01.12.2013 „Israel, das ist aber ein ausgefallenes Ziel für eine Famulatur…“, „Ist das nicht gefährlich da?“, „Und was willst du da machen? Du kannst doch kein Hebräisch…“ waren Sätze, die ich oft hörte, wenn ich von meinen Plänen für den Sommer erzählte. Und natürlich waren es Fragen, mit denen auch ich mich beschäftigen musste, bevor es Ende Juli auch wirklich losging nach Israel, in das Heilige Land, das Land, was in den folgenden Monaten mein Leben etwas auf den Kopf stellen sollte und mir so viele schöne Erinnerungen belassen hat.
Es ist Winter hier in Deutschland und mein altes, deutsches Leben hat mich seit einigen Monaten wieder. Noch immer fällt es mir schwer, alle Gedanken, die ich an Israel habe, zu ordnen. Die neun Wochen, die ich dort verbrachte, lebte, sind auf der einen Seite dank der Kälte in Deutschland (und im Hinblick auf die Hitze im Hochsommer in Tel Aviv erscheinen mir selbst 5 Grad als „kalt“) schon weit weg, auf der anderen Seite doch so nah, dass ich das Meer hören, den Geruch von frischen Falafel riechen und vor meinem inneren Auge das Shalvata Mental Health Center sehen kann.
Ende April hatte ich Bescheid bekommen, dass ich bei „famulieren & engagieren“ einen Platz bekommen habe und sogar in mein Wunschland Israel reisen darf. Ich war gespannt. Wie viel hatte man schon gehört über dieses Land, wie oft beherrschte der Nahost-Konflikt die Nachrichten? Es waren viele Fragen, die ich mir in diesen Tagen stellte und die auch meine Familie und meine Freunde sich stellten. Das Land war eine Krisenregion, wie gefährlich war es also? Zeit und Antworten auf diese Fragen bekam ich auf dem Vorbereitungswochende in Göttingen, bei dem mir Roxy, meine Vorgängerin sprichwörtlich Rede und Antwort stand. Dieses Wochenende hat mir viel geholfen, mich vorzubereiten, dennoch wusste ich nicht hundertprozentig, was mich wohl erwarten würde. Und so war ich, als ich endlich im Flugzeug saß (nach einer Odyssee mit der Fluggesellschaft, die meine Befragung zu meinen geplanten „Aktivitäten“ in Israel ins schier Unendliche zog…), ziemlich aufgeregt, was mich wohl erwarten würde. Mit meinem Sitznachbarn, lustigerweise auch ein Medizinstudent mit Famulaturplänen, wälzte ich also den Reiseführer, in der Hoffnung, dieses Land durch Lesen zu verstehen, zu begreifen.
Der Weg vom Flughafen zu meinem Appartement gestaltete sich dann als zweite große Hürde nach der Flughafensicherheitskontrolle, denn ich war nicht wie meine Vorgängerin in Petah Tiqwa (außerhalb Tel Avivs) untergebracht, sondern in Ramat Aviv, einem Viertel direkt im Norden Tel Avivs. Nach einigem Herumirren und Durchfragen fand ich dann aber den Weg zum unscheinbaren Wohnheim, welches aufgrund der Sommerferien der Universität allerdings fast ausgestorben war. Die ersten Tage (ich bin an einem Wochenende angekommen) verbrachte ich dann erstmal damit, die Gegend (eine der schönsten und teuersten in Tel Aviv, das hörte ich immer wieder) zu erkunden, mich bei der Universität zu registrieren und mich an die fremde Schrift und Sprache zu gewöhnen. All meine Zweifel, mich nicht verständigen zu können, wurden schnell zerstreut, denn wenn ich mit Englisch nicht weiterkam – mit Händen und Füßen ging es immer...
Am Sonntag, dem israelischen Montag, startete ich dann meine Famulatur im Shalvata Mental Health Center, einem psychiatrischen Krankenhaus im Großraum Tel Aviv. Dr. Kron, der Leiter von Shalvata, und Dr. Abramovici, bei der ich meine Famulatur in der geronto-psychiatrischen Ambulanz verbringen sollte, erwarteten mich schon. Wie alles in Israel war auch das Krankenhaus mit einigen Sicherheitsmännern ausgestattet, die ich mit Hilfe einer Gruppe von amerikanischen Studenten von der Tel Aviv University, die ein Blockpraktikum in Shalvata machten, überwand. Den amerikanischen Studenten durfte ich mich dann auch für verschiedene psychiatrische Vorlesungen anschließen und mit ihnen Patientengespräche üben, denn viele Israelis sprechen recht gutes Englisch. So bekam ich einen guten Überblick über das Fach Psychiatrie.
In der Ambulanz von Dr. Abramovici lernte ich dann ein großes Spektrum an geronto-psychiatrischen Erkrankungen kennen. Viele kamen wegen Demenz, Depressionen oder anderen psychischen Störungen, aber es waren auch viele, die den Holocaust überlebt hatten und nun mit diesem Trauma weiterleben müssen. Auch wenn hier viele Gespräche auf Hebräisch geführt worden (manche auch auf Jidddisch, Deutsch oder Englisch), nahm sich Dr. Abramovici während des Gesprächs oft die Zeit, mir in ein paar Sätzen zu übersetzen, was gesagt wurde. Auch nach den Gesprächen beantwortete sie mir geduldig meine Fragen zur Geschichte der Patienten und zu den Erkrankungen. Dennoch war auch hier oft nicht so viel Raum, die komplette Lebensgeschichte der Patienten zu erfahren. Deshalb hatte Dr. Abramovici einige von ihnen gefragt, ob sie sich mit mir außerhalb der Sprechstunde treffen und mir mehr über ihr Leben erzählen wollten. Nach ein paar Wochen durfte ich mich das erste Mal mit einem Patienten treffen. Es sind sehr emotionale Gespräche, die ich gar nicht im Detail wiedergeben kann, aber diese Menschen, die in Deutschland so viel Unheil und Gewalt erfahren haben setzten sich trotzdem mit mir hin und berichteten mir davon. Sie sahen mich nicht als Nachfahrin von "den" Deutschen, verallgemeinerten mich nicht, sondern wollten ihre Geschichte erzählen. Oftmals sehr schonungslos, aber immer so, dass man nicht das Gefühl hatte, schuldig zu sein. Eine Frau sagte zu mir, natürlich habe sie "die Deutschen" gehasst. So sehr, dass sie dort nie wieder hinfahren wollte. Sie hat es trotzdem gemacht. Sie hat vor Schülern in Deutschland gesprochen. Und sie hat gewusst, dass diese jungen Menschen nicht genauso werden. Dass sie keine Verantwortung für das übernehmen sollen, was ihre Großeltern gemacht oder zugelassen haben. "Ihr sollt einfach nicht vergessen"... Ich bin sehr, sehr dankbar für die Möglichkeit, diese Gespräche geführt haben zu dürfen und diese Erfahrungen gemacht zu haben. Ich hätte nie gedacht, wie viel mich so etwas auch über mich selbst nachdenken lässt und wie viel mehr man lernt, über Fragen, die man stellt und wie man sie stellt, nachzudenken.
Ich besuchte nicht nur die Holocaust-Überlebenden zu Hause, sondern war auch bei Amcha. Amcha ist Hebräisch und heißt "euer Volk". Im kriegszerstörten Europa war Amcha das Codewort der Überlebenden, um sich gegenseitig zu erkennen. Amcha ist aber auch ein Verein, bei dem Holocaust-Survivors psychotherapeutische Hilfe bekommen und/oder einfach ein Club, in dem sich die älteren Leute treffen und Beschäftigung finden, sei es in Form von Vorlesungen (sozusagen Senioren-Uni) oder Singen oder Gymnastik oder Karten spielen oder, oder, oder. Ich hatte die Möglichkeit mir anzuschauen, wie die Arbeit mit geriatrischen Spezialfällen dort abläuft. Aber ehe ich mich versah, war ich nach einer kurzen Einführung von den betreuenden Sozialarbeiterinnen in einem Kreis schwatzender älterer Damen und Herren. Es dauerte ungefähr dreißig Sekunden, dann war ich als Deutsche enttarnt und die ersten packten tatsächlich ihr zu einer sehr harten Zeit gelerntes Deutsch aus und ich fand mich in einem Sprachgewirr aus perfektem Deutsch, Jiddisch und Hebräisch wieder, bei dem jede/r der Anwesenden mich anscheinend am liebsten für sich alleine gehabt hätte und mir ganz allein ganz viel erzählt und noch viel mehr gefragt...
Ich begann meinen Tag dort mit einem Gespräch mit zwei älteren Damen, die beide als Kinder den Holocaust überlebt hatten und nach Israel emigriert sind. Ich wurde mit Keksen und Schokolade gefüttert ("Kind, es war Rosh HaShana, da muss man Süßes essen, allein schon für das neue Jahr") und in die Kunst des Rommee-Spielens eingeweiht. Nach ein paar Minuten stand S. neben mir, der mir ungeduldig erklärte, dass er gut deutsch spricht und ich bestimmt viel lieber seine Geschichte hören wollte, als Karten zu spielen. Und schwupps, saß ich neben ihm und wurde mit Kaffee versorgt. S. ist in der Tschechoslowakei geboren und hat dort gelebt, wurde als 8-Jähriger ins Ghetto deportiert und hatte sehr viel Glück "nur" in ein Arbeitslager und nicht in ein KZ zu kommen. Während des Krieges ist er mit seinem Vater geflohen, denn seine Schwestern und Mutter wurden getötet und er hat sich in einem Wald irgendwo in der Nähe vom heutigen Ungarn zusammen mit Partisanen versteckt. Mit sehr, sehr viel Glück wurden sie zwar kurz vor Ende des Krieges entdeckt, aber nicht hingerichtet. S. ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Es war beeindruckend ihm zuzuhören. Für mich ist es immer wieder unfassbar, dass diese Menschen, die so viel Leid erfahren haben, erstens darüber reden wollen und zweitens auch gerade mit einer Deutschen reden. Ich wurde so gut aufgenommen, dafür bin ich sehr, sehr dankbar, denn es könnte auch ganz anders sein. Die Geschichten der Shoa-Überlebenden machen mich immer wieder (und auch immer noch) sprachlos und fassungslos, was Menschen anderen Menschen antun können. Ich bewundere alle, die ich getroffen habe, dafür, dass sie verzeihen können, was mir wirklich unverzeihbar erscheint. Manchmal hatte ich das Gefühl, an Abgründe zu stoßen, die ich mir nicht vorstellen konnte und meine eigenen Grenzen zu erfahren...
Nach dem Gespräch mit S. wurde ich zum Gemeinschafts-Karaoke-Singen mitgenommen. Nachdem ich kein einziges Lied mangels Sprach- und Schriftkenntnis lesen/mitsingen konnte, setzte sich eine ältere Dame zu mir, die mir auf Jiddisch erklärte, worum es in den Liedern ging. Manchmal wusste ich gar nicht, wie ich etwas von dem zurückgeben kann, was mir entgegen gebracht wurde.
Da in diesem Jahr ziemlich viele jüdische Feiertage auf den September fielen, hatte ich die Gelegenheit, an diesen Tagen einerseits die jüdische Kultur besser kennen zu lernen und andererseits auch das Land zu erkunden. Neben Rosh HaShana, dem jüdischen Neujahr, durfte ich also auch Yom Kippur und Sukkot, das Laubhüttenfest, in Israel feiern. Yom Kippur ist der Tag, an dem Israel still steht. Menschen fasten, es fahren keine Autos auf den Straßen, alle Geschäfte haben zu (sogar in Tel Aviv), es gibt keine Fernsehprogramme, man darf keine laute Musik hören... Es ist ein eindrucksvolles Erlebnis. In Tel Aviv gehen viele an diesem Tag auf dem Highway spazieren, weil keine Autos (außer Krankenwagen) fahren dürfen. Wie alle jüdischen Feiertage beginnt auch Yom Kippur am Vorabend eine Stunde vor Sonnenuntergang (also zwischen 18 und 19 Uhr). Ich war an dem Abend noch am Strand und auf einmal wurde es still. Wirklich still. Als ich mich auf den Heimweg machte, fuhren schon überall auf der Straße Fahrräder, Familien waren auf den Beinen und es war sozusagen ein großes Straßenfest. Eindrucksvoll. Ebenso schön wie eindrucksvoll: ich wurde am nächsten Morgen tatsächlich das erste Mal nicht um 4:00 Uhr morgens vom Gepiepe der Einparkhilfe des Müllwagens oder Lieferanten des Supermarkts um die Ecke geweckt.
Wie gesagt nutzte ich die freie Zeit auch zum Erkunden von Tel Aviv und des Landes. Neben Kurztrips in die Wüste, ans Tote Meer und in den Norden besuchte ich natürlich auch Jerusalem, was für mich einen starken Kontrast zu Tel Aviv darstellte, welches doch sehr westlich erscheint und mit der ganzen Geschäftigkeit an Berlin erinnert. Jerusalem ist viel stärker religiös geprägt. An einem Tag traf ich mich dort mit Toni, die gerade mit f&e in Palästina war. Es war ein schönes Treffen, wir hatten Zeit, uns abseits von whatsapp oder E-Mails über unseren bisherigen f&e-Sommer auszutauschen.
Zu der Zeit, die ich in Israel verbrachte, ist politisch viel passiert. Neben Raketeneinschlägen im Norden des Landes erschütterte auch die Giftgasanschläge in Syrien und die unklare politische Antwort der Weltgemeinschaft, Amerikas und auch Deutschlands das Land. Während in Deutschland (oder generell im Ausland) viel darüber berichtet wurde, dass die Einwohner Tel Avivs Gasmasken kaufen und das Land in Kriegsangst ist, konnte ich davon wenig spüren. Die Menschen gingen ihren gewohnten Gang, sei es zur Arbeit, zum Einkaufen oder einfach mit den Kindern zum Spielplatz - und es waren Hunderte am Strand zu treffen. Dennoch: auch die Israelis haben sich viele Gedanken über die politische Situation gemacht. Es wurde viel diskutiert über Obama, über Assad, über Krieg und Frieden. Die Möglichkeit, mich mit ihnen darüber zu unterhalten, was passiert und welche Konsequenzen das Handeln der anderen Staaten, insbesondere der USA, haben könnte, hat mir geholfen, besser einschätzen zu können, wie politische „Strategien“ das Leben beeinflussen und auch, welche Rolle die Medien bei solchen Ereignissen spielen.
Zu Rosh HaShana gab es einen kleinen Festakt im Krankenhaus. Es wurden einige Angestellte geehrt, es wurde gesungen und es wurden Reden gehalten. Dr. Kron, der Leiter von Shalvata, sagte zum Schluss, er wünscht uns ein friedvolles neues Jahr. Auch wenn ich es erst durch Übersetzungen verstanden habe, dass war ein Moment, in dem ich Gänsehaut hatte. Das war der Moment, in dem ich dachte, dass das hier etwas anderes ist, als all die Wünsche, die man sich zu Hause zu Neujahr wünscht. Dass "frohes Neues" einfach eine andere Bedeutung hat, als "Ich wünsche uns ein friedvolles neues Jahr".
Allein das Gefühl, mit allen, die mit f&e in diesem Sommer verreist sind, Kontakt via E-Mail zu halten, hat mir viel gegeben. Nicht nur die schönen Momente, sondern auch die manchmal schwierigen Situationen, die es wohl in jedem fremden Land gibt, mit anderen teilen zu können und Antworten von anderen zu bekommen und auch an ihrem Leben „teilzuhaben“, ist etwas, was diesen Sommer zu etwas Besonderem gemacht hat. Danke dafür, ihr Lieben!
Außerdem möchte ich mich auch besonders bei Roxy, Ulla und Dr. Abramovici bedanken. Vielen lieben Dank!
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