Zeitschrift Projekt Psychotherapie Januar 2010

Ein Transrapid der Informatik-Industrie?

Das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ in der Krise

Wir erinnern uns: mit großem Enthusiasmus und massiven Staatssubventionen hat die deutsche Industrie über Jahrzehnte ein angeblich im wahrsten Sinne bahnbrechendes Technologieprojekt vorangetrieben, das zum großen Exportschlager werden sollte: die Magnetschwebebahn  „Transrapid“.       

Immerhin: vom Flughafen Schanghai in die dortige Innenstadt fährt nun dieses Verkehrsmittel,   faktisch ein Werbegeschenk der deutschen Regierung an das asiatische Riesenreich, ohne konkrete Aussicht auf Anschlussaufträge.–

Möglicherweise steht nun ein weiteres Großprojekt vor einem ähnlich unrühmlichen Schicksal: die „elektronische Gesundheitskarte“, kurz e-card genannt, von der Gerd W. Zimmermann, stellvertretender Vorstandsvordsitzender der KV Hessen, vermutet: „So gesehen dürfte voraussichtlich mit der eGK lediglich das nachvollzogen werden, was von Anfang an auch mit der jetzigen Versichertenkarte möglich gewesen wäre.“ 1)
Vielleicht wäre dies die sozialverträglichste Lösung, aber einiges spricht dafür, dass die Problematik nicht so vergleichsweise schadlos an uns vorübergehen wird.

„Die elektronische Gesundheitskarte oder: das Ende der Privatsphäre“
Unter diesem Titel diskutierten in den Räumen der Hamburger Ärztekammer Mitte Dezember Ärzte, Therapeuten und interessierte Bürger die Problematik.  Die Allgemeinärztin Silke Lüder, Sprecherin des Bündnisses „Stoppt die e-card“, wies darauf hin, daß allein im Jahr 2009 das Projekt mit rund 760 Mill.€ finanziert wurde, und zwar aus den Beiträgen der Versicherten zu ihren gesetzlichen Krankenkassen. Falls das Vorhaben denn doch im geplanten Ausmaß realisiert wird, rechnet die von der Betreiberorganisation Gematik  beauftragte Wirtschaftsprüfungsfirma Booz-Allen- Hamilton mit Kosten bis zu 7 Mrd. €, die aus den Ressourcen der Gesundheitsversorgung zu einem wesentlichen Teil in die Kassen der Informatik-Industrie fließen würden.
Die Hamburger Tagung präsentierte die starken Argumente der Gegner einer e-card in der projektierten Form:  Hartmut Pohl, Präsidiumssprecher der Gesellschaft für Informatik und auf Datenschutz spezialisierter Professor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg konstatierte: „Sichere Speicherung im Internet ist eine Illusion“ –nach seiner Erfahrung kann man in 85% aller Server erfolgreich eindringen, es gebe keine Dezentralität mehr im Internet. „Alle Computer, Server, Bridges, Switches etc. können erfolgreich angegriffen werden. Beliebige Verknüpfungen der Gesundheitsdaten sind mit Genombanken, Mautdatenbanken u.a. möglich. Da bei 10 Millionen Zugriffsberechtigten (s t atistisch) mit 1000 Kriminellen zu rechnen ist, ergeben sich 10 000 Missbräuche. Spannend auch sein Hinweis, wo das „Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik“ angesiedelt ist: es untersteht dem Bundesinnenministerium, eine Institution, die nicht für ihre Begeisterung für den Schutz der Privatsphäre bekannt geworden ist.
Oliver Decker, Psychologe an der Abt. für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig, zitierte einleitend Adorno:“Weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sollten wir uns dumm machen lassen“. In unserer Disziplinargesellschaft erfolge die Kontrolle durch ständige Sichtbarmachung von einem unsichtbaren Zentrum aus.
So werde auch  Krankheit wieder unter das Zeichen der Schuld gesetzt, eine Legitimation, dass Kosten wieder individuell statt solidarisch aufgebracht werden müßten. Das Moratorium für die eGK durch den neuen Gesundheitsminister Rösler sollte für die weitere Aufklärungsarbeit genutzt werden.
Die e-card stelle nur „die Speerspitze einer Entwicklung zur kompletten eVerwaltung“
dar.                                                

Alles auf eine Karte
Decker hat schon seit längerem über den größeren regierungspolitischen Kontext des Projektes aufgeklärt2. Es geht um E-Government. Die geplante großangelegte Umstellung auf die elektronische Verwaltung geht nach Deckers Recherchen auf einen Beschluss des Bundeskabinetts aus dem Jahr 1999 zurück. Die Gesundheitskarte stellt dabei nur einen Baustein der digitalen Erfassung von Bürgerdaten dar. Geplant und inzwischen bereits vom Gesetzgeber beschlossen sind auch eine Karte zum elektronischen Entgeltnachweis, auf der die Berufsbiografie mit den erworbenen Sozialansprüchen abrufbar sein soll (ELENA)³. (Zur Debatte steht vor der geplanten Einführung im Januar 2010 aktuell gerade, ob auch Streikzeiten des Betroffenen genau vermerkt sein sollen!) Weiter: der digitale Personalausweis inklusive digitalisiertem Fingerabdruck4. Langfristig sollen diese drei Karten zu einer einzigen zusammengeführt werden.

Großangriff auf ärztliche Schweigepflicht

Die Gesundheitskarte ist die Voraussetzung und der Schlüssel, um sensible personenbezogene Daten einer zentral geführten elektronischen Verwaltung – insbesondere in Form einer elektronischen Gesundheitsakte – zugänglich zu machen. Es sollte nicht überraschen, dass viele ÄrztInnen und TherapeutInnen darin einen Großangriff auf die Schweigepflicht sehen, insbesondere in Anbetracht der schon auf den Weg gebrachten und vollzogenen Einschnitte:
-ÄrztInnen müssen den Krankenkassen seit der letzten „Reform“ melden, wenn Behandlungen aufgrund von Komplikationen nach Piercing erforderlich wurden – scheinbar  eine Marginalie, aber ein Einstieg.
- ÄrztInnen sollen im Rahmen von Disease-Management- beziehungsweise Chroniker-Programmen ihren Patienten Compliance, also gute Zusammenarbeit bei der Behandlung, bescheinigen.
- Das Anfang 2009 in Kraft getretene Bundeskriminalamt-Gesetz schränkt das Abhörverbot, die Verschwiegenheitspflicht und das Zeugnisverweigerungsrecht auch in Arztpraxen beziehungsweise für ÄrztInnen und TherapeutInnen ein. Auch Online-Durchsuchungen der Praxis-EDV werden erlaubt sein.
Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte im Berliner Bundesverband der Verbraucherzentralen, hat zur Verteidigung der eGK vorgebracht, nicht die Patienten, sondern die Arztpraxen sollten mit Hilfe der Telematik „gläsern“ werden. Es bleibt sein Geheimnis, wie dies zu bewerkstelligen ist, ohne die Privatsphäre von Patienten zu tangieren. Die Arbeit von Ärzten und Therapeuten hat schließlich per Definition mit den intimen Lebensbereichen der Menschen zu tun.
Das Recht, über den eigenen Körper und die eigene Lebensweise selbstverantwortlich und ohne  Rechenschaftspflicht  zu verfügen, soweit die legitimen Persönlichkeitsrechte anderer nicht berührt werden, gehört zu den elementaren, geschichtlich verankerten bürgerlichen Freiheitsrechten. Es ist nur scheinbar paradox, dass im Zuge der großflächigen Privatisierung gesellschaftlicher Einrichtungen das Recht auf Privatheit des Einzelnen heute besonders in Bedrängnis gerät. Wo das soziale Recht auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgewandelt werden soll in einen – durch Kaufkraft zu erfüllenden – Konsumanspruch und wo es primär zunehmend um optimale wirtschaftliche Verwertung ärztlicher und therapeutischer Tätigkeit geht, wird der Patient zum ökonomisch genau vermessenen Behandlungsgegenstand. Für Grauzonen des Individuellen bleibt da wenig Raum.

Der präventive Sicherheitsstaat   
Angesichts drohender sozialer Instabilität kann der Rechtsstaat die ihm zugrundeliegende Unschuldsvermutung des Einzelnen nicht mehr aufrecht erhalten. Stattdessen kommt der präventiv eingreifende Sicherheitsstaat.
Bei sozial marginalisierten Gruppen überwindet der behördliche Wissensdurst bereits heute fast alle Schranken. Einreisenden MigrantInnen wird routinemäßig Blut für DNA-Untersuchungen abgenommen, um verwandtschaftliche Beziehungen zu klären. Verarmte MitbürgerInnen müssen sämtliche Konten und mögliche Einkommensquellen offen legen, und die zuständigen Amtspersonen überprüfen sogar die Zahnbürsten von etwaigen MitbewohnerInnen, um Beweise für mögliche Unterhaltsansprüche zu finden. Vielleicht ein Probelauf für weitere Bevölkerungsgruppen?

Karte als Pseudo-Lösung
Die wachsende Kontrolle über die Bevölkerung geht einher mit einem zunehmenden Kontrollverlust über die gesellschaftlichen Prozesse. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt: Der Allgemeinheit schaden nicht nur antisoziale Verhaltensmuster wirtschaftlich Mächtiger, sondern auch systembedingte Defekte der vorherrschenden ökonomischen Strukturen. Diese sind im Prinzip längst bekannt, werden aber ebenso verleugnet wie andere existenzielle Erkenntnisse: So bleiben die Wirkungen des industriellen Produzierens auf die Biosphäre ohne wirklich adäquate Reaktionen. Und der katastrophale Versuch, internationale Spannungen durch militärische Übermacht und Gewaltanwendung in den Griff zu bekommen, wie beispielsweise in Afghanistan, führt zum Verlust von Stabilität in ganzen Weltregionen und von Vertrauen in das internationale Zusammenleben. Das Handeln der Machteliten hat Folgen, die zur Bedrohung für alle werden. Die pseudo-rationale Antwort erleben wir heute: Die Bevölkerung wird stärker kontrolliert.
Analog dazu kann die elektronische Gesundheitskarte als eine Pseudo-Lösung interpretiert werden – für das Problem des Widerspruch zwischen einem sozialstaatlichen Gesundheitswesen und einer profitorientierten Gesamt­Ökonomie. Relevanten Kapitalfraktionen erleichtert sie den Zugriff auf den lukrativen Gesundheitsmarkt. – Genannt sei die IT-Branche, für die es immerhin um ein Milliardenprojekt geht, oder privatisierte Krankenhausketten wie die Rhön-Klinikum AG, die auch in die ambulante Versorgung drängen und die Abläufe im Sinne einer industriellen Organisation rationalisieren wollen. Am Rande bemerkt: Der bis zur Bundestagswahl im Bundesministerium für die Telematik zuständige Staatsekretär Klaus Theo Schröder war zuvor Vorstandsmitglied eben dieser AG.
Gleichzeitig erlaubt die Gesundheitskarte – zum Beispiel im Bereich des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs – eine genaue, zentralistische Planung der Gesundheitsökonomie und des Verhaltens der einzelnen  ÄrztInnen und TherapeutInnen und PatientInnen. Die verbleibenden, wenn auch schrumpfenden Anteile des Wohlfahrtsstaats können so mit rigider Kontrolle verknüpft werden.

Widerstand
Die Bertelsmann-Stiftung, ein wichtiger Thinktank neoliberaler Umgestaltung, propagiert E-Government als förderlich für die Selbstbestimmung und die Handlungsmöglichkeiten der Bürger und bringt es mit dem Begriff E-Democracy in Verbindung5. Unter Zugewinn an demokratischer Handlungsfähigkeit, als Empowerment, verstehen wir – als demokratische Basisbewegungen – aber etwas anderes: die wachsende Fähigkeit, sich gegen Überwachung  und  Entmündigung zu wehren und die eigenen Lebensbedingungen im sozialen und politischen Kontext aktiv zu gestalten. Ein Beispiel: Ohne die aktive Mitwirkung von ÄrztInnen und TherapeutInnen sowie Versicherten ist das eGK-Projekt gar nicht zu realisieren. Es ist folglich möglich, sich politisch zu wehren, wie der bisherige Verlauf eindrucksvoll gezeigt hat:
 -Versicherte können ihren Behandlern explizit ihre Weigerung mitteilen, ihre Gesundheitsdaten online kommunizieren zu lassen.6
- MedizinerInnen und TherapeutInnen können auf das Recht bestehen, die Vertraulichkeit der Beziehung zu den PatientInnen zu wahren. Sie können die ebenso teuren wie für die konkrete Behandlung überflüssigen neuen Lesegeräte und  Computerprogramme auch dann verweigern, wenn ihnen deren Anschaffung mithilfe von finanziellen Gratifikationen schmackhaft gemacht wird. All dies ist in Nordrhein in beeindruckender Weise auch schon geschehen, und ermutigt für die weitere Auseinandersetzung.

Werthaltige Konkursmasse
Das Scheitern der elektronischen Gesundheitskarte wäre nicht das erste technologische Prestigevorhaben, das in der Bundesrepublik Deutschland – auch – durch demokratischen Widerstand verhindert wurde. Erinnert sei an atomare Wiederaufbereitungsanlagen oder eben an den ruhmlosen Transrapid, auch dies einst ein hoch subventioniertes „Leuchtturmprojekt“.
Aber vielleicht lassen sich ja durchaus noch brauchbare Elemente aus dem Telematik-Projekt ziehen, sprich: aus der zukünftigen Konkursmasse der Gematik? Eine nach außen abgeschirmte E-Mail-Kommunikation etwa, ohne Speicherung auf zentralen externen Servern. Diese technische Möglichkeit, für die man sich freiwillig entscheiden kann, wäre sicher ein akzeptables Angebot für alle Ärzte und Therapeuten. Dass Patienten das Recht haben, ihre Behandlungsunterlagen auch in ihren persönlichen Besitz zu nehmen, sei es in Papier- oder in digitaler Form, sollte sich ja ohnehin von selber verstehen.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat vor einigen Monaten vor einem GAU im Datenschutz gewarnt. Die elektronische Gesundheitsakte könnte durchaus eine solche Katastrophe werden. Noch haben wir die Möglichkeit, dies zu verhindern.
Die Mehrheit der Ärzte und Therapeuten lehnt die elektronische Gesundheitskarte (eGK) in der bisher geplanten  Form klar ab – etwa in den Beschlüssen der Deutschen Ärztetage 2007, 2008 und 2009. In bisherigen Tests zeigte sich deren kontraproduktive Wirkung auf die Arbeit in den Arztpraxen. Und für Versicherte und Behandler sind  Milliardenkosten vorausberechnet. Doch die Betreiber, insbesondere in Gesundheitsbürokratien und Industrie, halten am Vorhaben der Telematik, also der breitflächigen Vernetzung von EDV-Systemen und der eGK fest. Sie fahren – per Salamitaktik – mit der Ausgabe von Karten und Lesegeräten fort.
Gewinninteressen beteiligter Großunternehmen wie InterComponentWare, des Spezialisten für Patientenakten, und IBM Deutschland, das unter anderem Zugriffslösungen für die Gesundheitskarte entwickelt7,spielen dabei eine wesentliche Rolle. Schließlich gilt unser Gesundheitswesen als Zukunftsmarkt – und damit als ergiebige Profitquelle, die durch geeignetes Regierungshandeln erst richtig erschlossen und zum Sprudeln gebracht werden kann.

Anmerkungen
1 info.doc der KV Hessen, Dez. 2009
2 Oliver Decker: “Alles auf eine Karte setzen: Elektronisches Regieren und die Gesundheitskarte“ Psychotherapeutenjournal 4/2005.)
3 die tageszeitung, 28.12.2009
4 Beschlossene Sache. Bundesrat billigt elektronischen Personalausweis. Spiegel-online vom 13.2.2009
5  Friedrichs S., Hart Th., Schmidt O. (2002): E-Government. Effizient verwalten – demokratisch regieren, Verlag Bertelsmann Stiftung.
6  Grundrechtekomitee: Widerstand gegen die EU-Politik der Überwachung und Grenzschließung ist nötig. Erklärung vom 27.4.2009
7  IBM Deutschland GmbH: Aktuelles. IBM und das Fraunhofer Institut entwickeln Zugriffslösungen für die elektronische Gesundheitskarte. ww.ibm.com/news/de/de/2008/11/20/j524885e34572c29.html (Abruf: 4.6.2009) ; IBM Deutschland GmbH: IBM. Audit-Dienst für die Gesundheitskarte.
www-05.ibm.com/de/leadersessentials/archiv/02/healthcare/index.html?ca=cio&me=e
(Abruf: 4.6.2009)


Matthias Jochheim
geb. 1949, ist ärztlicher Psychotherapeut in Frankfurt am Main und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung). ippnw@ippnw.de

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