Aus IPPNW-Forum Februar 2008

Triviale Maschinen und nicht-triviale Medizin

Vortrag von Bernd Hontschik

01.03.2008 Eigentlich ist die Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin eine unpolitische Vereinigung. Ihr geht es um das Menschenbild in der Medizin, um das Paradigma, um die Philosophie, die Weltsicht. Warum beteiligt sich die Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin mit ihrem einstimmigen Vorstandsbeschluss und mit ihren nicht ganz 200 Mitgliedern dennoch am Widerstand gegen die Einführung der eGK? Der Grund für unsere Beteiligung liegt in unserer Auffassung davon, was Medizin ist, was Gesundheit ist und was Krankheit, was ein Patient ist und was ein Arzt, und unter welchen Bedingungen man als Arzt in der Lage sein kann, krank gewordenen Menschen zu helfen auf ihrem Weg zur Gesundheit oder zu einem lebenswerten Leben mit einer chronischen oder auch mit einer unheilbaren Krankheit.

Ich entführe Sie zunächst in die imaginäre Welt eines mündigen Bürgers. Stellen Sie sich bitte vor, es gäbe in unserem Land und auch anderswo keine Probleme mit dem Datenschutz. Jeder Bürger dieses Landes hätte seine geschützte Privatsphäre, unberechtigte Zugriffe kämen nicht vor. Das ist schwer vorstellbar, bitte versuchen Sie es trotzdem: Man könnte keine Handys orten. Unsere Kontodaten würden weder national noch europäisch gesammelt und ausgewertet, und schon gar nicht dem US-amerikanischen Geheimdienst übermittelt. Die Polizei hätte auch keinen ungehinderten Zugriff auf die Reisedaten von jährlich 29 Millionen Schiffspassagieren. Die Hotelketten und die Kreditkarteninstitute würden weder unsere Kaufgewohnheiten, noch unsere Familienverhältnisse noch die Pay-TV-Filme speichern, die wir spät in der Nacht alleine im Hotelzimmer anschauen. Nehmen wir ferner an, Ermittlungsakten der Polizei würden nicht immer wieder versehentlich ins Internet gelangen. Auch würden in Großbritannien keine CDs mit den persönlichen Sozialdaten von 25 Millionen Briten spurlos verschwinden. Und in Japan hätte auch niemand illegalen Zugriff auf die Rentendaten von 8,5 Millionen Japanern und 64 Millionen Rentenantragsstellern genommen.

Nehmen wir außerdem an, es gäbe keine Vorratsdatenspeicherung unserer Telefonverbindungen, und es wäre auch nicht möglich, mit satellitengestützten Navigationssystemen Gegenstände oder Personen zu orten, zu verfolgen und aufzuspüren. Auch gäbe es keine RFID-Chips in Waren, und wenn es sie gäbe, hätte niemand etwas Unrechtes damit vor. Vor allem aber nehmen wir an, dass niemand, nicht in Europa, nicht in den USA, überhaupt nirgendwo biometrische Daten speichern will: Augenhintergrund, Handflächen-Abmessungen oder Gesichtsproportionen. Man könnte auch keine Wahlcomputer manipulieren. Das Internet-Auktionshaus eBay hätte erfolgreich verhindert, daß Cyber-Kriminelle die Klardaten der Kunden einschließlich ihrer Kontoverbindungen abfragen. Es gäbe auch keine englischen Geheimdienstoffiziere, die ihr Laptop auf dem Autodach liegen lassen, sodass die Komplettdaten von 600.000 Angehörigen der Royal Navy und der Luftwaffe in die Öffentlichkeit gelangen. Und den Begriff 'Bundes- Trojaner' hätte noch nie jemand gehört. Kurz gesagt, wir nehmen einmal an, es gäbe kein Problem mit Daten und mit dem Datenschutz.

Wenn wir uns eine solche schöne Welt einmal intensiv vorstellen, dann würden wir als Uexküll-Akademie trotzdem Widerstand gegen die Einführung der eGK leisten. Denn sie ist ein großer Schritt auf dem Weg der Zerstörung der Humanmedizin, wie wir sie für uns und für unsere Patienten für wünschenswert halten.

Eine zweite Fantasiewelt könnte man sich vorstellen. Die Vorstellung einer solchen Welt ist nicht weniger schwierig. Deswegen möchte ich auch diese Utopie mit einigen Beispielen illustrieren. Nehmen wir einmal an, in unserem Land gäbe es ein solidarisches und menschenfreundliches Gesundheitssystem. Alle Menschen wären krankenversichert, der Reichtum unseres Landes würde - unter anderem - für die gute Gesundheit seiner Bevölkerung verwendet. Niemand käme auf die Idee, das Gesundheitswesen als Quelle neuen Reichtums zu deformieren. Krankenhäuser wären in öffentlicher Hand und erhielten ausreichend finanzielle Mittel, um ihre Aufgaben für die sich ihnen anvertrauenden Patienten erfüllen zu können. Sie würden Hand in Hand mit einer großen Zahl von ambulant tätigen Haus- und Fachärzten arbeiten, die, ausreichend bezahlt, nicht im Traum auf die Idee kämen, sich mit unnötigen oder überflüssigen Leistungen an ihren Patienten zu bereichern. Eine Zwei- oder Mehrklassenmedizin gäbe es in unserem Land nicht. Die Pharmaindustrie würde ihren Etat hauptsächlich zur Forschung über vorhandene und neue Medikamente benutzen. Jede Art von öffentlicher Werbung für Arzneimittel oder Impfstoffe wäre unerwünscht, ja es würde gar niemand auf eine solche abstruse Idee kommen. Natürlich sind damit auch selbstredend große Medienkonzerne gänzlich ungeeignet, sich an den Abläufen und den Fortschritten eines humanen und solidarischen Gesundheitswesens propagandistisch, eigennützig oder parteiisch zu beteiligen.

Es würden nirgendwo und von niemandem neue Krankheiten erfunden, sondern die schon heute weiß Gott ausreichend vielen Krankheiten würden intensiv beforscht und mit Hilfe der Konzepte der Narrative und Evidence Based Medicine behandelt, so weit das möglich ist. Die kurative, heilende und die palliative, lindernde und begleitende Humanmedizin stünden gleichberechtigt, gleich gut ausgestattet und gleich geachtet nebeneinander. Niemand würde zur Teilnahme an nutzlosen Vorsorgeprogrammen gezwungen. Neu entdeckte Impfstoffe würden vor ihrer Markteinführung vorsichtig und ohne Korruption geprüft und abgewogen. Der Beruf des Pharmavertreters wäre unbekannt. Ärzte würden grundsätzlich und ausschließlich von einer unabhängigen und seriösen Institution über Möglichkeiten und Risiken von Behandlungskonzepten informiert. Tagungen würden nur und ausschließlich von unabhängigen Wissenschaftlern und Universitäten ausgerichtet. Die Universitäten wären - finanziell gut ausgestattet - die nationalen medizinischen Forschungszentralen und könnten sich z.B. durch den Verkauf ihrer Patente an die dankbare Industrie überwiegend selbst finanzieren. Der Begriff der 'Drittmittel' wäre in diesem Bereich ein Fremdwort.

Also: Eine Welt ohne Datenprobleme. Das war schon schwer. Nun noch eine Welt, in der der Kapitalismus unser Gesundheitswesen vor seinem Zugriff verschont, weil es als ein sozialer Bereich für alle unantastbar und tabu ist. Und kann ich Ihnen sagen, dass wir als kleine Uexküll- Akademie auch in einer solch heilen Welt Widerstand gegen die Einführung einer eGK leisten würden. Denn sie ist, wie gesagt, ein großer Schritt auf dem Weg der Zerstörung der Humanmedizin, wie wir sie für uns und für unsere Patienten für wünschenswert halten.

Über diese Humanmedizin möchte ich jetzt noch etwas sagen. Das zentrale Thema der Uexküll-Akademie ist die individuelle Konstruktion der Welt und des Lebens, die Konstruktion von Gesundheit und Krankheit. Wir konstatieren einen Dualismus in der heutigen Medizin, die sich als zweigeteilt präsentiert, nämlich als eine Medizin für Körper ohne Seelen auf der einen Seite und eine Medizin für Seelen ohne Körper auf der anderen Seite. Diesem tragischen Dualismus versuchen wir mit einer radikal anderen Philosophie für die alltägliche Humanmedizin zu begegnen, die auf dem Konstruktivismus aufbaut, dabei auch auf Semiotik und Systemtheorie. Wir beschäftigen uns dabei mit dem individuellen Vorgang der Konstruktion des Lebens. Jedes einzelne Lebewesen muss sich seine eigene Welt so konstruieren, dass es überleben und leben kann. Das ist der entscheidende Vorgang, der uns in der Uexküll-Akademie interessiert, dieser Konstruktionsvorgang. Gelingt er, kommt es zu einer Passung, wie wir das nennen, so ist Gesundheit möglich, auch wenn Gesundheit letztlich immer verborgen bleiben muss, wie es der Philosoph Gadamer gesagt hat. Gelingt die Konstruktion aber nicht, so kommt es zu Passungsstörungen, die uns dann als Krankheiten erkennbar werden. Mit dieser Auffassung von Humanmedizin, mit dieser Haltung stehen wir in der Schulmedizin ziemlich alleine da, sozusagen ganz am Rand. In der Schulmedizin herrscht - fast im Sinne einer Alleinherrschaft - ein technisches Menschenbild vor, ein theoretisches oder gar philosophisches Konzept über die Existenzbedingungen des Menschen als Lebewesen ist der Schulmedizin ganz und gar fremd.

Ich würde sagen, dass es einen einfachen Grund gibt, warum die Schulmedizin den Menschen im Prinzip auf eine komplizierte technische Maschine reduzieren muss. Denn nur das Modell der trivialen, technischen Maschine erlaubt die Transformation der Humanmedizin und damit auch des Gesundheitswesens in einen profitorientierten Zweig der Dienstleistungsindustrie. Der Arzt wird zum Dienstleister, zum Anbieter, seine Qualität wird zertifiziert, seine Arbeit hat sich nach Programmen und Vorschriften zu richten, die genauso steuerbar und kontrollierbar sein müssen wie der Produktionsablauf an einem Fließband. Der Patient wird nun Kunde genannt, nimmt Dienstleistungen in Anspruch, orientiert sich an Ranking-Listen, Ergebnissen des aus der Automobilindustrie entlehnten Qualitätsmanagements und der Stiftung Warentest. Der Dienstleister Arzt und der Patient Kunde müssen nun aber unbedingt überwacht und gesteuert werden. Zu diesem Zweck ist eine zentrale Datenspeicherung unverzichtbar.

Indem wir Ärzte uns zu Technikern haben erziehen lassen, werden wir selbst zu Maschinen, wir selbst werden ersetzbar durch tatsächliche, echte Maschinen und Computer - und genau das ist das Konzept und das Ziel einer Gesundheitspolitik, die Schritt für Schritt dafür sorgt, dass aus einem solidarischen Gesundheitswesen, in dem der Mensch im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen könnte, ein Industriezweig wird, der Profitables privatisiert und Unprofitables der Allgemeinheit überlässt oder absterben lässt. Um es anders zu sagen: nur so funktionieren EbM, DRG, ICD und DMP und die elektronische Gesundheitskarte, und deswegen halte ich diese Pläne für die derzeit größte Gefahr für unsere ganze ärztliche Tätigkeit.

Zum Schluss möchte ich noch folgendes sagen: auch der Widerstand gegen die elektronische Gesundheitskarte braucht einen Gedanken, ein Paradigma, ein Menschenbild, sonst verkommt er zu einer Anti-Attitüde. Wir sind nicht gegen den Fortschritt. Eine Gesundheitskarte für sich allein betrachtet ist nicht unbedingt verwerflich. Verwerflich wird die eGK erst an sich: im Kontext einer menschenverachtenden Industrialisierung alles Sozialen. Wir sind also nicht gegen etwas, sondern wir sind für etwas. Eine Medizin, wie wir sie vertreten, basiert auf Kommunikation. Das Paradigma einer elektronischen Gesundheitskarte im Kontext der rasanten Industrialisierung unseres Gesundheitswesens verwechselt Daten mit Information, und es verwechselt Information mit Kommunikation. Das sind absichtsvolle Verwechslungen. Und die Zerstörung der ärztlichen Schweigepflicht wird dabei als Kollateralschaden in Kauf genommen. Der Widerstand der Thure von Uexküll-Akademie gegen die eGK beruht darauf, dass wir nicht dabei zusehen wollen, wie ein humanes Menschenbild, eine humanistische, aufgeklärte Weltsicht und eine am Individuum und seiner individuellen Konstruktion des Lebens orientierte Humanmedizin in unserer Gesellschaft zerstört wird.

Auszug aus dem Vortrag von Dr. Bernd Hontschik auf dem IPPNW-Symposium zur elektronischen Gesundheitskarte am 1. März 2008 in Hamburg.

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