Hintergrundartikel von Dr. Angelika Claußen, IPPNW-Vorsitzende

Lingener Brennelemente-Fabrik im geopolitischen Spannungsfeld

Atomgeschäfte in Zeiten nuklearer Gefahr

Die Brennelemente-Fabrik in Lingen ist ein Sinnbild für die Doppelmoral Europas. Die geplante Erweiterung der Produktion in Lingen, durch die Zusammenarbeit des russischen Atomriesen Rosatom und des französischen Konzerns Framatome, verstärkt die europäische Abhängigkeit von der russischen Atomlobby. Mehr noch: Sie öffnet - in Zeiten des Ukraine-Krieges - Tür und Tor für Spionage und Sabotage und fördert die militärische Nutzung der Atomenergie in Frankreich und in Russland. Damit torpediert Frankreich, wie auch andere EU-Staaten, die an der Atomenergie festhalten, den europaweiten Atomausstieg.

Ukraine-Krieg und Brennelemente-Fabrik Lingen: Allianz zwischen Framatome und Rosatom

Auf der bundespolitischen Agenda fehlen konkrete Schritte zur Weiterführung des Atomausstiegs. Stattdessen treibt ANF Framatome in Lingen die nukleare Aufrüstung für die Uran-Brennstoffversorgung zum Betrieb von Atommeilern im Ausland voran, vor allem in Osteuropa.

Dort betreiben fünf EU-Staaten Reaktoren der russischen WWER-Linie*: Bulgarien, Finnland, Ungarn, Slowakei und Tschechien. Diese benötigen spezielle sechseckige Brennelemente für Atomkraftwerke des russischen Reaktortyps WWER-440 und VVER-1000. Dafür hat ANF Framatome einen Genehmigungsantrag nach § 7 Abs. 1 Atomgesetz gestellt, um in Kooperation mit der Rosatom-Tochter TVEL diese neuartigen Brennelemente produzieren zu können.

Die strategisch angelegte Zusammenarbeit zwischen Framatome und Rosatom begann im Dezember 2021, nur zweieinhalb Monate vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Damals bekräftigten Alexey Likhachev, Generaldirektor des staatlichen russischen Atomkonzerns Rosatom, und Bernard Fontana, Chef des französischen Reaktorbauers Framatome, ihre Kooperation durch eine neue Strategievereinbarung.

Der nächste wichtige Schritt war die Gründung des russisch-französischen Gemeinschaftsunternehmens unter dem Namen „European Hexagonal Fuels S.A.S." im Jahr 2023 in Lyon. Ebenfalls 2023 stellte ANF Framatome den Antrag auf Erweiterung der Brennelemente-Fabrik in Lingen für die Produktion der sechseckigen Brennelemente beim niedersächsischen Umweltministerium.

Kaum wurde diese Absicht öffentlich, trat die Anti-Atom-Bewegung auf den Plan, sodass der niedersächsische Umweltminister Meyer im Rahmen des Genehmigungsverfahrens für die Erweiterung der Brennelemente-Fabrik am 04.01.2024 die Öffentlichkeitsbeteiligung anordnete. Knapp 11.000 Einwendungen gegen die Erweiterung und die Fortsetzung der Brennelemente-Produktion in Lingen wurden eingereicht, da Atomkraftgegner*innen seit Jahren das Ziel der Stilllegung der Brennelemente-Produktion verfolgen, um den Atomausstieg in Deutschland zu vollenden.

Französisch-russischen Atomkooperation: Wirtschaftliche Interessen vor geopolitischen Auswirkungen

Was treibt die französische Seite zu einer Kooperation mit dem russischen Staatskonzern? Ein Beweggrund ist, dass Frankreichs Atomsparte unter dem Dach der EDF (Électricité de France) Schulden in Höhe von ca. 54 Milliarden Euro aufweist.

Frankreich möchte mit der Erweiterung der Brennelemente-Produktion den osteuropäischen Markt gewinnen und verkauft das Vorhaben als Weg zur Unabhängigkeit von russischem Einfluss.

Framatome will mit dem Deal mit Russland vor allem gegenüber dem Konkurrenten Westinghouse Marktanteile in Osteuropa aufholen. Westinghouse, ein ehemaliger US- und japanischer Atomkonzern, befindet sich inzwischen im Besitz von Investmentfonds. Über seine Brennelementefabrik im schwedischen Västerås, nordwestlich von Stockholm, hat das Unternehmen über viele Jahre hinweg an der Entwicklung von WWER-Brennelementen gearbeitet. Dies geschah ohne russische Unterstützung, aber in Kooperation mit der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten, wodurch Westinghouse dort nun einige Reaktoren beliefert. Damit ist Westinghouse schon in „Vorkriegszeiten" in Konkurrenz zu Rosatom getreten, während Frankreichs Atombranche auf Kooperation mit Rosatom setzte.

Frankreich benötigt zudem Einnahmen zur Refinanzierung seines Atomwaffenkomplexes. Denn, wie es Präsident Macron im Jahr 2020 formulierte: “Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie - und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.”

Die russische Seite hingegen strebt in wirtschaftlicher und geopolitischer Hinsicht nach weiterer Ausdehnung auf den europäischen Markt: Es geht darum, die europäischen Abhängigkeiten von Russland zu vertiefen.

Wladimir Slivyak, Co-Vorsitzender der russischen Umweltschutzorganisation Ecodefense, charakterisiert den Atomkonzern Rosatom als „strategisches Instrument des Kremls". Über die weltweite Förderung und den Ausbau der Atomenergie schafft Rosatom jahrzehntelange geopolitische Abhängigkeiten, auch in Europa. Dies erfolgt etwa durch die Lieferung von Natururan, angereichertem Uran und Brennelementen nach Europa sowie durch die Bereitstellung von nuklearen Dienstleistungen für Reaktoren russischer Bauart, insbesondere im Globalen Süden. Neubauprojekte existieren unter anderem in Indien, Bangladesch, Ägypten und der Türkei.

Kaum im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist die Tatsache, dass das Unternehmensnetzwerk von Rosatom für alle Belange der zivilen und militärischen Nutzung der Kernenergie in Russland zuständig ist. Catherine Belton beschrieb kürzlich in der Washington Post, wie Rosatom verschiedene russische Rüstungskonzerne unterstützt, so etwa Russlands größten Rüstungskonzern Almaz-Antey.

Aufgrund der zivil-militärischen Zusammenhänge und der Rolle von Rosatom bei der Eroberung und Inbesitznahme des AKW Saporischschja im Krieg Russlands gegen die Ukraine hat das europäische Parlament gefordert, Sanktionen gegen Rosatom zu beschließen und jegliche Zusammenarbeit mit Russlands Nuklearsektor einzustellen, was jedoch an der Blockadehaltung Ungarns im Europäischen Rat scheiterte.

Die Rolle des niedersächsischen Umweltministeriums sowie des Bundeswirtschafts- und Außenministeriums

Im Koalitionsvertrag von Niedersachsen ist von der Beendigung der Brennelemente-Produktion in Lingen keine Rede mehr, auch nicht in der Koalitionsvereinbarung für die Bundesregierung. Gleichwohl wird die geplante Erweiterung der Produktpalette in Lingen wegen der russischen Beteiligung in Niedersachsen und im Bundesumweltministerium kritisch gesehen. Deutsche und westliche Sicherheitsinteressen könnten betroffen sein. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) prüft, ob die russische Beteiligung – vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine – Tür und Tor für Spionage oder Sabotage öffnet. Pikant ist weiterhin: Während in vielen Sektoren Handelsbeziehungen mit Russland seitens der EU auf Eis gelegt sind, ist das Geschäft mit Uranbrennstoff und anderen nuklearen Komponenten von den Sanktionen nicht betroffen. Die Fabrik in Lingen erhält aus Russland weiterhin Uran für die Herstellung von Brennelementen für westliche AKWs.

Während der grüne Umweltminister Niedersachsens, Christian Meyer, und die Bundesumweltministerin Steffi Lemke sowie Anti-Atom-Organisationen vor der russischen Beteiligung mit Blick auf Sabotagerisiken warnen, baut Framatome massiv Druck auf, um die Genehmigung in Lingen durchzusetzen.

Dazu hat der Konzern nicht nur ein „Gegengutachten" durch den prominenten Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Ewer vorgelegt, in dem der Atomaufsicht in Niedersachsen erklärt wird, dass eine Untersagung der Genehmigung verfassungswidrig wäre: „Weil kein Personal der TVEL die Anlage in Lingen betreten wird, scheiden alle zuvor angenommenen Risikoszenarien, die sich auf mögliche Manipulationen oder Spionage in der Anlage beziehen, vollumfänglich aus." Die Fertigung von VVER-Brennelementen in Lingen, so argumentiert der Konzern nun, würde im Gegenteil die Sabotage-Risiken reduzieren, wenn damit die direkte Belieferung durch Russland für Reaktoren in Osteuropa unterbunden würde.

Aus IPPNW-Perspektive ist klar: Die Brennelementefabrik muss stillgelegt werden. Der Atomausstieg und die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien müssen auch in der EU und Osteuropa erfolgen. Nukleare Risiken müssen überall in Europa minimiert werden.

Vom 19. bis 21. November findet im Rahmen des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens der Erörterungstermin in Lingen statt. Über 10.000 Einwendungen liegen vor. Wir werden über diesen wichtigen Anti-AKW-Termin weiter informieren.

von Dr. Angelika Claußen, IPPNW-Vorstandsvorsitzende


*Unter der Bezeichnung WWER werden bestimmte Typen von Druckwasserreaktoren sowjetischer, beziehungsweise russischer Bauart zusammengefasst.


Weitere ausführliche Informationen sind auf der Webseite von umweltFAIRaendern zu finden:
umweltfairaendern.de/2024/08/06/uran-brennstoff-fuer-russische-reaktoren-in-osteuropa-westinghouse-und-kunden/
umweltfairaendern.de/2024/07/30/eu-foerdermittel-fuer-uran-brennstoff-herstellung-fuer-osteuropaeische-reaktoren-im-emslaendischen-lingen-frankreich-macht-druck-neue-vertraege-mit-slowakei/

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