Mit den "Luft-Operationen" gegen Jugoslawien, einem zwar unerklärten aber eindeutigen Krieg, hatten die beteiligten NATO-Staaten bekanntlich nicht nur die UN-Charta gebrochen, sondern auch weitere verbindliche völkerrechtliche Vereinbarungen - im Falle Deutschlands u.a. den nicht lange zuvor geschlossenen 2+4-Vertrag -, sowie eigene nationale Verfassungen und Gesetze. Systematische Rechtsbeugung kam hinzu: Während Ländern, die als Diktaturen gebrandmarkt werden, westliches Demokratieverständnis mittels Bombenhagel nahegebracht wird, lehnt etwa im angeblich Gewalten-geteilten Deutschland der General-Bundesanwalt die geforderte Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen gegen Regierungsmitglieder ab - mit Begründungen, die er Äußerungen der Beschuldigten selbst entnimmt (siehe u.a. Pressemitteilung Kay Nehm vom 21.04.99).
Dies machte die Schaffung eigener Tribunale notwendig. Beflügelt u.a. vom Engagement des ehemaligen US-Justizministers Ramsey Clark und in der Tradition der Russel-Tribunale gegen den Vietnamkrieg entstanden bereits seit Mitte letzten Jahres gleich mehrere Initiativen hierzu: die Slawischen Tribunale, das Europäische Tribunal, von dem hier berichtet wird, sowie das Internationale Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, das später in New York stattfand und in das die Ergebnisse der zuvor (in Eigenständigkeit) abgehaltenen regionalen Tribunale einflossen.
Angesichts der massiven Parteilichkeit der offiziellen Instanzen in der "westlichen Welt" und der von ihr dominierten Gremien wie des offiziellen Jugoslawien-Tribunals in Den Haag war Ziel hierbei nicht die Schaffung unparteiischer Gremien - und auch nicht die Bewertung des Jugoslawienkonflikts als Ganzes -, sondern vielmehr die Bewertung und Anklage des Vorgehens der NATO und ihrer Verantwortlichen. Trotzdem wurde hierzu - dem Vorbild nicht nur offizieller innerstaatlicher Justiz, sondern auch etwa des historischen Nürnberger Tribunals folgend - eine Struktur aus Ankläger, Verteidiger und Richtergremium geschaffen. Der gewählte vorsitzende Richter, der Hamburger Völkerrechtler Prof. Norman Paech betonte, den 78 Tage und Nächte dauernden Bombenkrieg der NATO ausschließlich nach rechtlichen und völkerrechtlichen Kriterien zu beurteilen.
Deutsche IPPNW am Tribunal beteiligt
Die von dem Berliner Rechtsanwalt Ulrich Dost ausgearbeitete Anklageschrift umfasste Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere Verletzungen der Charta der Vereinten Nationen, der Prinzipien des Nürnberger Tribunals, der Haager und Genfer Abkommen sowie anderer Normen des Völkerrechts - darüber hinaus des 2+4-Vertrages, aber auch des NATO-Vertrages -, des deutschen Grundgesetzes sowie nationaler Gesetze.
Nach anfänglichem Zögern beschloss auch die deutsche IPPNW, sich zur wachsenden Zahl unterstützender NGOs und Einzelpersonen hinzuzugesellen. Angesichts des Ausmaßes des verübten Völkerrechtsbruches und des Umstandes, dass es sich bei der Tribunalbewegung um DIE internationale Nichtregierungs-Initiative dagegen handelt, war dies ohne Alternative. Auch notwendige Kritik ist nur durch eigene Beteiligung erfolgversprechend. Die diesjährige Mitgliederversammlung in Würzburg sagte zudem mit deutlicher Mehrheit auch einen finanziellen und personellen Beitrag zu.
Unter Anklage: auch ehemals Friedensbewegte wie Angelika Beer...
Angeklagt waren die Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsminister der beteiligten NATO-Staaten wie u.a. Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die verantwortlichen Funktionsträger der NATO und der Militärs dieser Länder - aber auch sämtliche Bundestagsabgeordnete, die dem Krieg zugestimmt hatten.
Gut 350 Teilnehmer aus mehreren europäischen Ländern und zum Teil auch aus Übersee hatten sich am 2./3. Juni in der Berliner "Kirche zum Heiligen Kreuz" eingefunden, um der zweitägigen Verhandlung beizuwohnen - unter den Teilnehmern aus Deutschland auch Angehörige der Verfolgten des Nazi- Regimes. "Sie haben unser Leben zerstört!" - Nicht die umfangreiche Anklageschrift, nicht die von den Sachverständigen vorgetragenen bestürzenden Fakten und wohl selbst nicht der einhellige Schuldspruch am Ende bewegte die Anwesenden mehr als die Schilderung von Marjana Brudar und den anderen Zeugen aus Jugoslawien. Die junge Frau berichtete detailliert über einen Angriff der NATO unweit von Morina, bei dem ihre Tochter, ihre Nichte sowie 86 weitere Kinder ums Leben gekommen waren. Während des Krieges und danach habe sie zudem stressbedingt zwei Fehlgeburten erlitten, erzählte die Zeugin unter Tränen. "Ich möchte, dass Blair an meine Mutter denkt, die ihre Enkeltochter zerfetzt in einer Plastiktüte entgegennehmen musste", schloss sie ihre Aussage. Der britische Premier, als Angeklagter zwar geladen, aber ebenso wie seine Mitangeklagten nicht zur Verhandlung erschienen, war indessen durchaus nach Berlin gekommen - zum Gipfel "Modernes Regieren im 21. Jahrhundert".
Angeklagte nur durch Pflichtverteidigerin vertreten Zum Schluss der Verhandlung kamen zunächst noch einmal die Vertreter der Anklage zu Wort, u.a. der französische Rechtsanwalt Pierre Kaldor und der bulgarische Völkerrechtler Prof. Velko Valkanoff. Rechtsanwalt Dost erklärte, angesichts des zu Tage getretenen Rechtsnihilismus gelte es, das Grundgesetz zu verteidigen und alle juristischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die Angeklagten auch vor einem offiziellen Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. Jene hatten noch nicht einmal einen einzigen Vertreter entsandt. Das Tribunal sah sich daher gezwungen, einen Pflichtverteidiger zu benennen. Die russische Rechtsanwältin Walentina Strauss, die mit dieser Aufgabe betraut worden war, bekannte, wie schwer ihr deren Übernahme gefallen sei. Gleichwohl widmete sie sich ihr mit großer Ernsthaftigkeit: Nach den vorliegenden Fakten handele es sich beim Krieg gegen Jugoslawien zwar eindeutig um eine Aggression. Sie betonte in ihrer Verteidigungsrede allerdings die Mitschuld von UNO, OSZE und Internationalem Roten Kreuz. Diese Organisationen hätten keine ausreichenden Mittel zur friedlichen Konfliktlösung ergriffen. Auch hätten die großen Medien wichtigen negativen Einfluss ausgeübt. Überdacht werden müsse zudem die Moral von Gesellschaften, die ihre Soldaten gegen andere Länder in den Krieg schickten, die ihnen nichts getan hätten.
Das Urteil und seine Bedeutung
Das Urteil der zehnköpfigen Jury fiel einstimmig aus: Beim Krieg der NATO gegen Jugoslawien handelte es sich Prof. Paech zufolge um eine Aggression gegen einen souveränen Staat. Diese habe gegen internationales und nationales Recht verstoßen und sei zu keinem Zeitpunkt durch irgendein Element der UN-Charta gerechtfertigt gewesen. Darüber hinaus seien die Folgen des als Bürgerkrieg bewerteten Konflikts im Kosovo durch die NATO-Intervention nicht gemildert, sondern letztendlich verschlimmert worden.
Das Urteil ist ein wichtiger Schritt hin zu Einigkeit und Handlungsfähigkeit einer sich neu formierenden Oppositions- und Friedensbewegung - die auf internationaler Ebene gegen eine wuchernde Kriegs- und Propagandamaschinerie der Wohlstandsländer antritt. Wie schwierig dies ist, welche fortbestehenden Gräben in den Köpfen und welche handgreiflichen Hindernisse dabei zu überwinden sind, zeigten ängstliche Gegenstimmen im Vorfeld: wegen befürchteter Dominierung durch den Osten, durch Kommunisten (gibt es die noch??), durch die Serben...
Tatsächliche Kritikpunkte und Probleme sollen dabei keinesfalls unter den Teppich gekehrt werden: Bei eventuellen Folgeveranstaltungen sollte z.B. noch strenger auf Trennung zwischen. Anklage, Richterjury und Sachverständigen geachtet werden. Wichtiger noch: Die wohl tiefgreifendsten und bis heute noch nicht überschaubaren Auswirkungen der NATO-Aktion bleiben im Urteil unerwähnt, wurden in Berlin letztlich gar nicht verhandelt. Gemeint sind nicht nur die In-Kauf-Nahme einer atomaren Konfrontation mit Russland und die - inzwischen zugegeben absichtliche - Bombardierung der chinesischen Botschaft. Gemeint ist vor allem der Umstand, dass das Völkerrecht nicht nur gebrochen wurde, sondern vorsätzlich und nachhaltig beschädigt (s. Dokument "With the United Nations whenever possible, without them when necessary" und Wortlaut der neuen NATO-Strategie).
Problem hierbei ist sicherlich, dass es über dem Völkerrecht keine Instanz mehr gibt, mit deren Hilfe dies angeklagt werden könnte. Dennoch darf dieser Aspekt nicht dauerhaft ignoriert werden - gerade eine internationale Friedensorganisation wie die IPPNW ist hier dringend gefragt!
Peter Preiß
Christoph Krämer
Weitere Links:
Das Europäische Tribunal im Internet
Das New Yorker Tribunal
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