Die geostrategischen Interessen des Westens sowie der Israel-Palästina-Konflikt trugen mit zur Radikalisierung der politischen Strömungen und zur Entstehung von Nationalismus und religiösem Fundamentalismus bei. Die offenen Grenzkonflikte und ethnischen Gegensätze, die aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und der kolonialistischen Grenzziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind, kommen noch hinzu.
Die Verquickung vielfältiger interner territorialer, ethnischer, religiöser und politischer Konfliktformationen mit den externen ökonomischen und geostrategischen Interessen der Vereinigten Staaten und des Westens verwandelte den Mittleren und Nahen Osten buchstäblich in ein explosives Gemisch. Der Irak war bisher in drei große Kriege verwickelt: der 8 Jahre andauernde irakisch-iranische Krieg 1980 - 1988 (1. Golfkrieg), Krieg Irak-USA nach dem irakischen Überfall auf Kuwait 1990 (2. Golfkrieg) und der US-Krieg gegen den Irak 2003 (3. Golfkrieg). Im Irak tobt gegenwärtig ein Beinahe-Bürgerkrieg, dem Land droht die Spaltung in drei Teile. Die Schaffung eines Großkurdistan ist für die Kurden verständlicherweise verlockend. Daraus würde aber eine neue Kriegsfront in der Türkei und im Iran gegen die Kurden folgen. Israel hat bisher fünf Kriege gegen arabische Staaten geführt. Der Mittlere und Nahe Osten ist die Region mit den umfangreichsten Waffenimporten und Militärausgaben in der Dritten Welt. Seit vierzig Jahren befinden sich die Hauptkonfliktparteien im Zustand des regionalen Wettrüstens. Israel ist eine Atommacht und will seine militärische Hegemonie nicht aus der Hand geben. Andere Staaten, wie der Iran, sind bestrebt, sich militärisch aufzurüsten und ebenfalls Atommacht zu werden.
Somit wachsen die Konfliktpotentiale von Tag zu Tag. Die bisherigen Versuche, z. B. den Israel-Palästina-Konflikt zu bewältigen oder wenigstens zu entschärfen, haben zur Ausweitung und Vertiefung des Konflikts geführt. Die Erfahrungen zeigen, dass unilaterale Initiativen die Konflikte vertiefen, weil sie die legitimen Ziele und Sicherheitsinteressen der jeweils anderen Konfliktpartei ausblenden. Auch selektive Initiativen führten zur regionalen Ausdehnung statt zur Lösung des Konflikts. Die Zeit ist dafür reif, endlich an einem tragfähigen Friedenskonzept für die gesamte Region zu arbeiten. Kofi Annan stellte vor seinem Ausscheiden aus dem Amt die aktuellen Konflikte im Mittleren und Nahen Osten in Zusammenhang. »Wir haben eine sehr beunruhigende Situation im gesamten Nahen Osten und wir müssen das als Ganzes sehen, nicht als einzelne Konflikte.« Eine friedliche Zukunft der Region könnte dagegen erreicht werden, wenn es gelänge, das selektiv-unilateralistische Vorgehen durch eine Strategie der gemeinsamen Sicherheit für alle Konfliktparteien im Mittleren und Nahen Osten zu ersetzen. Im Folgenden soll die Grundlage dieser Alternative skizziert werden. Dazu wird zunächst eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Konfliktstrukturen vorgenommen, und dann werden die vielfältigen Potentiale für eine regionale Kooperation analysiert, um zu untermauern, dass für eine gemeinsame Sicherheit auch eine tragfähige soziale Basis vorhanden ist und dass dieses Projekt dringend auf die Agenda der Weltpolitik zu setzen ist.
1. Grundlegende Konfliktstrukturen
Diese sind vielschichtig und können wie folgt nach ihren Besonderheiten und inneren Logiken differenziert dargestellt werden:
Territorialstreitigkeiten
Die wichtigsten Konflikte um Territorien sind im Einzelnen: Israels Besatzung von Palästina und den syrischen Golanhöhen; Iraks Grenzkonflikt um die Grenzlinie in Shatt-al-Arab (wichtiger Grund für den ersten Golfkrieg); Iraks Besitzanspruch auf Kuwait und auf die Inseln Bubiya und Warba: der Irak hat keinen Zugang zu den Weltmeeren, so dass der Besitz dieser Inseln Irak den direkten Zugang zu den Weltmeeren ermöglichen würde - dies war jedenfalls eines der Motive Iraks, Kuwait zu besetzen (zweiter Golfkrieg); iranisch-arabischer Konflikt um drei strategische Inseln (Abu Mussa, Groß Tonb und Klein Tonb) im Persischen Golf und Spannungen zwischen Iran und den arabischen Staaten um die Bezeichnung Persischer bzw. Arabischer Golf.
Konflikte um die Nutzung grenzüberschreitender Energie- und Wasserressourcen
Es handelt sich um den Konflikt zwischen Irak und Kuwait um das Ölfeld Rumaila, das von der irakischen Seite als ein weiterer Grund für die Besetzung Kuwaits angeführt wurde. Hinzu kommen Konflikte auch um grenzüberschreitende Öl- und Gasquellen im Persischen Golf zwischen den meisten Golfstaaten. Des Weiteren der Streit zwischen Iran und der Republik Aserbaidschan wegen des Ölfeldes Elburs im Kaspischen Meer und schließlich auch um den Konflikt bezüglich der Nutzung der Energiequellen des Kaspischen Meeres und um Öl- und Pipeline-Routen zwischen den Anrainerstaaten. Gelänge es nicht rechtzeitig, Voraussetzungen für geregelte und kooperative Nutzung dieser grenzüberschreitenden Energieressourcen zu schaffen, dann könnten absehbare Streitigkeiten, die auch mit der Abnahme der verbliebenen Ressourcenmengen intensiver werden dürften, sich in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen. Bei den Interessengegensätzen um die Nutzung von grenzüberschreitenden Gewässern geht es vor allem einerseits um den Konflikt wegen des Flusses Jordan zwischen Israel, Palästina und Jordanien und andererseits um die Flüsse Euphrat und Tigris zwischen Türkei, Syrien und Irak. Auch hier wachsen mit der Zunahme von Wasserknappheit Konfliktpotentiale und Kriegsbereitschaft.
Grenzüberschreitende ethno-religiöse Konflikte
Der Hauptkonflikt, der alle anderen Konflikte überlagert und Lösungen erschwert und in der Region einen Flächenbrand entfachen könnte, ist die alte Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten. Zwar sind die islamischen Wurzeln beider Strömungen und die gemeinsame Suche nach neuer Identität im Globalisierungsprozess bedeutend stärker als die Gegensätze. Diese können jedoch, wie gegenwärtig im Irak zu beobachten ist, durch gezielte und blutige Terroranschläge auf Heiligtümer der Schiiten bzw. der Sunniten, aber auch gegen die Zivilbevölkerung, künstlich geschürt werden. Bei einer Zuspitzung der Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten im Irak ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sich daraus ein flächendeckender Krieg in der gesamten Region entwickelt, und zwar zwischen Iran, den irakischen Schiiten und Hisbollah im Libanon auf der einen Seite, und Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten und den Sunniten im Irak und Libanon auf der anderen Seite. Verfolgungen der religiösen Minderheiten und Pogrome auf beiden Seiten, wie sie aus Afrika (Ruanda) bekannt sind, stünden dann auf der Tagesordnung. Unabhängig von diesen religiös motivierten Gegensätzen ist ein grundsätzlicher Kulturkonflikt in allen Staaten der Region im Gange, ein Konflikt zwischen Modernismus und Fundamentalismus im historischen Transformationsprozess, in dem sich die Staaten im Mittleren und Nahen Osten gegenwärtig befinden. Dieser Konflikt wird - vor dem Hintergrund der insgesamt gewaltträchtigen Atmosphäre - teilweise mit Gewalt ausgetragen, und er verleiht dem Kampf um den Zugriff zur Staatsmacht und zu staatlichen Ressourcen unter rivalisierenden religiösen bzw. nicht religiösen Strömungen wie im Iran, Ägypten, Saudi-Arabien, ja wie in allen Staaten der Region zu beobachten ist, zusätzlichen Auftrieb.
Ferner ist auch die Gefahr des Separatismus und Schürens neuer ethnischer Konflikte, vor allem in den Vielvölkerstaaten wie dem Iran (Azeris, Belutschen, Kurden, Turkmenen, Araber), nicht auszuschließen. Der grenzüberschreitende Kurdistan-Konflikt ist der wichtigste der ethnisch begründeten und noch immer ungelösten Konflikte, der eine permanente Quelle für weitere Zuspitzungen und gewaltsame Auseinandersetzungen im Irak, in der Türkei, aber auch im Iran darstellt. Hier geht es den kurdischen Nationalbewegungen um Veränderungen der Situation der Kurden mit unterschiedlichen Zielen: einerseits kulturelle Autonomie innerhalb des jeweiligen bestehenden Staatsverbandes, und andererseits die Gründung eines kurdischen Nationalstaates, der neue Kriege und internationale Interventionen heraufbeschwören dürfte. Hinzu kommt die Instrumentalisierung der Kurden als Faustpfand für machtpolitische Allianzen im Konkurrenzkampf unter den Zentralstaaten: Das Schah-Regime im Iran in Allianz mit irakischen Kurden gegen die irakische Zentralmacht in den 1960er und 1970er Jahren, die 1981 den Einsatz von Chemiewaffen durch das Regime von Saddam Hussein in der kurdischen Stadt Halabdscha nach sich zog, um die irakischen Kurden vor einer weiteren Kooperation mit dem Iran abzuschrecken; Allianz zwischen der Türkei und irakischen Kurden gegen die PKK in der Türkei; Allianz zwischen Syrien und PKK gegen die türkische Zentralregierung in den 1990er Jahren. Die gegenwärtige Zusammenarbeit zwischen USA und Israel mit irakischen Kurden gegen Iran und Syrien belegt, dass der Kurdistankonflikt auch eine internationale Dimension hat und tatsächlich neuartige Interventionen nach sich ziehen könnte.
Der Israel-Palästina-Konflikt
Es geht in erster Linie um die Beendigung der israelischen Besatzung und die Gründung eines eigenen palästinensischen Staates. Angesichts der fortgesetzten israelischen Besatzungspolitik und der Radikalisierung der palästinensischen Gesellschaft entstanden neben der säkularistischen palästinensischen Befreiungsbewegung auch religiöse Widerstandsgruppen wie die Hamas. Im Israel-Palästina-Konflikt werden neue Konfliktpotentiale mit explosiver Sprengkraft in der gesamten Region und darüber hinaus auch in der islamischen Welt mobilisiert. Dazu zählen anhaltende Feindbildproduktion, wachsender islamisch-jüdischer Fundamentalismus und arabischer Nationalismus, Verstärkung von Gewaltbereitschaft und Terrorismus sowie die Verhinderung der Demokratisierung in allen arabisch-islamischen Staaten. Dieser Konflikt ist die Ursache einer Israelfeindlichkeit in der islamischen Welt, die im Westen oft mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, und er ist auch eine der Ursachen einer ständig wachsenden Islamfeindlichkeit im Westen.
Der Israel-Libanon-Konflikt
Die Politisierung der palästinensischen Flüchtlinge in den libanesischen Flüchtlingslagern und die Präsenz der PLO im Libanon führte schließlich dazu, dass der Israel-Palästina-Konflikt Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre sich auf Libanons Territorium ausweitete. Im Juni 1982 besetzte Israel Südlibanon, und der daraus resultierende Widerstand der Schiiten im Südlibanon führte zur Entstehung von Hisbollah. Diese Strömung entwickelte sich mit ihrer hoch motivierten und gut trainierten Miliz zu einem Staat im Staate Libanons. Der ursprünglich durch Israels Besetzung von Palästina entstandene Israel-Libanon-Konflikt zieht neue Kreise und droht die gesamte Region zu erfassen. Durch umfangreiche Waffenlieferungen an die Hisbollah ist ein Wettrüsten zwischen Iran und Israel entstanden, was im letzten Libanon-Krieg im Juli 2006 beinahe in einen größeren Krieg zwischen Iran einerseits und Israel und den USA andererseits übergegangen wäre.
Die obige Beschreibung der grundsätzlichen Konfliktstrukturen und die Tatsache der Regionalisierung der Konflikteskalation sprechen dafür, die Perspektive einer zusammenhängenden regionalen Strategie analog zum KSZE-Prozess ins Auge zu fassen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie auch durch objektiv verifizierbare ökonomische, soziale und kulturelle Potentiale für langfristige Kooperation und gemeinsame Interessen unterstützt und getragen wird.
2. Vielfältige Gemeinsamkeiten
Im Mittleren und Nahen Osten gibt es nicht nur Gegensätze, sondern auch viele Gemeinsamkeiten. Im Folgenden werden die wichtigsten dieser Potentiale aufgelistet, die belegen, dass sie für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kooperation in der Region beträchtlich sind und eine gute Grundlage auch für eine politische Kooperation darstellen.
Ökonomische Kooperationspotentiale
Möglich ist eine regionale Arbeitsteilung mit komparativen Kostenvorteilen für alle Beteiligten: durch Öl- und Gasexporte sowie petrochemische Produkten aus den Golfstaaten, gegen Agrarprodukte, Lebensmittel, Textilien, langlebige Konsumgüter, Industrieanlagen und High-Tech-Erzeugnisse aus dem Iran, der Türkei und Israel, wobei der Iran auf Grund seiner Größe, diverser Klimazonen und fossiler Reserven beide Produktgruppen zum Tausch bereitstellen könnte. Des Weiteren könnten Potentiale für den regionalen Tourismus in allen Golfstaaten, allen Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres, allen Anrainerstaaten des Mittelmeeres und Hochkulturstaaten mit antiken Sehenswürdigkeiten (Ägypten, Iran, Türkei, Jordanien, Syrien und alle kleinasiatischen Staaten) durch gemeinsame Projekte erschlossen werden. Hinzu kommen die Ausweitung und Vertiefung gemeinsamer grenzüberschreitender Investitions- und Finanzierungsprojekte (wie z.B. gegenwärtig bei iranischen Investoren in Dubai und türkischen Investoren in zentralasiatischen Staaten). Sinnvoll und möglich ist der Ausbau von grenzüberschreitenden Infrastrukturanlagen (Eisenbahnnetz, regionale Wasserwege). Die Gründung einer regionalen Entwicklungsbank könnte die Abhängigkeit von multinationalen Finanzinstitutionen verringern und zur De-Zentralisierung dieser Institutionen beitragen. Möglich und sinnvoll wäre auch die Gründung von gemeinsamen Wirtschaftskommissionen als Keimzellen einer regionalen Wirtschaftsintegration nach dem Vorbild der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).
Ressourcen- und Umweltschutz, Ausbau erneuerbarer Energiequellen
Angesichts von nichtnachhaltiger Nutzung von Öl- und Gasquellen in allen Staaten im Persischen Golf bietet es sich an, gemeinsame Strategien zur nachhaltigen Nutzung von Öl- und Gasquellen zu entwickeln und dabei unterschiedliche Erfahrungen nutzbar zu machen. Zu nennen sind auch gemeinsame Investitionsprojekte zur Nutzung des Kaspischen Meeres und des Persischen Golfes, ferner auch gemeinsame Projekte zur Nutzung regenerativer Energiepotentiale und zur Schaffung eines regionalen Stromnetzes. Besonders wichtig sind auch Strategien zur gemeinsamen Nutzung von knappen Wasserressourcen und Regelungen zur gerechten Verteilung von grenzüberschreitenden Gewässern. Auch hier können gemeinsame Kommissionen für die Koordinierung von Umweltschutz und Ressourcennutzung entstehen, die die institutionellen Grundlagen für die regionale Integration in diesem Bereich bilden.
Soziale Projekte
Die Region verfügt über erhebliche finanzielle und menschliche Ressourcen, um wichtige grenzüberschreitende soziale Projekte, die geeignet sind, neue Arbeitsplätze in besonders benachteiligten Regionen, aber auch in Konfliktregionen wie Palästina und Kurdistan, die auf Grund ihrer permanenten Verwicklung in Kriege auf Ressourcenimport angewiesen sind, zu schaffen. Nur so können anstelle von Separatismus mit allen seinen gewaltsamen Folgen die Vorteile der Friedensperspektive durch Kooperation erlebbar gemacht und neuen Konflikten der Boden entzogen werden. Auch gemeinsame Strategien zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut, Drogenabhängigkeit und Analphabetismus verstärken die Identität und begünstigen die Kooperation in allen anderen Bereichen.
Kultur und Bildung
Alle Staaten im Mittleren und Nahen Osten haben gemeinsame kulturelle und religiöse Wurzeln. Es gibt zwar einen unbarmherzigen Konflikt zwischen islamischen Staaten und Israel, jedoch bisher nicht zwischen Moslems und Juden. Immerhin lebten in allen Staaten der Region Juden mit Moslems jahrhundertelang friedlich zusammen. Antisemitismus, im Sinne von Judenverfolgung oder Vernichtung, ist, so wie wir ihn aus der europäischen Geschichte kennen, in den islamischen Ländern so gut wie unbekannt. Auch heute richtet sich die Feindschaft der Moslems ganz eindeutig gegen den Staat Israel, und zwar wegen dessen Besatzungspolitik, aber nicht gegen die Juden als religiöse Gemeinschaft. Die gemeinsame Geschichte: (Perserreich, Arabisches Reich der Abbassiden, Osmanisches Reich), mit dem Iranischen Kulturkreis (Iran, Afghanistan, Kleinasiatische Staaten) begünstigt das Verständnis von gemeinsam zu bewältigenden Modernisierungsproblemen und Zukunftsfragen. Die sprachliche Verwandtschaft (iranische Sprachgruppe, semitische Sprachgruppe, türkische Sprachgruppe) begünstigt ebenfalls den Kulturaustausch im jeweiligen Sprachkreis und die Bildung subregionaler Kulturzentren, z. B. die Gründung gemeinsamer Universitäten und Forschungseinrichtungen, in Kurdistan, in den Golf- und den Kaspischen Meer-Staaten, vielleicht irgendwann auch in Jerusalem. Dies gilt auch für die Vernetzung zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projekte, insbesondere den Jugendaustausch
3. Perspektiven für gemeinsame Sicherheit
Die Sicherheit ist unteilbar
Die traditionelle Vorstellung von Sicherheit durch Machtvermehrung, gestützt auf Hobbes Menschenbild (»der Mensch ist des Menschen Wolf«) und Annahmen der »realistischen Schule«, dass Misstrauen und Aggressionsbereitschaft der Staaten Naturkonstanten in den internationalen Beziehungen darstellen, hat einen entscheidenden Konstruktionsfehler. Ungeachtet der Frage, ob die Annahmen dieser Schule begründet sind, geht sie analog zur merkantilistischen Lehre der Ökonomie von einem Nullsummenspiel als Ergebnis von zwischenstaatlichen Beziehungen aus: Mehr Sicherheit und mehr Wohlstand von A beruht auf weniger Sicherheit und weniger Wohlstand von B. Dieses Denken legitimierte mitunter den Kolonialismus und Imperialismus in den letzten Jahrhunderten und forcierte die beiden Weltkriege sowie das nukleare Wettrüsten in der Ära des Kalten Krieges.
Dem gegenüber steht Kants Idee des Friedens durch Kooperation, die analog zur klassischen Idee des Freihandels für alle Beteiligten mehr Wohlstand und auch mehr Sicherheit in Aussicht stellt, und zwar durch Herstellung eines dauerhaften Friedens. Das Ergebnis der Handlungen, die aus der Philosophie des Friedens durch Kooperation hervorgehen, folgt der Logik des Plussummenspiels: Mehr Sicherheit und mehr Wohlstand für A bedingt auch mehr Sicherheit und mehr Wohlstand für B. Die Integration der ehemals verfeindeten europäischen Staaten in die Europäische Union beruhte auf dieser Philosophie. Trotz aller noch bestehenden Defizite im Bereich sozialer Gerechtigkeit, der Partizipation und der sozialen Sicherheit schuf die EU-Integration eine nachhaltige Grundlage für ökonomische und politische Kooperation zum Vorteil aller beteiligten Staaten und - was von größerer Bedeutung ist - auch zur Verbannung des Krieges.
Die Europäische Union entstand unmittelbar aus der Intention der ökonomischen Kooperation derjenigen europäischen Staaten mit annähernd gleichen Wirtschaftssystemen, gleichem Lebensstandard und identischen kulturellen Werten. Ihr gegenwärtiges Sicherheitssystem wuchs organisch aus der ökonomischen Vernetzung heraus. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) entstand jedoch auf dem Höhepunkt der Ost-West-Konfrontation, und zwar aus dem normativen Bedürfnis unterschiedlicher ökonomischer Systeme und kultureller Erfahrungen unterschiedlicher politischer Systeme, um die Feindschaft zwischen westlichen und östlichen Staaten durch die Idee der gemeinsamen Sicherheit abzubauen, das Wettrüsten in einen Abrüstungsprozess umzukehren und langfristig ohne Gewaltanwendung die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Gemeinsame Sicherheit ist ein Sicherheitssystem für Staaten unterschiedlicher Kulturen und Lebensstandards, das erlaubt, ein Maximum an Sicherheit durch ein Minimum an Aufwand zu erzielen. Sie beruht auf dem Ausschluss des konfrontativen Verhaltens, auf der formalen und auch faktischen Gleichheit aller Mitgliedsstaaten und auf der Möglichkeit der ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Kooperation. Die KSZE wurde 1976 in Helsinki gegründet und 1995 in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überführt. Ihr gehören heute 55 Staaten an. Dies sind alle europäischen Staaten sowie USA und Kanada an . Die OSZE schließt geographisch den gesamten Raum zwischen »Vancouver und Wladiwostok« ein. Zwar hat die Abrüstung, ein einschneidendes Ziel der OSZE in Europa, nur begrenzte Fortschritte gemacht, das Wettrüsten wurde jedoch vorerst gestoppt und die in den 1980er Jahren aufgestellten gefährlichen Mittelstreckenraketen in Ost- und Westeuropa wurden wieder abgebaut. Die KSZE hat entscheidend zum »Wandel durch Annäherung« zwischen den west- und osteuropäischen Staaten und zur Demokratisierung in Osteuropa beigetragen.
Die Staaten des Mittleren und Nahen Ostens können nicht nach europäischem Muster unmittelbar mit der ökonomischen Integration beginnen, dazu sind ihre ökonomischen Systeme, ihr Lebensstandard und ihre kulturellen Erfahrungen viel zu verschieden. Sie können jedoch sehr wohl dem Weg der gemeinsamen Sicherheit folgen, den Europa beschritten hat. Dieser Weg ist auch dringend geboten, weil alle beteiligten Staaten der Region daraus mittel- und langfristig für sich Vorteile ziehen und darüber hinaus dadurch auch die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden herstellen könnten. Dies gilt nicht zuletzt auch für Israel.
KSZMNO jetzt...
Mittel- und langfristiges zentrales Ziel von KSZMNO müsste darin bestehen, die Schaffung einer atomwaffen- bzw. umfassender massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten zu ermöglichen. Neu ist diese Idee allerdings nicht. Die erste Initiative kam 1957 aus Israel selbst als zwei Mitglieder der israelischen Regierung aus Protest gegen das Atomwaffenprogramm der Regierung zurücktraten und das Committee for Denuclearization of the Arab-Israel Conflict gründeten. 1962 rief dieses Committee erstmals öffentlich zur Errichtung einer atomwaffenfreien Zone in der Region auf. Die UN-Generalversammlung verabschiedete 1974 auf Vorschlag von Ägypten und Iran eine Resolution für eine nuklearwaffenfreie Zone im Mittleren Osten, die sie seitdem wie ein Ritual jedes Jahr aufs Neue verabschiedet, seit 1980 sogar einstimmig, d. h. also auch mit israelischer Zustimmung. Diese Idee, aber auch die Idee einer massenvernichtungswaffenfreien Zone (Mubarak-Initiative von 1990), war zentraler Gegenstand zahlreicher Verhandlungen zwischen Israel und den arabischen Staaten, die jedoch in der Sackgasse endeten. Warum eigentlich?
Die Hauptursache des Scheiterns dieser Initiativen ist die maximalistische Forderung der Konfliktparteien. Während Israel stets die umfassende Friedensregelung zur Voraussetzung für Gespräche über atomare Abrüstung erklärte, verlangten die arabischen Staaten genau die umgekehrte Reihenfolge. Beide Seiten haben offenbar das erst nach mehreren Jahren Verhandlungen zu erreichende Ergebnis zur Voraussetzung für den Beginn der Verhandlungen gemacht und sich damit gegenseitig blockiert. Der 1994 in Oslo begonnene Nahost-Friedensprozess steckt selbst in der Sackgasse, weil Israel die umfassende Anerkennung seiner Existenz durch alle palästinensischen Fraktionen zur Voraussetzung weiterer Verhandlungen gemacht hat, ohne die Forderung der Palästinenser für einen lebensfähigen Staat als Gegenleistung und frei von unrealistischen Bedingungen zu akzeptieren. Obwohl die Strategie des selektiven Herangehens zur Beilegung des Israel-Palästina-Konflikts ohne eine Gesamtperspektive für Abrüstung und gemeinsame Sicherheit gescheitert ist, machen Sicherheitsexperten und Politiker den Beginn einer Konferenz für gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten unverständlicherweise von der Bewältigung einzelner Konflikte abhängig. »Realistischerweise wird man«, so der Nahostexperte Volker Perthes, »die Entstehung einer solchen Struktur kaum erwarten können, bevor sich nicht die wesentlichen territorialen Konflikte der Region - insbesondere der israelisch-palästinensische und der israelisch-syrische - zumindest auf dem Weg zu einer friedlichen Regelung befinden.« Ähnlich äußerte sich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach dem jüngsten Libanon-Krieg in einem Interview mit Bild am Sonntag: »In den Zeiten der Spaltung Europas in Ost und West«, fragt der Interviewer, »war Willy Brandt an der Schaffung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) beteiligt, die eben diese Spaltung überwinden sollte. Ist so etwas für den Nahen Osten und insbesondere für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern vorstellbar?« »Ich glaube«, antwortet der deutsche Außenminister, »die Konferenz-Idee hat ihren Platz in den zukünftigen Bemühungen um Frieden im Nahen Osten. Aber wir müssen uns in Schritten auf sie zu bewegen, bevor wir diese Idee zu früh verbrennen. Mein Plädoyer lautet deshalb: Annäherung zwischen Israel und Palästina nach Kräften fördern, denn das ist der Kernkonflikt der Region. Dazu sollten wir die wichtigen internationalen und regionalen Partner einbinden.«
Außer pessimistischen Stimmen gibt es erfreulicherweise sowohl unter den Experten wie in der Politik durchaus auch optimistische Stimmen für den Beginn einer Mittel- und Nahostkonferenz. »Trotz der bislang fehlgeschlagenen Initiativen«, schreibt der Sicherheitsexperte Rolf Mützenich, »besteht eine realistische Chance, dem Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone näher zu kommen - wenn mit Realismus und Geduld an die Verhandlungen herangegangen wird.«. Auch die deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, setzte sich im Sommer 2006 für einen ernsthaften Versuch ein, über die bisherigen Initiativen hinauszugehen: »Ich plädiere, schrieb sie in der Frankfurter Rundschau, »für eine internationale Nahost-Konferenz, an der auch die arabischen Staaten teilnehmen, über die ja schließlich mit verhandelt wird. Zugegeben, die bisherigen Nahost-Konferenzen beginnend mit Madrid 1991, waren nicht langfristig tragfähig und in diesem Sinne nicht erfolgreich. Durch eine Nah- und Mittelost-Konferenz könnte ein Prozess für Frieden und Sicherheit in Gang gesetzt werden, der in den zentralen Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der menschlichen Sicherheit Fortschritte ermöglicht. Die Menschen in der Region wollen in ihrer übergroßen Mehrheit Frieden. Wäre es nicht eines neuen Anlaufs wert«, fragt die Ministerin, »das scheinbar Undenkbare zu versuchen?«
Volker Perthes und Frank-Walter Steinmeier wiederholen jedoch dieselben Fehler, die zum Scheitern der bisher angestrebten Lösungsversuche geführt haben. Sie übersehen offensichtlich, dass wir uns vom Kernkonflikt längst entfernt haben. Der Israel-Palästina-Konflikt weitete sich zum Israel-Syrien- und Israel-Libanon-Konflikt aus. Letzterer rief durch die schiitische Allianz zwischen Hisbollah und Iran den Israel-Iran-Konflikt auf den Plan. Der Iran befindet sich inzwischen auf dem Weg zur Schaffung eigener Nuklearpotentiale. Somit hat der Kernkonflikt wie ein Geschwür in der gesamten Region Metastasen gebildet, Feindschaft, Feindbilder, Gewaltbereitschaft und Terrorismus verstärkt.
… und ohne Vorbedingungen
Will man nicht auf ein Wunder warten, der verhindert, dass die Region zusammen mit Israel in den Abgrund stürzt, dann bliebe keine andere Wahl als die Konfliktformationen in ihrer Gesamtheit anzupacken und im Rahmen einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit einzubringen. Dazu müsste sie umgehend und ohne Vorbedingungen ins Leben gerufen werden. KSZMNO darf nicht als letzter Schritt, auch nicht als zweiter, sondern muss als allererster Schritt in Betracht gezogen werden. Es kommt darauf an, eine Wende - weg vom Geist der Selektion, der Spaltung, der Bildung von Konfliktallianzen und hin zum neuen Geist der gemeinsamen Sicherheit und Kooperation - herbeizuführen. Das konkrete Ziel der Konferenz müsste darin bestehen, einen neuen Rahmen zu schaffen, der es allen Staaten im Mittleren und Nahen Osten ermöglicht, sich auf den Weg zu einem Dialog für gemeinsame Sicherheit und Kooperation zu begeben.
Die Bereitschaft zum Dialog ist die einzige akzeptable Bedingung für den Konferenzbeginn. Konfliktparteien, die Vorbedingungen stellen, schließen sich selbst vorerst aus. Die Konferenz müsste selbst mit einer kleineren Zahl von willigen Konfliktparteien begonnen werden. Allein der Konferenzbeginn könnte eine Dynamik in Gang setzen, der zu entziehen auf Dauer auch hartnäckige Verweigerer sich nicht werden leisten können.
Die Haupttätigkeit der Konferenz müsste zunächst darin bestehen, analog zur KSZE, allerdings angepasst an die Bedingungen in der Region, Schritte zu vertrauensbildenden Maßnahmen einzuleiten, Konfliktfelder aufzulisten, sie so zu sortieren, dass die Perspektive der gemeinsamen Sicherheit und Kooperation für alle beteiligten Staaten nachvollziehbarer wird und die gewünschte Dynamik erzeugt, um alle Staaten der Region in das Projekt zu integrieren. Vieles könnte in 10 oder 15 Jahren tatsächlich erreicht werden, was aus heutiger Sicht als utopisch erscheinen mag. Jedes Verschieben des Beginns einer KSZMNO wäre daher eine Entscheidung für weitere Konflikte und Kriege, die dann unvermeidlich kommen würden.
Kreis der Teilnehmer
Grundsätzlich sollte es dem Konferenzprozess überlassen bleiben, wann welcher Staat der Region sich diesem Prozess anschließt. Auf Grund zusammenhängender Konfliktstrukturen, der kulturellen Relevanz, der Ressourcenausstattung und der geographischen Lage muss grundsätzlich zwischen Staaten im Kern und in der Peripherie des Großraums Mittlerer und Naher Osten unterschieden werden. Zu den Kernstaaten gehören Ägypten, Israel, künftiger Palästinenserstaat, Jordanien, Syrien, die Türkei, Irak, Iran, Saudi Arabien, Kuwait, Bahrain, Katar, Vereinigte arabische Staaten und Oman. Die peripheren Staaten sind im Norden und Osten alle zentralasiatische Staaten, sofern sie sich der Konferenz anschließen wollen, sowie Afghanistan. Hinzu kommen im Westen die mediterranen arabischen Staaten Marokko, Tunesien, Libyen und Algerien. Somit kann die KSZMNO langfristig den gesamten Raum zwischen Nordafrika und Pakistan von West nach Ost und zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaukasus bis zum Indischen Ozean von Nord nach Süd einschließen. Der Erfolg der KSZMNO hängt fundamental davon ab, mittel- und langfristig alle Kernstaaten (erste Gruppe) auf jeden Fall in den Konferenzprozess einzubeziehen. Andernfalls muss damit gerechnet werden, dass entweder Teilkonflikte - beispielsweise die Kurdistanfrage, im Falle, dass die Türkei sich der Integration in die KSZMNO verweigert - fortbestehen oder aber auch die Kooperationspotentiale nicht hinreichend effizient genutzt werden. Gleichwohl muss die Option für die Kooperation mit den peripheren Staaten (zweite Gruppe) offen bleiben.
Eine genau so wichtige Frage ist, welche Staaten an KSZMNO ein prinzipielles Interesse hätten und welcher Staat bzw. welche Staatengruppe die Initiative für die KSZMNO ergreifen könnte. Dass die Initiative zu allererst in der Region selbst entstehen und in Gang kommen sollte, liegt auf der Hand. Gibt es aber Staaten bzw. Staatengruppen aus der Region, die die Vorreiterrolle übernehmen wollen und auch können? Diese Frage bedarf näherer Erläuterung: Die Staaten, die im Rahmen einer KSZMNO an Macht verlieren, dürften aller Wahrscheinlichkeit nach als Vorreiter ausscheiden.. Dazu gehört Israel, solange dort die zionistische Ideologie, die nach wie vor die Schaffung Großisraels propagiert, dominiert. Dazu gehören auch die vordemokratischen Eliten, vor allem in Saudi Arabien, die es vorerst vorziehen, die Absicherung ihrer Herrschaft durch eine Allianz mit den USA zu erreichen und diese über die Interessen ihrer Völker und über die gemeinsame regionale Sicherheit zu stellen. Demgegenüber kann davon ausgegangen werden, dass die meisten kleineren Staaten im Golfkooperationsrat (GCC), darüber hinaus auch Libanon, Jordanien, Syrien, aber auch Ägypten und Iran, möglicherweise auch die Türkei, zu den Befürwortern einer KSZMNO gezählt werden können, da sie in dieser Perspektive eine höhere Sicherheit für sich prognostizieren dürften als sie gegenwärtig haben. Der Iran würde aller Wahrscheinlichkeit nach erst im Rahmen einer regionalen Sicherheitskonferenz sich dazu durchringen können, die Urananreicherung zu stoppen. Trotz objektiver Interessen ist es vorerst schwer vorstellbar, dass die letztgenannten Staaten auf Grund aktueller Konflikte und Machtallianzen um die Achse Iran-Syrien einerseits und Ägypten-Saudi Arabien andererseits in der Lage sein könnten die Vorreiterrolle zu übernehmen, um alsbald die Konferenz einzuberufen, so dass trotz prinzipieller Nachteile die Initiative sinnvollerweise von außerhalb der Region kommen müsste.
EU und KSZMNO
»Was ist seit 1956 geschehen«, schreibt Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung Haaretz, »als die USA mit einem einzigen Telefonanruf Israel dahin brachten, sich über Nacht aus dem Sinai zurückzuziehen - und zwar unmittelbar nach der Rede des stärksten israelischen Führers Ben Gurion über das 3. Königreich Israel? Doch jetzt, nachdem die Besatzung seit Jahren besteht und die Regierung nicht weniger von der Gnade der USA abhängig ist als in der Vergangenheit - warum schauen die USA nur zu?«
Die Antwort auf diese Frage ist, dass Stabilität durch gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten den Hegemonialinteressen der USA offensichtlich nicht zuträglich ist. Israel als regionale Hegemonial- und Atommacht entwickelte sich inzwischen zu einem wichtigen Pfeiler des US-Hegemonialsystems. Daraus folgt sicherlich, dass die USA deshalb keinen Anlass sehen, sich als Vorreiter für die Einberufung einer KSZMNO zu betätigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie in der Lage wären, eine in Gang gekommene KSZMNO auf Dauer zu blockieren, zumal die USA selbst, wie das Irak-Desaster zeigt, an die Grenzen ihres Unilateralismus gestoßen sind.
Nach einer realistischen Beurteilung verfügt unter den hierfür in Frage kommenden Mächten die EU über die größten Möglichkeiten, um eine langfristig angelegte KSZMNO auf vielfältige Weise zu unterstützen. Allerdings dominiert in der EU - dies darf nicht übersehen werden - die Position, Europas kurzfristige Energie- und Rohstoffinteressen entweder dadurch durchzusetzen, dass sich die EU der US-Hegemonie und dem bestehenden Unilateralismus unterordnet und damit notwendigerweise auch die Lasten der hegemonialen Ordnung mit den USA teilt, oder ein eigenes Hegemonialsystem samt militärischem Fundament in Konkurrenz zur US-Hegemonie aufbaut.
Dem gegenüber hätte die EU auch die realistische Chance, Europa als eine nachahmenswerte regionale Zivilmacht weiter zu entwickeln, um multilaterale und Frieden fördernde Strukturen in der Welt aufzubauen. Die eigenen langfristigen Interessen, die historischen Integrationserfahrungen nach 1945 und die politischen Folgen des KSZE-Prozesses stellen dafür eine unschätzbar wertvolle Grundlage dar.
Dies erfordert allerdings auch, dass sich gegen die gegenwärtige identitäts- und profillose Führung eine neue politische Elite in der EU durchsetzt, die nicht zu allererst nach Washington schielt, sondern die sich stattdessen den positiven europäischen Errungenschaften in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte, Frieden verpflichtet fühlt und sich auf die eigenen moralischen Machtpotentiale besinnt. Die KSZMNO dürfte sich im übrigen als ein effizienter Hebel erweisen, sich allmählich auch von der transatlantischen Zwangsjacke zu lösen. Die EU hätte durch die Unterstützung der KSZMNO die historische Chance, sich erneut auf die OSZE zu besinnen und dieses größte System für Kooperation und gemeinsame Sicherheit in der Welt, das in den letzten 10 Jahren durch die Nato-Kriege auf europäischem Territorium zurückgedrängt wurde, neu zu beleben und die OSZE-Gestaltungspotentiale deutlich zu stärken. Die EU selbst würde durch die Entstehung einer regionalen Integrations- und Sicherheitsgemeinschaft im Mittleren und Nahen Osten kurz-, mittel- und langfristig den größten Nutzen ziehen: die sicherheitspolitischen Gefahren eines vielschichtigen Konfliktherdes vor der eigenen Haustür wären gebannt, die energiepolitische Sicherheit auf Dauer erreicht und die Voraussetzungen für eine ökonomische Kooperation mit der Region deutlich verbessert.
Gemeinsame Sicherheit, Demokratisierung und Abrüstung
Die US-Regierung behauptet, mit ihrer Greater-Middle-East-Initiative die Region demokratisieren zu wollen. Würde sie es damit tatsächlich ernst meinen, dann wären dazu die Strukturen einer gemeinsamen Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten der beste Weg. Denn nur in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens hat die ökonomische und politische Transformation, die gegenwärtig massiv unter Aufrüstung, Kriegen, gegenseitigen Drohkulissen und rückwärts gewandten Strukturen leidet, eine Chance stattzufinden. Die sozialen Träger der Demokratisierung in der Region könnten ihren Handlungsspielraum ausweiten und ihre Basis vertiefen, wenn äußere Gewaltandrohungen wegblieben. Und umgekehrt verlören sie beträchtlichen Handlungsspielraum an konservative Gruppen und Schichten, wenn sich Konflikte mit den Nachbarstaaten wie der gegenwärtige zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten zuspitzten. Außer den unbestreitbar positiven Effekten für die Demokratisierung sind die Perspektiven gemeinsamer Sicherheit die wirkungsvollste Garantie zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen und für Abrüstung. Der Iran-Atomkonflikt kann nur im Kontext dieser Perspektiven auf Dauer gelöst werden. Dies setzt allerdings die Bereitschaft Israels voraus einzusehen, dass auch die Abrüstung ihrer atomaren und konventionellen Waffenarsenale zu mehr Wohlstand und Sicherheit führt, wohingegen Israels Bevölkerung unter den gegenwärtigen Bedingungen des Krieges und der permanenten Angst um die eigene Sicherheit gefangen bleiben würde. Solange westliche Staaten - allen voran die USA - Israel hinreichende Sicherheitsgarantien geben würden, was sie ja auch tun, bestünde im Prinzip kein nachvollziehbarer Anlass, dass die Existenz eines entmilitarisierten Israels in einem entmilitarisierten Mittleren und Nahen Osten bedroht wäre. Gewänne diese Idee in Israel eine Mehrheit, hätten die USA keine andere Wahl, als sie ebenfalls zu unterstützen.
Eine Herausforderung für Israel - die aber zukunftsfähig ist
Seit der Gründung Israels herrscht im Mittleren Osten ein permanentes Wettrüsten. Israel fühlte sich schon durch die bloße demographische Übermacht der arabischen Staaten bedroht und entschied sich - um diese durch das demographische Übergewicht empfundene Bedrohung abzuwehren - für den Aufbau einer starken Militärmacht, einschließlich atomarer Bewaffnung, und orientierte sich ökonomisch wie politisch-kulturell weg von der Region, in der schließlich die Juden selbst ihren Staat gründeten, und entwickelte stattdessen vielschichtige Beziehungen und Bindungen mit Staaten - vor allem mit den USA -, die geographisch fernab von der Region liegen. Auf die militärische Aufrüstung und Westorientierung Israels reagierten die arabischen Staaten, aber auch der Iran, ihrerseits mit Wettrüsten. Der Iran-Atomkonflikt ist das neueste Ergebnis des Wettrüstens im Mittleren und Nahen Osten. Die Umorientierung Israels weg vom Westen und hinein in eine Region, wo dieser Staat und seine Bürger beheimatet sind, ist eine wichtige Voraussetzung für die regionale Kooperation und für den dauerhaften Frieden in der gesamten Region. Uri Avnery begründete diese Perspektiven anlässlich des Libanon Krieges wie folgt:
»Das ganze zionistische Unternehmen ist mit einer Organtransplantation in einen menschlichen Körper verglichen worden. Das natürliche Immunsystem revoltiert gegen ein fremdes Implantat, der Körper mobilisiert alle seine Kräfte, um es wieder los zu werden. Die Ärzte benützen eine hohe Dosis Medizin, um diesen Widerstand des Körpers zu überwinden. Das kann eine ganze Zeit lang dauern, manchmal bis zum Tod des Körpers selbst, einschließlich des transplantierten Organs. (Natürlich sollte dieser Vergleich - wie jeder andere auch - vorsichtig verwendet werden. Aber ein Vergleich kann helfen, Dinge besser zu verstehen, aber eben auch nicht mehr als das). Die zionistische Bewegung hat einen fremden Körper in dieses Land gepflanzt, das damals ein Teil der arabisch-muslimischen Welt war. Die Einwohner des Landes und der ganzen arabischen Region lehnten die zionistische Entität ab. Inzwischen hat die jüdische Ansiedlung hier Wurzeln geschlagen und ist zu einer echten neuen Nation geworden, die in diesem Lande verwurzelt ist. Seine Verteidigungskraft gegen die Zurückweisung ist gewachsen. Dieser Kampf dauert nun schon 125 Jahre und wird von Generation zu Generation immer gewalttätiger. Der letzte Krieg [der Libanon-Krieg 2006, M.M.] war nur eine weitere solche Episode. Was ist bei dieser Auseinandersetzung unser historisches Ziel? Ein Dummkopf wird sagen: eine höhere Dosis Medikamente verabreichen, die von Amerika und den Juden in aller Welt geliefert werden. Der größte Dummkopf wird hinzufügen: Es gibt keine Lösung. Diese Situation wird auf immer so bleiben. Dagegen kann nichts gemacht werden, außer dass wir uns in einem Krieg um den anderen verteidigen. Und der nächste Krieg klopft schon an unsere Tür. Der Weise wird sagen: unser Ziel ist es, dass der Körper das eingepflanzte Organ als seines akzeptiert, damit sein Immunsystem uns nicht weiter wie einen Feind behandelt, der um jeden Preis abgestoßen werden muss. Und wenn dies das Ziel ist, müssen unsere Bemühungen in erster Linie in diese Richtung gehen. Das heißt: jede unserer Aktionen muss gründlich an diesem einfachen Kriterium überprüft werden: Dient es unserm Ziele, oder behindert es dieses? Nach diesem Kriterium war der zweite Libanonkrieg eine Katastrophe.«
Die mentale Umorientierung und die Bereitschaft Israels, sich als organischer Bestandteil einer Region zu verstehen, in der Juden ihre staatliche Heimat gefunden haben, ist möglicherweise eine große Herausforderung für Israels Bevölkerung. Die Nachbarstaaten als solche zu akzeptieren und sich auf eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit ihnen einzustellen, ist allerdings eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden.
KSZE/OSZE und KSZMNO: Wichtiger Unterschied
Die KSZE ist sicherlich ein Vorbild für eine KSZMNO, aber nicht Eins zu Eins übertragbar. Die Ausgangsbedingungen und Interessen der Konfliktparteien sind in einem wichtigen Zusammenhang sehr verschieden. Die Parteien im Ost-West-Konflikt, Westeuropa und USA einerseits, und Osteuropa und Sowjetunion andererseits, verfolgten komplementäre Ziele. Die östliche Seite erhoffte sich eine dauerhafte Anerkennung der territorialen Grenzen, die der zweite Weltkrieg hervorgerufen hatte. Sie war ferner daran interessiert, den Rüstungswettlauf zu begrenzen, um die durch Wettrüstung entstandenen ökonomischen Engpässe zu überwinden. Und schließlich hatte sie Interesse daran, eine Lockerung westlicher Handelsbeschränkungen zu erreichen und ihren Zugang zu entwickelteren westlichen Technologien zu erleichtern. Die westliche Seite, vor allem die Bundesrepublik Deutschland, verfolgte das Ziel, die Beziehungen zu Westberlin und Polen zu intensivieren und offene Fragen vertraglich zu regeln. Darüber hinaus war Westeuropa insgesamt an einer Abrüstung der konventionellen Waffenarsenale der Sowjetunion interessiert, da diese Westeuropa gegenüber in diesem Bereich klar überlegen war. Dadurch sollten sowjetische Bedrohungspotentiale gegen Westeuropa abgebaut werden. Des Weiteren und nicht zuletzt verfolgte der Westen das Ziel, mit der Strategie »Wandel durch Annäherung« die östliche Seite zur Erweiterung individueller Freiheiten und zu Zusicherungen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte zu verpflichten. Auf Grund dieser doch sehr unterschiedlichen sich ergänzenden beidseitigen Erwartungen war die KSZE von Anfang an auf die Perspektive von Geben und Nehmen in mindestens drei Bereichen angelegt: Sicherheitspolitik, ökonomischer Austausch und Menschenrechte. Beide Seiten hatten ein Interesse, den KSZE-Prozess in der realistischen Erwartung voranzutreiben, um möglichst große Teile der eigenen Ziele durchzusetzen. Die östliche Seite ließ sich trotz anfänglichen Widerwillens schließlich auf die Verbesserung der Situation der Menschenrechte, die von der westlichen Seite besonders favorisiert wurde, ein, weil sie auf ihre eigenen sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen besonderen Wert legte.
Bei der Perspektive einer KSZMNO sind die Interessen der Konfliktparteien nicht auf allen Gebieten komplementär. Der Iran und die arabischen Staaten müssten sich auf die Anerkennung Israels einlassen und dessen Existenz auf Dauer garantieren. Als Gegenleistung müsste Israel sich endgültig auf die Grenzen von 1967 zurückziehen und die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates nicht länger blockieren und diesen Staat dauerhaft an seinen Grenzen akzeptieren. Dann müsste es darum gehen, durch Abrüstung auf beiden Seiten, sowohl konventionell wie nuklear, die gemeinsame regionale Sicherheit aufzubauen. Der Iran, Saudi Arabien und andere ölreiche Staaten im Mittleren Osten sind allerdings, im Unterschied zu Osteuropa und der Sowjetunion, auf Grund ihrer Devisenüberschüsse, aber auch sonstiger vielfältiger Potentiale, nicht auf westliche Zugeständnisse und erst Recht nicht auf Zugeständnisse von Israel angewiesen. Ganz im Gegenteil könnten hier Israel, Europa und auch die USA davon profitieren, dass Öl von den Ölstaaten im Mittleren Osten in Zukunft nicht als politische Waffe eingesetzt würde und dass die energiepolitische Sicherheit, die für alle Industriestaaten ein gewichtiges Ziel darstellt, auf Dauer garantiert wäre. Insofern gibt es hier keine glaubwürdige Handhabe, um von den mittelöstlichen Staaten im politischen Bereich, etwa bei den Menschenrechten, als Gegenleistung Zugeständnisse zu erwarten. Daher müssen alle politischen Fragen im Zusammenhang mit der Demokratisierung der Prozessdynamik überlassen werden. Wer jedenfalls den Menschenrechtsfragen erste Priorität für den Beginn von KSZMNO einräumt oder gar diese zur Bedingung aller anderen Fragen macht, der müsste wissen, dass er die KSZMNO dadurch verhindert.
Initiiert von IPPNW e.V. Deutschland und IALANA Deutschland
Literatur
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Birnbaum, Norman, 2006: Die Zukunft des Imperiums, in: tageszeitung vom 24.10.06.
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Levy, Gideon, 2006: Das Rätsel Amerika, in: Haaretz vom 08.10.06.
Massarrat, Mohssen, 2006: Im Libanon prallen auch Israel und Iran aufeinander, in: Frankfurter Rundschau vom 23.08.06.
Massarrat, Mohssen, 2006a: Kapitalismus - Machtungleichheit - Nachhaltigkeit. Perspektiven revolutionärer Reformen, Hamburg.
Massarrat, Mohssen, 2006b: Der Iran und Europas Versagen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2006.
Mützenich, Rolf, 2004: Ein Mittlerer Osten ohne Massenvernichtungswaffen - Von der Utopie zum Konzept, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 4/2004.
Peters, Ralf, 2006: Blood Borders, in: Armed Forces Journal 06/2006.
Perthes, Volker, 2004: Bewegung im Mittleren Osten, in: SWP-Studie, September 2004.
Wieczorek-Zeul, Heidemarie, 2005: Friedensperspektiven für Nahost, in: Frankfurter Rundschau vom 05.08.06.
Tudyka, Kurt P., 2002: Das OSZE-Handbuch. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit von Vancouver bis Wladiwostok, Opladen.
Zellner, Wolfgang, 2004: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Rinke, Bernhard/Woyke, Wichard, 2004: Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert, Opladen.
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