Brasilien ein Menetekel?
Unterstützung der internationalen Kampagne „Freiheit für Lula“
In Brasilien gibt es keine IPPNW. Aber Brasilien ist ein wichtiges Land im globalen Kampf gegen Hunger und Armut und für gewaltfreie Konfliktbearbeitungen. Diese Hoffnungen gründeten auf die Erfolge in der Regierungszeit des Präsidenten der Arbeiterpartei Lula da Silva von 2003 bis 2011 und seiner Nachfolgerin Dilma Roussef bis 2016. Nach deren Amtsenthebung durch eine konservative Opposition, die nach diversen Quellen als Putsch bezeichnet wird, wurden soziale Reformen und eine von den USA unabhängige internationale Bündnispolitik rückgängig gemacht. Beide mit großen Mehrheiten gewählten Volksvertreter wurden kriminalisiert und Lula da Silva an seiner Wiederwahl in diesem Jahr gehindert, indem er in Gefängnis-Einzelhaft gebracht wurde. Eine internationale Kampagne „Freiheit für Lula“ erinnert an Nelson Mandela und ruft zur Solidarität auf. Worum geht es wirklich? Warum ein Menetekel, ein unheildrohendes Zeichen auch für uns?
Deutschland befindet sich im Konflikt zwischen friedlicher Koexistenz mit Russland und der sogenannten transatlantischen Bündnispartnerschaft. Seit über 100 Jahren ist ein Hauptziel der USA-Politik, einen eurasischen Block mit enger Zusammenarbeit von Deutschland und Russland zu verhindern, sagte einer der führenden Sicherheitsexperten der USA vom Strafor-Institute George Friedman. Die von der NATO betriebene Konfrontation mit Truppenkonzentrationen an der russischen Grenze erhört die Atomkriegsgefahr. In unserem existenziellen Interesse liegt es, die Kräfte des Ausgleichs und einer multipolaren Weltordnung zu unterstützen. Genau darum geht es auch in Brasilien.
Auch gegen Verelendung und Hunger in den Entwicklungsländern konkret sich zu engagieren, nicht zuletzt um Fluchtursachen zu bekämpfen, ist Brasilien ein Lakmustest für unsere Glaubwürdigkeit. Schließlich ist unsere mit Ausbeutung von Mensch und Natur einhergehende Externalisierung der Folgen unserer Konsumgewohnheiten (vgl. „Imperiale Lebensweise“ von U. Brand und M. Wissen, Taschenbuch) auch mit Brasilien verbunden: „Brasilien ist Europas Müllhalde für Agrargifte“, sagte Alan Tygel aus Brasilien auf Einladung zur Bayer-Aktionärsversammlung am 25.5.18 gegen Übernahme von Monsanto durch Bayer AG. (jW 26.5.18 S. 8).
Deshalb wurde der Antrag an die MV der IPPNW am 5. Mai 2018 in Köln gestellt: Solidarität mit der internationalen Kampagne „Freiheit für Lula“. Wegen offener Informationsbedürfnisse wurde mehrheitlich für Nichtbefassung des Antrags gestimmt. Dieser Beitrag ist die Konsequenz.
Am 7. April 2018 wurde Lula da Silva, Brasiliens Präsident von 2003 bis 2011, in langjährig drohende Einzelhaft überführt. Durch juristische Korruption und Vorgaben des US-Justizministeriums kam es zu diesem Urteil. Der meist in Kolumbien lebende Journalist Norbert Ahrens, durch seine Frau Mitarbeiter des IPPNW-AK Süd-Nord, schrieb dazu: „Sowohl die juristische Verfolgung Lulas als auch die im Stile eines Staatsstreiches erfolgte Amtsenthebung seiner Nachfolgerin im Präsidentenamt, Dilma Roussef, stellen den (bisher erfolgreichen) Versuch dar, die alten reaktionären Kräfte in Brasilien wieder an die Macht zu bringen! Zudem hat das oberste Gericht des Landes leider eine (knappe) konservative Mehrheit. Lula, der bei den nächsten Wahlen wieder kandidieren will, liegt in allen Umfragen klar vorn. Die reaktionären Kräfte wollen sich jetzt einen wahrscheinlich unschlagbaren Rivalen aus dem Weg räumen! Es ist sogar möglich, dass Lula aus der Haft heraus kandidieren und sogar die Wahl gewinnen kann...! Das oberste Wahlgericht hat bis September Zeit, über die Zulassung Lulas – trotz Inhaftierung – zur Wahl zu entscheiden. Sehr bedenklich ist, dass der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, Gen. Eduardo Villas Boas,gedroht hat, falls Lula straffrei bleiben würde, das Militär bereit sei, „seiner institutionellen Verantwortung gerecht zu werden...“ Reservegeneral Schroeder Lessa ergänzte diese Drohung mit dem Satz: „Falls Lula zum Präsidenten gewählt würde, sei es die Pflicht der Armee, die Ordnung wieder herzustellen.“ Diese offene Drohung mit einem Militärputsch wurde zwar vom Obersten Gericht scharf verurteilt, zeigt aber, dass die Militärs (immer der Büttel der reaktionären Oligarchie gewesen) nicht davor zurückschrecken würden, das Rad der Geschichte um 25 bis 30 Jahre in Brasilien zurück zu drehen! Seit 1991 hat es in Lateinamerika keine offene Militärdiktatur mehr gegeben...“
Dieser politische Gefangene ist für Brasilien das, was Nelson Mandela für Südafrika war. Gründe für seine Verfolgung durch die neue neoliberale Regierung:
- Lula hatte vor 10 Jahren die Umverteilung des Reichtums Brasiliens begonnen. Dadurch wurden 36 Millionen Brasilianer von der Armut befreit (laut UN-Belegen), die Kindersterblichkeit um 45 % und die Unterernährung um 85 % gemindert.
- Unter ihm entstanden 18 weitere öffentliche und kostenfreie Hochschulen.
- Mit 80 % Zustimmung trat er 2007 seine zweite Amtszeit an. In der gab es 7,5 % Wirtschaftswachstum und der Mindestlohn stieg auf 54 % über dem seiner ersten Amtszeit.
- Rückzahlung der gesamten Schulden seines Landes an den Internationalen Währungsfond.
- Sein Land wurde Mitbegründer des BRICS-Staatenbundes, der alternativ zur US-Politik auf eine multipolare Weltordnung setzt.
Lula da Silva wurde inzwischen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen von den Preisträgern Mohamed El-Baradei und Adolfo Perez Esquivel.
In Wahlvoraussagen für Ende diese Jahres liegt Lula da Silva weit vor den Mitbewerbern. „Lula ist kein brasilianisches Problem, sondern ein ungelöster Fall im globalen Krieg von Reich gegen Arm“, schreibt Wolf Gauer in OSSIETZKY 8/2018. Dieser in Brasilien lebende Journalist und Dokumentarfilmer stellte zu Kritikern an Lulas Politik u. a. fest: „Bernardo Jurema: Lateinamerika-Institut der FU Berlin: Es gibt in Europa und mehr noch in den USA unzählige Lateinamerikaner, die im Auftrag und im Interesse ihrer Sinekuren feststellen, was alles „falsch gemacht“ wurde. Meistens nette Leute, aber jenseits von Gut und Böse. Und ja: Auch unter Lula gab es viele Fehler. Alle aber vergessen, dass Lula mit einer Anfangskoalition von 14 Parteien starten musste, dass er trotzdem einen unerhörten politischen Ausgleich erreicht hat, der ihm bis heute selbst vonseiten der Banken und Industrieverbände bestätigt wird. Mit andren Worten: Er war kein „linker Umstürzler“, sondern einer, der sehr vorsichtig und graduell soziale Inklusion und Umverteilung betrieben hat, ohne dem liberalen System dabei ernsthaft auf die Füße zu treten.
Sein wirklicher „Fehler“: Er hat die US-Amerikaner auf Distanz gehalten, ihre Militärbasen und Ölambitionen nicht genehmigt und sich mit Nachdruck für eine multipolare Weltordnung und für die lateinamerikanische Integration eingesetzt. Unverzeihlich aus der Sicht des Nordens wie unserer urbanen, aber garantiert bildungsfreien Aufsteiger erster Generation, für die das Nachäffen des US-amerikanischen Lifestyle höchste Erfüllung ist. Auch war Lula kein fernsteuerbarer Kissinger-Boy wie alle neuen Regierungschefs in Südamerika (außer Venezuela und Bolivien).
Abschließend weise ich auch auf das gemeinsame Problem der Medien hin. Die Leitmedien sind in beiden Ländern (und vielen mehr) an der Stabilisierung der herrschenden Ordnung und and der Produktion von Feindbildern beteiligt. Die von Rede Globo (Weltnetz), einem der weltgrößten TV-Netzwerke, produzierte und verbreitete Hauptnachrichtensendung „Jornal Nacional“ ist für Brasilien so etwas wie eine nationale Institution, seine Sprecherinnen und Sprecher sind Stars. Was JN mitteilt, wird abends ab halb neun in Hütten und Palästen vom Amazonas bis hinunter zum Rio Branco seit fast einem halben Jahrhundert für bare Münze genommen. Die Globo-Gruppe mit Druckerzeugnissen, Radio, Musik, Filmen ist der Meinungsmacher schlechthin im größten Land Südamerikas. Hier werden Präsidenten gemacht oder gestürzt. 1964 unterstützte Globo den Putsch der Generäle. In den 21 Jahren der zivil-militärischen Diktatur expandierte der Konzern. Der Vergleich zu unseren Verhältnissen rückt nahe, wenn zu lesen ist (von Peter Steiniger in junge Welt 16.5.18 S. 3), dass der Konzern strategisch ausgebaut wurde, „insbesondere über das neue Medium Fernsehen den Massen das Selbstbild des Systems zu vermitteln, sie ansonsten von der Politik fernzuhalten und den Nationalismus zu fördern… Rede Globo prägt die öffentliche politische Meinung ebenso mit wie die Kultur des Landes. Eine Kultur, in der die Gewalt bereits tief verwurzelt ist.“ Und wem gehört das Privatunternehmen? Einem Familienclan.
Unser IPPNW-Vorstand ist gefragt, sich für die Unterstützung der internationalen Kampagne „Freiheit für Lula“ auszusprechen. Die Folge könnten Veröffentlichungen der Solidarität durch eine internationale Friedensorganisation mit Nobelpreis in mehreren Zeitungen Südamerikas sein. Oder gibt es Befürchtungen einer Reaktion auf Grund der Monroe-Doktrin der USA?
Weitere Informationen und Quellen neben OSSIETZKY in der Neue Rheinische Zeitung vom 20. April 2018
Manfred Lotze, 30.5.18