oder auch um geistig behinderte Kinder kümmern, aber in denkbar unfreundlichen Räumen und ohne geeignetes Spielmaterial. Auch dorthin fließen unsere Spenden.
 
Wie soll es nun im irakischen Gesundheitswesen weitergehen? Die Hoffnung besteht allseits, dass die Erlöse aus dem Ölverkauf der irakischen Regierung zur Verfügung stehen werden und nicht wie bisher vorwiegend den Amerikanern. Dann könnte auch der Medikamentenbedarf wieder im Ausland gedeckt werden. Das Wichtigste aber ist, dass die ins Ausland geflüchteten irakischen Fachärzte in den Irak zurückkehren.

Eine Besserung der Situation. Das ist auch unsere große Hoffnung!

Von Prof.Dr. med. Ulrich Gottstein

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Ansprechpartnerin

Angelika Wilmen

Angelika Wilmen
Referentin für Friedenspolitik
Tel. 030 / 698074 - 13
Email: wilmen[at]ippnw.de

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