Artikel von Prof. Dr. Norman Paech

Kiew – „offene Stadt“

Unverteidigte Städte im Ukraine-Krieg

Niemand weiß, wie der Krieg weitergehen wird. Ob und wann er mit einem Friedensabkommen beendet werden kann, ist ebenso ungewiss. Bis dahin aber, und darüber gibt es keine Zweifel, werden die Kämpfe stärker, die Opfer an Menschen zahlreicher und die Zerstörungen immer furchtbarer.

Es wird zwar über die Einrichtungen humanitärer Korridore aus den Städten gesprochen, aber sie schützen nicht vor der Zerstörung der Städte. Es wird auf oberer und oberster politischer Ebene untereinander und mit Vermittlern gesprochen, aber wir wissen nicht worüber. Nur eines ist sicher. Die ökonomische und politische Konfrontation soll mit noch härteren Sanktionen verschärft werden, und der Widerstand gegen die russische militärische Übermacht, das heißt der Krieg, soll mit der Lieferung neuer und wirksamerer Waffen gestärkt und verlängert werden. Die Voraussetzungen für einen strategischen Kompromiss zwischen USA/NATO und Russland sind offensichtlich noch nicht gegeben. Die Ukraine liefert in diesem, nach dem Untergang des Ostblocks 1989/90 neuen kalten Krieg nur das bedauerliche heiße Schlachtfeld, welches allerdings im „Großen Schachbrett“ von Zbigniew Brzezinski schon vor 25 Jahren vorausgesagt worden war.

In der Friedensbewegung wird gefordert, die Kriegslogik durch eine Friedenslogik zu ersetzen: „Deeskalation, Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, Rückzug der Waffen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas.“ Alles alte Mahnungen, ein Reden gegen die Wand.

Kiew 2018. Foto: Alf Altendorf / CC BY-SA 2.0Es fragt sich doch: Gibt es für die Menschen auf diesem Schlachtfeld keine andere Alternative, als in dem blutigen Kampf um die strategische Oberhoheit im mehr oder weniger heroischen Widerstand unterzugehen? Die Vorstellung vom möglichen Frieden ist offensichtlich immer noch so sehr militarisiert, dass in ihnen Überlegungen einer Kapitulation oder der Erklärung zu „unverteidigten Städten“ als blanker Defätismus undenkbar sind. Eine Kapitulation ist ein offensichtliches "No Go", auch weil der ehemalige ukrainische und moskaunahe Präsident Viktor Janukowitsch das vom gegenwärtigen Präsidenten Wolodomyr Selenski gefordert hat. Wäre es aber nicht möglich, die Waffenstillstandsverhandlungen dadurch zu beschleunigen, dass die derzeit belagerten und am meisten gefährdeten Städte Kiew, Mariupol und Charkiw, aber auch Odessa und andere Orte sich zu „unverteidigten Stätten“ erklären? Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hat diese Möglichkeit zum ersten Mal in Artikel 25 definiert: „Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.“

So allgemein und unscharf dieser Ausweg formuliert ist, er ist während des Zweiten Weltkrieg von zahlreichen Städten in der Angst vor der brutalen Kriegsführung der Nazi gewählt worden: Rotterdam 1940, Paris, Brüssel, Belgrad 1941, Rom 1943, Orvieto, Florenz, Athen 1944 etc. Nicht immer hat diese Erklärung die Städte vor der brutalen Zerstörung durch die deutsche Armee bewahrt. So wurden Rotterdam und Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Noch kurz vor Kriegsende im April 1945 konnten sich zwei deutsche Städte, Ahlen und Gotha, erfolgreich vor den Angriffen der Alliierten durch ihre Erklärung zu „offenen Städten“ schützen. Magdeburg hingegen erklärte sich am 7. April 1945 nicht zur „offenen Stadt“ sondern zur Festung, die sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde. Nach einem schweren Luftangriff zwölf Tage später wurde die Stadt nahezu dem Erdboden gleichgemacht und von den Amerikanern besetzt.

1977 wurde das Konzept vom ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 in Art. 59 fast wortgleich übernommen. Es wurden nur einige Voraussetzungen für die Erklärung in Absatz zwei hinzugefügt: So müssen alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung verlegt worden sein. Militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden. Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen. Schließlich darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden.

In den Kriegen der Nachkriegszeit, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zu den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien spielten „unverteidigte Städte“ als effektiver Schutz vor Zerstörung und Vernichtung faktisch keine Rolle. Das humanitäre Völkerrecht der Haager und Genfer Konventionen ging in den Kampfhandlungen regelmäßig unter. Die zahlreichen Kriegsverbrechen wurden nur im Jugoslawienkrieg und dort vorwiegend nur gegen Serben, Kroaten, Kosovo-Albaner und Bosnier verfolgt. Die Seite der Angreifer, der NATO, blieb ungeschoren. Es war schließlich ihr Gericht.

Das Konzept der „unverteidigten Orte“ ist aus dem humanitären Völkerrecht nicht getilgt worden. Es ist vergessen worden. Was spricht dagegen, es jetzt wieder hervorzuholen? Die Vereinbarung eines Waffenstillstandes ist ungewiss und mag noch lange auf sich warten lassen. Die Opfer und das Leiden, Flucht oder Tod sind das Einzige, was die Menschen in den belagerten Städten mit Sicherheit erreichen werden. Sie haben faktisch nur die Wahl zwischen einer russischen Besatzung in einer halbwegs noch intakten oder weitgehend zerstörten Stadt. In der Kriegslogik mag die Übergabe der „offenen Stadt“ als Feigheit vor dem Feind gelten, in der Friedenslogik ist es die Klugheit vor einem Gegner, mit dem man sich in einer verträglichen Form auch nach dem Krieg arrangieren muss – um der Menschen willen.

Hamburg, den 9. März 2022

Norman Paech war Professor für öffentliches Recht an der ehemaligen HWP in Hamburg. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der IPPNW.

zurück

Ansprechpartnerin

Angelika Wilmen

Angelika Wilmen
Referentin für Friedenspolitik
Tel. 030 / 698074 - 13
Email: wilmen[at]ippnw.de

Hintergrundinformationen

Ärzt*innen warnen vor dem Atomkrieg
Papier über die humanitären Folgen eines Atomkrieges sowie eines kon­ventionellen Krieges in der Ukraine. PDF Download | Im Shop bestellen

Waffenstillstand und Frieden für die Ukraine
IPPNW-Papier: Überblick über bestehende Vorschläge und mögliche Schritte, den Krieg in der Ukraine durch Diplomatie statt durch Waffen zu beenden, 6. überarbeitete Auflage, Feb. 2024

Erklärungen der IPPNW
Hamburger Erklärung: Im Sturm den Friedenskurs halten (2022) | Download
Resolution: Am IPPNW-Friedenskurs festhalten (2023) | Download

"Schmutzige Bombe"
IPPNW-Information zu radiologischen Dispersionwaffen

Hyperschallkriege
Recherche von Ralph Urban zum neuen Wettrüsten mit Hyperschallwaffen (Forum 169/2022)

Risiko eines Atomkriegs aus Versehen
Mehr unter: atomkrieg-aus-versehen.de

Vertragsentwürfe zu Sicherheitsgarantien
Das russische Außenministerium hat am 17. Dezember 2021 Vertragsentwürfe für gegenseitige Sicherheitsgarantien zwischen Russland und der NATO sowie zwischen Russland und den USA vorgelegt. Das Ostinstitut Wismar hat die russischen Vertragsentwürfe in einer inoffiziellen deutschen Übersetzung veröffentlich. Die Antwort der NATO an Russland wurde bisher nicht veröffentlicht.

Mitmachen!

Überblick über bundesweite Veranstaltungen beim Netzwerk Friedenskooperative. 
Bestellen Sie Aktionsmaterialien: shop.ippnw.de

Reden von IPPNW-Mitgliedern*:

23.02.2024 Dr. Lars Pohlmeier, Berlin
10.04.2023 Ute Rippel-Lau, Hamburg
10.04.2023 Dr. Inga Blum, Hamburg
10.04.2023 Matthias Jochheim, Frankfurt
09.04.2023 Werner Strahl, Essen
08.04.2023 Ralf Urban, Wedel
08.04.2023 Odette Klepper, Düren
08.04.2023 Siegfried Lauinger, Kiel
08.04.2023 Angelika Claußen, Bielefeld
08.04.2023 Dr. Helmut Lohrer, Freudenstadt
01.10.2022 Ralph Urban, Hamburg
01.10.2022 Christoph Krämer, Berlin
01.10.2022 Matthias Jochheim, Frankfurt
01.10.2022 Dr. Helmut Lohrer, Stuttgart
18.04.2022 Dr. Elisabeth Heyn, Nürnberg
17.04.2022 Ernst-Ludwig Iskenius, Neuruppin
13.03.2022 Dr. Lars Pohlmeier, Berlin | Youtube
13.03.2022 Dr. Inga Blum
13.03.2022 Ralph Urban
04.03.2022 Dr. Sabine Farrouh, Offenbach
27.02.2022 Dr. Lars Pohlmeier, Berlin
26.02.2022 Ute Rippel-Lau, Hamburg

* Die Redebeiträge sind persönliche Texte der Redner*innen und spiegeln nicht unbedingt die Meinung der IPPNW bzw. des Vorstandes der IPPNW wider.

Fotos von der Kundgebung Atomkrieg verhindern in Hamburg

Navigation