Aus IPPNW-Forum 78/02

Zur momentanen Situation des Gesundheitssystems

Ein Interview mit Ellis Huber

Julia Borsche: Schnell kann der Eindruck entstehen, dass im deutschen Gesundheitssystem zur Zeit etwas nicht stimmt - auf der einen Seite ist die Rede von einer Neuverschuldung der öffentlichen
Krankenkassen und weiteren Beitragserhöhungen, andererseits sollen ärztliche Leistungen
gekürzt werden. Wo ist Ihrer Meinung nach der Haken?

Ellis Huber: Das deutsche Gesundheitswesen leidet an einer systemischen Krankheit. Die beteiligten Akteure, Ärzteschaft, Krankenhausträger, Krankenkassen oder andere Verantwortungsträger optimieren die Durchsetzung ihrer Partikularinteressen. Es mangelt an einer systemischen Sichtweise, die den einzelnen als Teil eines größeren Ganzen erkennt. Individualisierte oder gruppenegoistische Profitziele stehen im Vordergrund, soziales Wachstum oder die Orientierung an humanitären Werten wird bei den meisten Beteiligten nicht mehr als wirkliche Aufgabe wahrgenommen. Es fehlt ein Denken und Handeln in sozialer Verantwortung. Was aufgrund der Honorarsysteme für ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis lukrativ ist, zerstört den haushälterischen Umgang mit den gesellschaftlichen Ressourcen insgesamt. Je erfolgreicher ein Orthopäde den Rückenschmerz lukrativ auslastet und abrechnet, desto sicherer kommt es zum ökonomischen Zusammenbruch der Gesamtversorgung. Der Konflikt zwischen Ethik und Profit ist im bundesdeutschen System politisch nicht geklärt und der gute Arzt ist ebenso Opfer dieser Systemkrankheit wie der arme Patient.

Julia Borsche: Sie verfolgen die Organisation des Gesundheitssystems in Deutschland seit längerer Zeit. Ist für Sie die momentane Situation etwas Besonderes oder die konsequente Folge mangelnder Reformen über Jahrzehnte?

Ellis Huber: Am Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft ereignet sich ein grundlegender Wandel der Sichtweisen. Die heute vorherrschende Medizin reduziert Krankheiten auf biologische Normabweichungen. Der Einfluss von Gefühlen oder Beziehungen auf die individuelle Gesundheitssituation wird vernachlässigt. Nach den mechanistischen Konzepten der Medizin des industriellen Zeitalters ist der Herzinfarkt beispielweise eine Pumpenstörung mit verstopften Röhren, die mechanisch oder physiologisch wieder durchgängig gemacht werden müssen. Eine ganzheitliche Medizin sieht im Herzinfarkt eine Beziehungsstörung zwischen Hormonsystem und Herzmuskelzellen oder gar zwischen Individuum und sozialem Raum, also eine komplexe bio-psycho-soziale Landschaft von Wechselwirkungen.

Julia Borsche: Welche Möglichkeiten sehen Sie, Leistungen im medizinischen Bereich für jeden bezahlbar zu halten ?

Ellis Huber: Die mangelnde systemische Sichtweise und das überall vorherrschende Misstrauen zwischen den Beteiligten führen zu einer gigantischen Regelungs- und Kontrollbürokratie. Gegenwärtig fließen gut 30 bis 40 % der Geldmittel innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung nicht in die primären Prozesse des Helfens und Heilens, sondern in sekundäre und tertiäre Prozesse des Verwaltens, der Qualitätskontrolle oder des Abrechnungsmanagements. Die Fallpauschale als ökonomischer Anreiz für ambulante Operationen macht letztlich den operierten Gesunden zum lukrativsten Patienten. Unter dem gängigen Qualitätssicherungssystem liefert diese auch die besten Ergebnisse. Die ökonomischen Anreize begünstigen eine maximale Medizin und nicht eine optimierte Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig wird der primäre Prozess des Helfens und Heilens, also die Beziehung zwischen Arzt und Patient oder Therapeut und Klient vernachlässigt. Ein modernes Gesundheitssystem würde mit schlanken sekundären und tertiären Prozessen arbeiten und die vorhandenen Ressourcen in die primären Prozesse investieren. Das vorhandene Geld im gesetzlichen Krankenversicherungssystem reicht aus, um eine qualitativ gute und wirksame Medizin zu realisieren. Bezahlbar wird das Gesundheitssystem, wenn mehr in das „Humankapital“ und weniger in Maschinen und Verwaltungsapparate investiert wird.

Julia Borsche: Wie halten Sie von einem Konzept, bei dem Basisleistungen im medizinischen Bereich für jeden zur Verfügung stehen, zusätzliche Leistungen jedoch vom Einzelnen getragen werden müssen?

Ellis Huber: Gesundheit ist immer individuelles und soziales Gut ebenso wie Krankheit ein individuelles und soziales Problem darstellt. Es gibt medizinische Leistungen, die sind völlig unabhängig von individuellen Bedürfnissen und Empfindungen sinnvoll notwendig. Ich nenne diese Leistungen „Bedarf“. Daneben gibt es individuelle Bedürfnisse, die nicht verallgemeinert werden können. Sexuelles Glück wäre ein solches Beispiel. Viagra ist ein wirksames Arzneimittel. Sexuelles Glück als erektile Potenz verstanden ist allerdings subjektiv definiert. Statine-Präparate sind hochwirksame Mittel im Kampf gegen die koronare Herzkrankheit. Körperliche Bewegung ist jedoch noch wirksamer. Ein Krankenversicherungssystem, in dem Statine-Präparate finanziert werden müssen, Turnschuhe für das tägliche Jogging aber nicht finanziert werden dürfen, führt zur schleichenden Entsolidarisierung. Immer dann, wenn selbst aktiv werden besser zur Überwindung einer Krankheit beiträgt, als die Intervention durch ein Mittel von Außen, müssen die betroffenen Menschen für dieses Bedürfnis selbst eintreten.

Julia Borsche: Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft muss also neu geordnet werden?

Ellis Huber: Ja, die Autonomie des einzelnen Menschen und seine soziale Verantwortlichkeit müssen in einem sozialen Gesundheitssystem sinnvoll miteinander verknüpft werden. Die schleichende Entsolidarisierung und die zunehmende egoistische Ausbeutung von sozialen Sicherungssystemen stellt ein Problem dar, das eine neue Ordnungstherapie braucht. Eine Pflichtversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger muss künftig den medizinischen oder ärztlichen Bedarf solidarisch absichern. Unabhängig davon sollten individuelle Bedürfnisse als Zusatzleistung selbst finanziert oder ergänzend versichert werden können. Die Grenze zwischen Bedarf und Bedürfnis entspricht einer gesellschaftlichen Vereinbarung. Sie ist kein Naturgesetz. Es muss aber entschieden werden, ob die Invitrofertilisation solidarisch abzusichernder Bedarf im Gesundheitswesen oder ein individuelles Bedürfnis darstellt, für das die Betroffenen selbst Sorge tragen müssen.

Julia Borsche: Müsste die Gesundheitspolitik innerhalb der IPPNW eine größere Rolle spielen?

Ellis Huber: Selbstverständlich. Gute Medizin braucht mehr Gewissenhaftigkeit und daher sollte der Konflikt zwischen Ethik und Monetik innerhalb der IPPNW ständig bearbeitet werden. Friedenspolitik benötigt friedliche Verhältnisse nach innen und außen. Ein soziales Gesundheitssystem befriedet Gesellschaften und ist damit eine präventive Voraussetzung für den Abbau von Feindbildern und aggressiven Konflikten zwischen den Völkern. Wenn die entwickelten Länder eine globale Basisversorgung für den medizinischen Bedarf sicherstellen würden, könnte dies sehr viel wirksamer terroristische Gefahren und Bedrohungen bekämpfen als der Einsatz von Panzern, Raketen und Soldaten.

Julia Borsche: Vielen Dank für das Gespräch.

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