„Die Notfallmaßnahmen waren die wichtigsten Nachrüstungsmaßnahmen, die aufgrund der erschreckenden Ergebnisse der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke für dringend erforderlich gehalten wurden. Notfallmaßnahmen sind in Atomkraftwerken der letzte Rettungsanker, um die gefürchtete Kernschmelze noch zu verhindern. Und wenn das nicht gelingt, sollen sie zumindest das besonders katastrophale Hochdruck-Kernschmelzen verhindern, bei dem der tonnenschwere Reaktordruckbehälter wie eine Rakete nach oben schießt und das Containment durchschlägt“, so Henrik Paulitz, Atom-Experte der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW. „Jetzt zeigt sich, dass diese Notfallmaßnahme in den neuesten deutschen Atomkraftwerken nicht einwandfrei funktioniert. Das wirft ein völlig neues Licht auf die durchgeführten Nachrüstungen der vergangenen 20 Jahre, auf die die Atomindustrie gerne verweist.“
Nach den Berechnungen der GRS funktioniert die Notfallmaßnahme „Primärseitige Druckentlastung und Bespeisung (PDE)“ unter anderem bei „kleinen Lecks“ etwa in einer Schweißnaht des Primär-Kühlkreises nicht. In der Risikostudie heißt es dazu: „Beim Kühlmittelverluststörfall ist dann die Zeitspanne zwischen dem Anstehen der Kriterien und dem Zeitpunkt, bis zu dem PDE zur Verhinderung des Kernschadenszustands wirksam sein muss, so kurz, dass dieses Ziel kaum erreichbar ist (…). Die GRS schätzt in diesem Fall die Erfolgswahrscheinlichkeit von PDE bei den Kühlmittelverluststörfällen als sehr gering ein.“ An anderer Stelle heißt es: „Notfallmaßnahmen (PDE) sind systemtechnisch nicht durchführbar oder ihre Erfolgswahrscheinlichkeit wird als gering eingeschätzt.“ Referenzanlage der Sicherheitsstudie war mit Neckarwestheim-2 ausgerechnet das neueste deutsche Atomkraftwerk, der Stolz der deutschen Atomindustrie.
Ein gemeinsames Gutachten der GRS, des Physikerbüros Bremen und des Öko-Instituts vom Mai 2007 bestätigt das Problem für das Konvoi-Atomkraftwerk Emsland. Die Gutachter heben hervor, dass in Emsland „zusätzliche Handmaßnahmen“ für die Vorbereitung der Notfallmaßnahmen erforderlich sind, was 20 Minuten Zeit erfordert. Es bleiben keinerlei Sicherheitsreserven. Die Notfallmaßnahme PDE kann nämlich nicht einfach von der Warte gestartet werden wie in älteren Anlagen. Vielmehr muss zunächst ein Elektriker verfügbar sein und in das benachbarte „Notspeisegebäude“ eilen. Bei bestimmten Unfällen muss sogar noch ein zweiter Elektriker in einer solchen Stresssituation Zeit haben, um im „Schaltanlagengebäude“ tätig zu werden.
Generell besteht auch in den Konvoianlagen das Problem, dass wegen der relativ „kleinen“ Ventile nur eine deutlich langsamere und weniger tiefe Druckentlastung bei der Notfallmaßnahme PDE möglich ist als in älteren Atomkraftwerken. Bei bestimmten Unfallabläufen kann daher laut Gutachten vom Mai 2007 eine Kernschmelze („Hüllrohrtemperaturen >1200 °C“) nicht verhindert werden.
„Probleme der besonderen Art gibt es im Uralt-Atomkraftwerk Biblis“, so Paulitz. „Dort hat man zwar die Notfallmaßnahme PDE nachgerüstet, aber nicht für den tatsächlichen Einsatz freigegeben. Die Nachrüstungs-Genehmigung sieht vor, dass im Leistungsbetrieb notwendige Komponenten für die Durchführung der Notfallmaßnahme zu entfernen sind. Aufgrund der Auflage der Genehmigungsbehörde kann die Maßnahme also nicht durchgeführt werden. Auch so kann man eine Nachrüstungsmaßnahme ad absurdum führen“, so Paulitz.
Kontakt: Henrik Paulitz, Tel. 0032-485-866 129, Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW), Körtestr. 10, 10967 Berlin, www.ippnw.de, Email: ippnw[at]ippnw.de
zurück