Aus IPPNW-Forum 63/64

Der mentale Zustand der Bevölkerung in Jugoslawien

Vortrag von Prof. Milan Popovic

 

Wir leben seit 10 Jahren im Kriegszustand und leiden unter chronischem und häufig akutem Stress. Am schlimmsten war es während der Bombardements. Diese Erlebnisse haben zu einer massiven psychologischen Traumatisierung der Bevölkerung geführt, die sich vorwiegend in einem negativen Lebensgefühl manifestiert. Die serbischen Menschen sind apathisch und müde. Dies ist nur die Spitze des Eisberges von Depression, aber auch eine Folge unterdrückter Anspannung und Angst, wie das besonders während der Bombenangriffe deutlich wurde.

Mit Recht wird in der psychologischen Wissenschaft anerkannt, dass Apathie durch eine "erlernte Hilflosigkeit" verursacht werden kann. Wir erlebten, dass die Versuche der Menschen, ihre eigene Lebenssituation zu ändern und zu bessern, und den Familien und der Nachbarschaft durch persönliches Bemühen und aktiven Einsatz zu helfen, nicht nur zu Misserfolgen führten, sondern sogar zu einer Situationsverschlechterung. Daraus resultiert ein Zustand extremer Passivität und Hoffnungslosigkeit. Ende 1996 und Anfang 1997 waren große Demonstrationen in ganz Serbien. Der Grund hierfür war der Wahlbetrug durch das Regime Slobodan Milosevic. Die Demonstrationen endeten mit einem Misserfolg. Die Bürgerbewegung wurde zerstört durch den Narzissmus der eigenen Führer mit deren Kampf um eigene Macht, sowie wegen ungenügender Unterstützung durch die westlichen Länder für die demokratische Opposition in Serbien. Diese hatte doch in Wirklichkeit die Wahlen in der Mehrzahl der serbischen Städte gewonnen.

Parallel zur bestehenden Apathie ist ein großer Teil der Bevölkerung reizbar, verkrampft, intolerant und streitbar. Allgemeine, labile Aggressivität wird zu Wut gegenüber jedmöglicher Person, mit der man gerade zu tun hat: sei es ein Verkäufer, ein Busschaffner, ein Nachbar oder auch ein Familienmitglied. Die Richtung der Aggression ist horizontal und nur selten vertikal gegen Entscheidungsträger. Die Furcht der Menschen vor den Konsequenzen ist der Grund. In einer Situation ohne Rechtsverbindlichkeit ist das Verhalten nicht verwunderlich. Die Menschen leben in Furcht, denn bekannte Persönlichkeiten wurden getötet, Oppositionsführer und sogar Minister wurden ermordet. Fast alle Bürger fühlen sich unsicher und gefährdet, denn niemand weiß, wann das Gewitter losstürmt, wen es treffen wird, aus welchem Grund und mit welcher Stärke. Dies ist eine typische Charakterisierung von diktatorischen Regimen, und der Zweck ist die Aufrechterhaltung von Furcht.

In unserer Gesellschaft sind emotionaler Zusammenhalt und moralische Werte, welche Gruppen normalerweise verbinden, zerbrochen. Dieser Prozess hat sich auch auf die Familien ausgedehnt, in denen immer weniger Bereitschaft besteht, für chronisch Kranke und für Alte zu sorgen. Ich hatte Gelegenheit, diese Verhaltensweisen besonders während meiner Arbeit beim "Rot-Kreuz-Telefon-Notdienst für psychotraumatisierte Personen" während der Bombardements zu beobachten. Die allgemeine Armut trug zu diesem Phänomen noch bei. Die Daten in einer Studie des Soziologen Ratko Bozovic zeigen, dass 90% der serbischen Bevölkerung arm ist. Verarmung einer Bevölkerung und Reduzierung des Lebens allein auf Kampf fürs Überleben, verschlechtern massiv die Entwicklung zu einer zivilen Gesellschaft.

Unglücklicherweise leben wir jetzt in einer Zeit des Hasses. Unter allen negativen Phänomenen, die zu der bestehenden Traumatisierung führen oder aus ihr resultieren, ist Hass in Form von Zerstörung und Gruppenaggression am gefährlichsten. Ich erwähne besonders die Gruppenaggression, denn in der Gruppe neigen die Menschen dazu, ihr instinktives Normalbenehmen nicht unter Kontrolle zu halten und stattdessen alle Verantwortung auf den Führer der Gruppe oder auf die Gruppe selbst zu schieben. Dadurch werden sie befähigt, Verbrechen zu tun, die sie als Individuum nie getan hätten.

Dieses Phänomen nennt man "delegierte Verantwortlichkeit", die das Verhalten von paramilitärischen Formationen im Krieg erklären kann. In seinem Buch "Signs by the Road" (Zeichen am Weg) von Ivo Andric, Nobelpreisträger für Literatur, denkt der Autor über die Mentalität der Balkanvölker nach: "Vielleicht ist der Geist der meisten Menschen auf dem Balkan für immer vergiftet, und sie werden nie fähig werden, anderes zu tun, als Gewalt zu ertragen oder zu verüben". Sind wir die Opfer von Freuds "Wiederholungszwang", der dem Todesinstinkt dient? Die destruktive Aggression und die gleich destruktive Rache setzen sich ununterbrochen fort. Nicht eine einzige Generation ist hier jemals davon verschont geblieben. Unsere Kinder sind wieder davon betroffen, denn obgleich die Hassfähigkeit genetisch fixiert zu sein scheint, entwickelt sie sich doch insbesondere in einer Umwelt, in welcher das Leben in einer bedrohenden Atmosphäre beginnt.

Die Erfahrungen aus unseren Kriegen bestätigen die bekannten Tatsachen, dass Gruppen mit ähnlichen Charaktereigenschaften den stärksten gegenseitigen Hass entwickeln können. In seinem Werk "Moses und Monotheismus" definiert Freud dieses Phänomen als die Konsequenz aus "Narzissmus der kleinen Unterschiede", wo, um eine Unterscheidung und Trennung zu erzielen, die eigene Gruppe geheiligt und die andere dämonisiert wird. Demzufolge sind Hass und Liebe die stärksten im Familienzusammenhang. Hierfür wird auch der Begriff "Kain's Komplex" verwandt. In unserem Volk gibt es den Spruch "keine Schlacht oder Krieg ist so schlimm, wie zwischen Brüdern." Das schon erwähnte paranoide Verhalten, durch das Regime gehegt, trägt zu den grausamen Verhältnissen unter den Menschen bei. Der Gruppenzusammenhalt wird am besten geschaffen durch Erzeugung von gerechtfertigter oder ungerechtfertigter Furcht vor externen Feinden, wie alle Demagogen der Welt wissen. Xenophobie wird besonders gepflegt, die einerseits eine gesunde Kommunikation mit der Welt zerstört, und andererseits auf der Brutalität von Weltführern basiert, die nur an ihre eigenen Interessen denken. Potentiell gute Intentionen, besonders aus dem Westen, werden und wurden diskreditiert durch die anhaltende Bestrafung in Form von Sanktionen sowie durch die Bombardements, die das Volk, aber nicht die Regierung bestrafen. Diese aber weiß geschickt die Volksmeinung zu manipulieren.

Das Bombardement Jugoslawiens hat nur das Regime von Slobodan Milosevic gestärkt, das nun nach Feinden unter der eigenen Bevölkerung sucht. Es hat bei uns nie so viele "Verräter" gegeben wie heute, und ein Verräter ist jede Person, die andere Meinungen vertritt. In diesem kurzen und nur partiellen Überblick zur psychologischen und sozialen Pathologie des täglichen Lebens im heutigen Serbien müsste noch die große Furcht vor Krankheiten aufgeführt werden, welche Folge der katastrophalen Situation im Gesundheitssektor ist, sowie die Furcht vor Hunger, an dem 70% der Bevölkerung leidet, und die Furcht vor Vergiftung durch chemische Noxen und abgereichertes Uran in Folge der Bombardierungen, in unserem Land bekannt aber unzureichend untersucht.

Hat die jugoslawische Tragödie eine Botschaft für die Zukunft? Mit Sicherheit ja. Über allem muss stehen, dass lebende Menschen wichtiger sind als Territorien. Kollektives Bewusstsein und einseitige Autokratie führen zur Zerstörung. In dieser Gesellschaft wird die individuelle unkontrollierte Psychopathologie der Führer in eine gesellschaftliche Psychopathologie transformiert. Die Isolation und strikte Abschottung um diktatorisch regierte Länder führen zu Verbitterung und zu einem paranoiden Verhalten der Bevölkerung gegenüber der Welt, womit die Regime nicht geschwächt, sondern gestärkt werden.

Frieden kann nicht mit Bomben und Krieg erreicht werden, wie am Beispiel Kosovo wieder zu sehen ist, wo die humanitäre Katastrophe fortschreitet. Es gibt keine Alternative zur präventiven Diplomatie und zu gewaltfreier Konfliktlösung.

Milan Popovic

Juli 1999

Übersetzt aus dem Englischen von U. Gottstein

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