Artikel von Anne Jurema aus Forum Dez. 2023

Sachfremd und rechtswidrig

Die deutsche Asyl- und Integrationspolitik rutscht rasant nach rechtsaußen

Seit Monaten verschiebt sich der Diskurs über Asylsuchende in Deutschland in rasantem Tempo nach rechts. Führende Politiker*innen jeglicher Couleur überbieten sich in Vorschlägen, damit weniger schutzsuchende Menschen nach Deutschland kommen und mehr das Land schneller verlassen. Inzwischen wurden viele dieser Vorschläge im Herbst nicht nur in einen eigenen Gesetzesentwurf zur „verbesserten Rückführung“ gegossen, sondern auch in Beschlüsse von Bund und Ländern auf dem Migrationsgipfel übersetzt. Sozial- und Migrationsrechtexpert*innen kritisierten, dass etliche Regelungen sowohl sachfremd und unwirksam, als auch mit den Grundrechten sowie dem Europa- und Völkerrecht nicht vereinbar seien.

So beruht der vom Bundeskabinett Ende Oktober beschlossene Entwurf für ein „Gesetz zur Verbesserung der Rückführung“ auf der geradezu faktenfreien Prämisse, dass die derzeitigen Herausforderungen der Kommunen bei der Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden nur durch vermehrte Abschiebungen zu lösen seien. „Endlich im großen Stil abschieben“, lautete die markige Losung von Bundeskanzler Scholz im Spiegel. Laut Pro Asyl zeige allerdings die „Erfahrung der letzten Jahre,dass solche Verschärfungen nicht das vom Gesetzgeber ausgegebene Ziel erfüllen, mehr Menschen abzuschieben.“ Die Bundesregierung musste auf Nachfrage selbst zugeben, dass über das neue Gesetz „bestenfalls 600 Abschiebungen mehr im Jahr“ möglich sein würden. Das liegt vor allem daran, dass die große Mehrheit der formal ausreisepflichtigen Menschen – in etwa 262.000 Personen – hier mit einer Duldung leben (211.000 Personen) und damit gewichtige Gründe vorliegen, warum die Abschiebung ausgesetzt ist: Sie sind schwer krank, schwanger, in Ausbildung oder stehen kurz vor einem Schulabschluss, im Herkunftsland herrscht Krieg oder der Herkunftsstaat nimmt sie nicht zurück. Nur etwas mehr als 19.000 Menschen sind nach einem abgelehnten Asylverfahren derzeit vollziehbar ausreisepflichtig, so die Berechnungen von ProAsyl. Im ersten Halbjahr 2023 sind laut Bundestag knapp 8.000 Menschen abgeschoben worden. 2022 waren es knapp13.000. Für Pro Asyl ist der Fokus auf Abschiebungen irreführend, da 72 Prozentaller geprüften Asylanträge 2022 positiv entschieden wurden. Die große Mehrheitder Geflüchteten ist also schutzberechtigt.

"Das Rückführungsverbesserungsgesetz enthält populistisch motivierte Maßnahmen. Mit noch unnachgiebigerer Härte und Mitteln der Gewalt – wie Inhaftierung und polizeilicher Kontrolle und Disziplinierung – soll gegen Menschen vorgegangen werden. „Ziel ist vor allem, Geflüchtete als angeblich unberechtigte, Leistungen erschleichende‘ Straftäter*innen rassistisch zu markieren“, fasst Britta Rabe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie zusammen. Für die Betroffenen enthalten die Verschärfungen massive Einschnitte in ihre Grundrechte und Gefährdungen ihrer seelischen Gesundheit. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und das Komitee für Grundrechte und Demokratie kritisierendie weitreichenden Eingriffe in das Recht auf Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Recht auf Privatsphäre und den Grundsatz, sich nicht selbst belasten zu müssen, scharf. „Eine Vielzahl der geplanten Regelungen ist eindeutig verfassungs- und europarechtswidrig“, so Julia Schulze Buxloh vom RAV. Auch die Art des Gesetzgebungsverfahrens war Ausdruck der Geringschätzung zivilgesellschaftlicher Expertise und Partizipation. „Der 72-seitige Referent*innenentwurf wurde den Verbänden ohne sachlichen Grund mit einer Stellungnahme-Frist von nur 48 Stunden übermittelt. Eine ernsthafte fachliche Auseinandersetzung mit Expert*innen ist seitens der Bundesregierung offensichtlich nicht erwünscht,“ heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung.

Das Gesetz sieht etwa die Ausweitung der Betretens- und Durchsuchungsbefugnisse der Polizei zwecks Abschiebung vor. Die Polizei darf künftig auch nachts Menschen unangekündigt zur Abschiebung abholen und dafür in Gemeinschaftsunterkünften beliebige Zimmer durchsuchen und Mobiltelefone vermehrt auslesen. Ein überfallartiges Abholen zur Nachtzeit ist insbesondere für Familien mit Kindern extrem belastend und potenziell (re)traumatisierend. Pro Asyl kritisiert darüber hinaus die vereinfachte Kriminalisierung von Asylsuchenden über die massive Ausweitung von Straftatbeständen im Asylgesetz scharf. So soll etwa schon eine einmalige Verletzung der Wohnsitzauflage oder eine falsche oder unvollständige Angabe im Asylverfahren ein Straftatbestand sein. Weitere höchst problematische Verschärfungen sind die Verlängerung des Ausreisegewahrsams von 10 auf 28 Tage sowie die massive Ausweitung der Anwendungvon Abschiebehaft auch währenddes Asylverfahrens, unabhängig von der Fluchtgefahr.

Auch die bereits äußerst weit gefassten "Ausweisungsinteressen" sollen noch einmal erweitert werden. Betroffene sollen künftig bei einer reinen Verdachtslage ausgewiesen werden können, „wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass [eine Person] einer Vereinigung im Sinne des §129 des Strafgesetzbuches angehört oder angehört hat“. Eine rechtskräftige Verurteilung wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung wird folglich nicht erforderlich. Dies wiederspreche demokratischem Recht, so der RAV. Schon jetzt werde §129StGB ohne strafrechtliche Verurteilung in Zusammenhang mit sogenannter Clan-Kriminalität gebracht und damit rassistisch konnotiert gegen Personen vorgegangen. Der Paragraph werde auch vermehrt benutzt, um missliebige politische Haltungenzu kriminalisieren, wie etwa im Falle von Klimaaktivist*innen. Auch die Erweiterung der Gründe, wann ein Asylverfahren als „offensichtlich unbegründet“ abzulehnen, sei ein „Ausdruck davon, Geflüchtete unter den Verdacht zu stellen, „Betrüger“und „Asyl-Erschleicher“ zu sein.“, so die republikanischen Anwält*innen.

Und wie verhält es sich mit den überlasteten Kommunen? Laut einer aktuellen Studie des Mediendienst Migration ist derzeit nicht von einem Notstand und einer flächendeckenden Überlastung der Kommunen auszugehen, auch wenn die Situation vielerorts herausfordernd sei. Der Paritätische Wohlfahrtsverband stellt klar: „Überforderungen vor Ort sind u.a. auch daraufzurückzuführen [...], dass in den letzten Jahren vielerorts Strukturen der Integrationsarbeit und Flüchtlingsaufnahme abgebaut oder nicht weiterentwickelt wurden. Das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum sowie ausreichenden Kita- und Schulplätzen trifft nicht nur schutzsuchende Menschen und wurde seit Jahren nicht hinreichend konsequent angegangen.“

Dessen ungeachtet stoßen auch die Beschlüsse des Migrationsgipfels von Bund und Ländern am 6. November 2023 in das gleiche Horn. Abgesehen von der begrüßenswerten Entscheidung, Länder und Kommunen finanziell stärker zu unterstützen und Behörden besser auszustatten, gehen die weiteren Beschlüsse an der Sache vorbei und sind verfassungsrechtlich fragwürdig. „Statt konkrete Herausforderungen zu bewältigen, drohe eine Verschärfung sozialer Probleme“, warnt der Paritätische Wohlfahrtsverband. „Insbesondere die Pläne, Asylbewerber künftig erst nach drei Jahren existenzsichernde Sozialleistungen zu gewähren sowie die geplanten massiven Verschärfungenin der Abschiebepraxis seien inhuman.“ Die Kürzungsvorschäge zeugten zudem „von Empathielosigkeit und Unkenntnis der Lebensrealität geflüchteter Menschen,“ so Pro Asyl.

Aus gesundheitlicher Perspektive besonders gravierend ist, dass Schutzsuchendekünftig drei Jahre statt 18 Monatelang von notwendigen medizinischen Leistungen ausgeschlossen werden sollen. Dr. Johanna Offe von Ärzte der Welt kritisiert die Entscheidung scharf: „[Geflüchtete] noch länger zu benachteiligen, ist menschenrechtswidrig und kommt die Gemeinschaft letztlich auch teuer zu stehen. Denn wenn Krankheiten chronifizieren oder zum Notfall werden, kosten sie das Gesundheitssystem mehr, als wenn man sie präventiv oder bei den ersten Symptomen behandelt. Der Versuch, die Flucht nach Deutschland zu begrenzen, indem man Geflüchteten den Zugang zu notwendiger Gesundheitsversorgung versagt, ist nicht nur unmenschlich, sondern auch unwirksam.“ Denn es gibt entgegen populistischer Parolen nachweislich keinen Zusammenhang zwischen Höhe und Umfang der Sozialleistungen und der Wahl des Zufluchtsorts. Die beschlossenen Kürzungen der schon jetzt reduzierten Sozialleistungen für Geflüchtete und die Ausweitung von Sach- statt Geldleistungen haben schon in der Vergangenheit keine positiven Effekte für die Kommunen gehabt, wohl aber viele negative für die Betroffenen, so Tareq Alaows von Pro Asyl. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte 2012 geurteilt, dass die „Menschenwürde ... migrationspolitisch nicht zu relativieren“ ist. Der Regelsatz orientiere sich am menschenwürdigen Existenzminimum und dürfe nicht für Abschreckungszwecke gekürzt werden. Dass auch die im Koalitionsvertrag angekündigte Erleichterung des Familiennachzugsgekippt werden soll, ist eine weitere große Enttäuschung. Sogar die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten soll nun von dieser Bundesregierung sorgfältig geprüft werden.

Im Bündnis mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wohlfahrtsverbänden fordert die IPPNW daher in einem Fünf-Punkte-Plan pragmatische und menschenrechtsgeleitete Lösungen für eine gestaltende und vorausschauende Asyl-, Aufnahme-und Integrationspolitik. Die derzeitigen Abschottungsdiskussionen helfen nicht dabei, die Aufnahme von Schutzsuchenden zu meistern und die sich unserer Gesellschaft bietenden Chancen zu nutzen, heißt es in dem Papier. Sie würden die Menschen auf der Flucht auch nicht davon abhalten, ein Leben in Sicherheit zu suchen. Der Zugang zu regulären Sozialleistungen, die Abschaffung aller bestehenden Arbeitsverbote, die Möglichkeit des Familiennachzugs sowie die Ermöglichung privater Unterbringung gehören zu den Vorschlägen. Diese fördern nicht nur das Ankommen und die Integration. Sie sind nicht nur für die Schutzsuchenden, sondern auch für die Aufnahmegesellschaft sinnvoll. Die positiven Erfahrungen in der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen aus der Ukraine sollten als Vorbild genutzt werden.

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Ansprechpartnerin

 

Anne Jurema
Referentin "Soziale Verantwortung"
Tel. 030/698074 - 17
Email: jurema[at]ippnw.de

Materialien

Empfehlungen für heilberuflich Tätige in Abschiebesituationen
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IPPNW-Report: Gesundheitliche Folgen von Abschiebungen
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IPPNW-Forum 164: „Mitwirkung bei Abschiebungen: Ärzt*innen zwischen Gesetzen und Ethik“
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Dokumentation: Best Practice for Young Refugees. Ergebnisse und Beiträge einer internationalen Fachkonferenz  
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