IPPNW-Akzente

Freigabe radioaktiven Materials beim AKW-Abriss

Dauerhafter Einschluss statt Rückbau?

15.04.2016 Bei weltweit ca. 440 betriebenen AKWs werden allein in Europa bis zum Jahr 2030  über 160 AKWs abgeschaltet sein (Statistica, 02/2016). Zurück bleibt eine atomare (Müll-)Erbschaft, die jahrelang von der Politik bagatellisiert wurde. Neben der Frage der Endlagerung steht der Umgang mit dem Abriss der stillgelegten Meiler im Vordergrund. Hierbei fallen neben stark strahlenden Materialien auch große Mengen Baumaterialien wie Stahl und Beton an, die geringfügig radioaktiv kontaminiert sind. Werden dabei bestimmte Grenzwerte unterschritten, dann sollen diese Materialien überwiegend in den normalen Wirtschaftskreislauf (Recycling) eingespeist werden. Auch eine geringfügige zusätzliche Strahlenbelastung bedeutet aber ein gesundheitliches Risiko.

 

AKW-Stilllegung:  Das Ausmaß des Problems in Deutschland

In Ost- und Westdeutschland befinden sich 25 Atomkraftwerke in verschiedenen Phasen der Stilllegung. In den nächsten Jahren kommen acht weitere Atommeiler hinzu. Darüber hinaus wurden oder werden in Deutschland mehr als 30 Forschungsreaktoren und über 10 Einrichtungen der nuklearen Ver- und Entsorgung stillgelegt. Für Deutschland sind offiziell ca. 29,6 Milliarden € an Gesamtkosten der Stilllegung prognostiziert –  eine eher grobe Unterschätzung angesichts der tatsächlichen Kosten von ca. 1,5 Milliarden € alleine für den Rückbau des AKW Obrigheim (LKZ,24.02.2016).

Bisher ist es in das Belieben der Atomkraftwerksbetreiber gestellt, ob sie ihre Atomkraftwerke nach der Stilllegung sofort abreißen (d.h. innerhalb eines Zeitraumes von 2-3 Jahrzehnten) oder diese zunächst für einige Jahrzehnte "einschließen" wollen, um dann den Abriss mit Verzögerung von ca. 30 Jahren  vorzunehmen  – die Betreiber haben sich zuletzt durchweg für den sofortigen Abriss entschieden. Die Atomaufsichtsbehörden der Länder selber führen keine eigene Abwägung hierzu durch – Ausdruck der in Gesetz gegossenen Privilegierung der Atomindustrie.

 

Freigabe radioaktiven Materials

Die Radioaktivität ist in einem Atomkraftwerk sehr unterschiedlich verteilt. Nach Angaben der EnBW summieren sich in Neckarwestheim 1 die endlagerpflichtigen „aktivierten Massen“ wie der Reaktordruckbehälter und Teile des biologischen Schildes, aber auch Schleusen oder kontaminierte Rohrleitungen auf ungefähr 3.100 Tonnen. Den größten Teil (etwa 99% des Gesamtabfalls) machen laut EnBW mit 327.500 Tonnen die sog. „kalten“ Gebäudemassen aus. Dabei handelt es sich sowohl um unbelastete als auch um gering kontaminierte Materialien.

Das Erschreckende ist: Der überwiegende Teil der gering kontaminierten Atomkraftwerks-Abfälle soll nicht endgelagert, sondern, wenn bestimmte Grenzwerte unterschritten werden, auf Hausmülldeponien gelagert, in Verbrennungsanlagen verfeuert oder überwiegend uneingeschränkt als normale Reststoffe verwertet werden. So könnte verstrahltes Material unerkannt und ohne unser Wissen in unserem Alltagsleben auftauchen. Es könnte uns beispielsweise in Kochtöpfen, Heizkörpern, Zahnspangen, auf Kinderspielplätzen, im Straßenbelag oder auf Schotterwegen begegnen.
„Freigemessen“ bedeutet eben nicht, dass diese Stoffe „frei von Radioaktivität“ sind - man betrachtet diese Materialien lediglich nicht mehr als radioaktive Stoffe im Sinne des Atomgesetzes: Sie sind dann „frei von jeder öffentlichen Überwachung“ und ihr weiterer Verbleib kann später nicht mehr rückverfolgt werden. Die rechtliche Grundlage für eine solche „Freigabe“ ist § 29 der Strahlenschutzverordnung.

 

Das 10 μSv-Konzept

Die Freigabewerte der Abbruchmaterialien wurden mit dem Ziel einer Dosisbelastung von maximal 10 Mikrosievert (μSv) pro Einzelperson und pro Jahr festgelegt.

Für die staatlichen Strahlenschützer handelt es sich hierbei um eine unbedeutende zusätzliche Dosis. Sie verweisen dabei auf die natürliche Strahlenexposition, die in Deutschland ca. 2.400 μSv (2,4 mSv) im Jahr beträgt. Angesichts anderer Risiken und anderer Noxen, denen der Mensch in einer zivilisierten oder technisierten Gesellschaft ausgesetzt sei, komme es auf diese zusätzliche Strahlendosis von 10 μSv nicht an.

Bei dieser Argumentation wird suggeriert, Hintergrundstrahlung sei ungefährlich. Es ist allerdings durch zahlreiche epidemiologische Studien belegt, dass schon die Hintergrundstrahlung nachweislich zu Gesundheitsschäden führt. Im „Ulmer Papier“ der IPPNW aus  2014 wurde eine Vielzahl aktueller Studien ausgewertet, die zeigen, dass jede radioaktive Strahlung zu einer Krebserkrankung führen kann. Eine Schwelle, unterhalb derer Strahlung ungefährlich wäre, existiert nicht. Das Argument, eine Strahlenbelastung bewege sich „nur“ im Dosisbereich der „natürlichen“ Hintergrundstrahlung und sei deshalb unbedenklich, ist also irreführend.

Dem 10 μSv-Konzept liegen veraltete, 39 Jahre alte Risikoabschätzungen (ICRP 26/1977)  zugrunde. Insgesamt müssen wir feststellen, dass allein in den offiziell zugänglichen Berechnungen das Strahlenrisiko etwa um den Faktor 12 unterschätzt wird. Ebenso haben wir auf weitere  zahlreiche systematische Fehler in den zugänglichen Rechenmodellen hingewiesen und kritisiert, dass die Grundlagenstudie zur Vektormodellierung unter Verschluss gehalten wird. Auch verweigern die Betreiber Angaben zu den tatsächlich vorliegenden aktivierten Massen innerhalb des AKW in Form eines Gesamtkatasters „Radioaktivität“. Sie legen jeweils nur  Schätzwerte vor – wir haben deshalb von einem „Blankoscheck“ für die Atomindustrie gesprochen.

Wenn wenige Menschen hohen Strahlendosen ausgesetzt sind, führt dies zu einer merkbaren Erhöhung von Krankheit und Sterblichkeit, da das Erkrankungsrisiko des Einzelnen stark ansteigt. Niedrige Strahlendosen erhöhen das individuelle Erkrankungsrisiko hingegen nur geringfügig. Wenn allerdings viele Menschen mit geringen Strahlendosen („Kollektivdosis-Konzept“) belastet werden, führt auch dies zu einer relevanten Erhöhung der absoluten Erkrankungszahlen.

Als Ergebnis warnt die IPPNW vor einer unkontrollierten Freigabe des gering-kontaminierten Atommülls nach dem 10 μSv-Konzept.

Gleichzeitig sehen wir  gesundheitliche Gefahren durch die für das Freimessen notwendigen Dekontaminationsarbeiten. Neben den Zerlege-, Zerschneide- und Transportarbeiten müssen für die Dekontamination zusätzliche Materialmengen (u.a. Wasser, Reinigungsmittel) in die Anlagen eingebracht werden, die dadurch selbst zu flüssigem Strahlenmüll werden, der wiederum als Sekundärabfall entsorgt werden muss.

 

Abriss oder Versiegelung 

Die IPPNW schlägt daher die Prüfung einer „dritten“  Alternative zu den bisherigen Abrissmodellen vor: Nach der Entfernung der Brennelemente soll auch die Bergung mindestens aller stark kontaminierten Materialien aus dem Kontrollbereich (Reaktordruckbehälter, Teile des Biologischen Schildes etc.) erfolgen. Nach dieser „Entkernung“ soll das AKW dann aber nicht mehr verzögert abgerissen, sondern dauerhaft  „versiegelt“ werden - dies unter dem Vorbehalt, dass die geologischen Bedingungen am jeweiligen Standort eine entsprechende Standfestigkeit garantieren müssen. Wir wollen also geprüft sehen, ob ganz auf die Freigabe gering-kontaminierten Mülls  verzichtet werden kann, indem am Standort die AKW-Restgebäude im Sinne einer Dauerlagerung verbleiben.

Insgesamt lautet unser ärztliches Rezept: Sofortiges Abschalten  aller AKWs – nur so können wir den gesundheitlichen Gefahren der nuklearen Kette bis zum GAU präventiv begegnen.

Von Dr. Jörg Schmid

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